Palästinenserproteste: Ein Einzelschicksal an der Frontlinie
Munib Masri (22) wurde an der israelisch-libanesischen Grenze angeschossen
von Robert Fisk
Gestern Morgen besuchte ich Munib Masri an seinem Krankenbett in einem Beiruter Hospital.
Munib ist Teil der arabischen Revolution, auch wenn er das nicht von sich behaupten würde. Er wirkte wie jemand, der unter Schmerzen leidet, und er hatte tatsächlich Schmerzen. Eine Infusion hing an seinem rechten Arm. Er hatte Fieber. Munib war durch eine israelische Kugel (5.56mm) verwundet worden. Ja, es war eine israelische Kugel, denn Munib war Teil der unbewaffneten Menschenmenge gewesen - Palästinenser und Libanesen - die sich vor zwei Wochen an der Grenze zu jenem Land postiert hatte, das sie als "Palästina" bezeichnen. Zu Tausenden sahen sie sich einer scharf schießenden Israelischen Armee gegenüber.
"Ich war wütend, irrsinnig wütend - gerade hatte ich gesehen, wie die Israelis ein kleines Kind trafen", sagte Munib zu mir. "Ich ging näher an den Grenzzaun heran. Die Israelis haben so viele Menschen angeschossen. Als ich getroffen wurde, war ich gelähmt. Meine Beine trugen mich nicht mehr. Dann begriff ich, was passiert war. Meine Freunde trugen mich weg." Ich fragte Munib, ob er glaube, dass er Teil des Arabischen Frühlings sei. Er verneinte. Er habe nur gegen den Verlust des Landes (Palästina) protestieren wollen, sagte er. "Was in Ägypten und Tunesien passiert ist, fand ich gut. Ich bin froh, dass ich an die libanesische Grenze gegangen bin, andererseits bedaure ich es aber".
Kein Wunder. Mehr als 100 unbewaffnete Demonstranten wurden bei dieser palästinensisch-libanesischen Demonstration verletzt. Die Demo fand zum Gedenken an die Vertreibung und den Exodus von 750 000 Palästinensern im Jahre 1948 statt (Nakba (Katastrophe) am 15. Mai - Anmerkung d. Übersetzerin). Sie haben ihre Heimat verloren, die auf dem Mandatsgebiet des damaligen Palästina lag. 6 Palästinenser wurden bei dieser Demo getötet. Zu den jüngsten Opfern, die durch Kugeln starben, zählen auch zwei kleine Mädchen, 6 und 8 Jahre alt. Sie waren wohl Ziele in Israels "Krieg gegen den Terror". Dies gilt wahrscheinlich auch für die Kugel, die den 22jährigen Geologiestudenten Munib traf. (Er studiert an der American University in Beirut.) Die Kugel hat furchtbare Schäden verursacht. Sie drang in seine Seite ein, durschlug eine Niere, traf die Milz und zerschellte in seinem Rückgrat. Ich hielt die Kugel gestern in der Hand. Sie war in drei braun funkelnde Metallteile zersplittert - in Munibs Körper zersplittert. Natürlich kann er froh sein, dass er überhaupt noch lebt.
Ich nehme an, dass es für ihn von Vorteil ist, dass er die amerikanische Staatsbürgerschaft besitzt - wenngleich ihm das wenig genützt hat. Gestern habe die US-Botschaft eine Diplomatin zu seinen Eltern ins Krankenhaus geschickt, berichtete mir seine Mutter. "Ich bin am Boden zerstört, traurig, wütend - ich wünsche keiner israelischen Mutter, dass ihr so etwas passiert. Die amerikanischen Diplomaten kamen hierher ins Krankenhaus, und ich erklärte ihnen Munibs Situation. Ich sagte: "Ich möchte Ihnen gerne eine Botschaft an Ihre Regierung mitgeben - um sie unter Druck zu setzen, damit sie ihre hiesige Politik ändert. Wenn dies einer israelischen Mutter widerfahren wäre, stünde die Welt jetzt kopf." Sie (die amerikanische Diplomatin) sagte zu mir: "Ich bin nicht hier, um über Politik zu diskutieren. Wir sind hier, um soziale Unterstützung zu gewähren und um Sie, falls Sie dies wünschen, zu evakuieren und Ihnen bei Zahlungen zu helfen". Ich sagte, ich bräuchte nichts von alledem - aber ich müsse ihr die Situation erklären".
Es steht US-Diplomaten frei, die Meinung von Bürgern an die amerikanische Regierung weiterzuleiten. Doch die Reaktion dieser Diplomatin ist nur allzu typisch. Munib ist zwar Amerikaner, aber die Kugel, die ihn getroffen hat, stammt von der falschen Seite. Es ist keine syrische oder ägyptische sondern eine israelische Kugel. Über soetwas wird nicht gerne diskutiert, und sicherlich lässt sich eine amerikanische Diplomatin von einer solchen Kugel nicht zu Gegenmaßnahmen überreden. Schließlich reagierte der US-Kongress auf Benjamin Netanjahu mit 55 Ovationen. Das ist mehr als bei einem Kongress der Baath-Partei in Damaskus durchschnittlich geklatscht wird. Warum sollte Munibs Regierung sich um ihn scheren?
Tatsächlich war Munib schon oft in Palästina. Munibs Familie stammt aus Beit Jala beziehungsweise Bethlehem. Er kennt die Westbank gut. Allerdings sagte er mir, er befürchte, verhaftet zu werden, wenn er das nächste Mal dorthin reisen werde. Es ist nicht leicht, Palästinenser zu sein - ganz gleich auf welcher Seite einer Grenze. Mouna Masri wurde wütend, nachdem ihre Schwester ihren Mann gebeten hatte, für sie die Aufenthaltserlaubnis für Ost-Jerusalem zu erneuern: "Die Israelis beharrten darauf, dass sie von London persönlich herkommt, dabei wussten die doch, dass sie (die Schwester) Chemotherapie bekommt".
"Zwei Tage, bevor Munib verletzt wurde, war ich in Palästina. Ich habe meinen Schwiegervater in Nablus besucht. Ich sah meine ganze Familie und war glücklich, aber weil ich Munib so sehr vermisst habe, kehrte ich wieder nach Beirut zurück. Er war sehr aufgeregt wegen des bevorstehenden Marsches zur Grenze. Die Studierenden und Leute von der Universitätsfakultät wurden in drei oder vier Bussen hingefahren. Er stand am Sonntagmorgen um 6 Uhr 55 auf. Gegen 16 Uhr rief mich Munibs Tante Mai an und fragte, ob es irgendwelche Neuigkeiten gäbe. Da beschlich mich ein ungutes Gefühl. Danach rief mich mein Mann an und sagte, Munib sei am Bein verletzt."
In Wirklichkeit war es weit schlimmer. Munib hatte soviel Blut verloren, dass die Ärzte am Bent-Jbeil-Krankenhaus glaubten, er würde sterben. UNO-Peacekeeper flogen ihn mit dem Hubschrauber nach Beirut. Die UNO-Peacekeeper waren dem Maroun-al-Ras-Abschnitt der Grenze (zwischen Israel und Libanon) während der fünfstündigen Demonstration ferngeblieben - mit verheerenden Folgen.
Viele von denen, die mit Munib an die Grenze gekommen waren, leben in Flüchtlingslagern. Im Gegensatz zu Munib haben sie das Land noch nie besucht, aus dem ihre Eltern stammen. Einige haben es nie gesehen.
Munibs Tante Mai sagte, viele von denen, die mitmarschiert seien, die mit Bussen zur Grenze gekommen seien, hätten eine Brise gespürt, die über die israelische Grenze herübergeweht sei: "Sie sogen sie ein, es war wie eine Art Freiheit", sagte sie. Da haben wir's.
Munib glaubt vielleicht nicht, dass er Teil des 'Arabischen Frühlings' ist, aber er ist Teil des 'Arabischen Erwachens'. Obgleich er noch ein Heim in der Westbank hat, beschloss er, sich an die Seite der Enteigneten zu stellen, deren Häuser im heutigen Israel liegen und mit ihnen zu marschieren. "Es war keine Angst zu spüren", sagt sein Onkel Munzer. "Diese Menschen wollten Würde. Und mit der Würde kommt der Erfolg". Das riefen auch jene Menschen in Tunesien - und die in Ägypten und die im Jemen und in Bahrain und in Syrien. Ich nehme an, dass Obama - trotz seines Kotaus vor Netanjahu - das verstanden hat. Er hat - auf seine eher feige Weise - versucht, die Israelis zu warnen. Das Arabische Erwachen schließt die Palästinenser mit ein.
Willkommen in der gewalttätigen Welt des Herrn Hopey Changey
von John Pilger
28.05.2011 — Antiwar.com
ls Großbritannien 1956 die Kontrolle über Ägypten verlor, sagte Premierminister Anthony Eden, er wolle den nationalistischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser „vernichtet ... ermordet haben ... mir ist´s egal ob es dann zu Anarchie und Chaos in Ägypten kommt." Diese frechen Araber, hatte Winston Churchill 1951 gefordert, sollten „in die Gosse getrieben werden, aus der sie nie hätten herauskommen sollen."
Die Sprache des Kolonialismus mag sich geändert haben, der Geist und die Scheinheiligkeit sind gleich geblieben. Eine neue imperiale Phase entfaltet sich als direkte Antwort auf die arabische Aufstandsbewegung, die im Januar begann und Washington und Europa schockiert und eine Panik ähnlich der Edens hervorgerufen hat. Der Verlust des ägyptischen Tyrannen Mubarak war schmerzlich, wenn auch nicht unwiederbringlich; eine von Amerika unterstützte Konterrevolution ist bereits unterwegs, das Militärregime in Kairo wird verführt mit neuen Bestechungen und der Verlagerung der Macht von der Straße hin zu politischen Gruppen, die nicht bei der Anbahnung der Revolution beteiligt waren. Wie immer ist das Ziel des Westens, echte Demokratie abzudrehen und die Kontrolle zurück zu gewinnen.
Libyen bietet die unmittelbare Gelegenheit. Der Angriff der NATO gegen Libyen, bei dem der UN-Sicherheitsrat die Rolle zugewiesen bekam, eine schwindlerische „Flugverbotszone" zum „Schutz von Zivilisten" abzusegnen, gleicht frappierend der endgültigen Zerstörung Jugoslawiens im Jahr 1999. Es gab keine Deckung der UNO für die Bombardierung Serbiens und die „Befreiung" von Kosovo, wie die Propaganda bis heute verkündet. Wie Slobodan Milosevic ist Muammar Gaddafi ein „neuer Hitler," der „Völkermord" gegen sein eigenes Volk begehen will. Dafür gibt es keinerlei Beweis, wie es auch damals keinen Völkermord in Kosovo gab. In Libyen gibt es einen Bürgerkrieg zwischen Stämmen, und der bewaffnete Aufstand wurde schon lange von den Amerikanern, Franzosen und Briten vereinnahmt, wobei deren Flugzeuge Wohngebiete in Tripoli mit Geschossen mit Uransprengköpfen angreifen und das Unterseeboot Ihrer Majestät Triumph Tomahawk-Lenkwaffen abfeuert, eine Neuauflage des „Angst und Schrecken" in Irak mit tausenden getöteten und verletzten Zivilisten. Wie in Irak sind die Opfer, unter ihnen zahllose verbrannte Soldaten der libyschen Armee, für die Medien Unpersonen.
Im „rebellischen" Osten sind Terrorisierung und Tötung schwarzafrikanischer Immigranten nichts Neues. Am 22. Mai beschreibt ein seltener Artikel in der Washington Post die Unterdrückung, Gesetzlosigkeit und Todesschwadrone in den „befreiten Gebieten," just als die gerade auf Besuch befindliche Chefin der Außenpolitik der Europäischen Union Catherine Ashton erklärte, sie habe nur „große Hoffnungen" und „Führungsqualitäten" gefunden. Um diese Qualitäten gleich zu beweisen versprach Mustafa Abdel Jalil, der „Rebellenführer" und bis Februar Gaddafis Justizminister: „Unsere Freunde ... werden die beste Aussicht haben bei zukünftigen Verträgen mit Libyen." Der Osten besitzt den größten Teil des libyschen Erdöls, die größten Reserven in Afrika. Im März „verlegten" die Rebellen unter Anleitung ausländischer Experten die libysche Zentralbank, die dem Staat gehört, nach Benghazi. Derlei hat es noch nie gegeben. Inzwischen „froren" die Vereinigten Staaten von Amerika und die Europäische Union fast $100 Milliarden libysche Gelder ein, „die größten jemals blockierten Beträge" laut offiziellen Stellungnahmen. Das ist der größte Bankraub der Geschichte.
Die französischen führenden Eliten sind passionierte Räuber und Bombardierer. Nicholas Sarkozys imperiales Konzept sieht eine französisch dominierte Mediterranean Union (UM) vor, die es Frankreich erlaubt, in seine ehemaligen Kolonien in Nordafrika „zurückzukehren" und von privilegierten Investitionen und billiger Arbeitskraft zu profitieren. Gaddafi bezeichnete den Plan Sarkozys als „eine Beleidigung," die „uns als Narren betrachtet." Die Merkel-Regierung in Berlin schloss sich dieser Meinung an, weil sie fürchtete, ihr alter Feind würde den Einfluss Deutschlands in der EU schmälern, und enthielt sich im UN-Sicherheitsrat der Stimme gegen Libyen.
Wie der Überfall auf Jugoslawien und die Farce der Gerichtsverhandlung gegen Milosevic wird der Internationale Strafgerichtshof von den Vereinigten Staaten von Amerika, Frankreich und vom Vereinigten Königreich benutzt, um Gaddafi zu verfolgen, während seine wiederholten Angebote eines Waffenstillstands ignoriert werden. Gaddafi ist ein böser Araber. David Camerons Regierung und ihr wortreicher Obergeneral wollen diesen bösen Araber eliminieren, so wie die Obama-Administration vor kurzem einen sehr berühmten bösen Araber in Pakistan umgelegt hat. Der Kronprinz von Bahrain andererseits ist ein guter Araber. Am 19. Mai wurde er von Cameron mit einem Fototermin auf den Stufen von Downing Street 10 herzlich im Vereinigten Königreich begrüßt. Im März ließ dieser Kronprinz unbewaffnete Demonstranten abknallen und ließ saudische Streitkräfte die Demokratiebewegung in seinem Land niederschlagen. Die Obama-Administration belohnte Saudiarabien, eines der repressivsten Regimes der Erde, mit einem Vertrag über Waffen im Wert von über $60 Milliarden, dem größten in der Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika. Die Saudis haben das meiste Erdöl. Sie sind die besten Araber.
Der Angriff gegen Libyen, ein Verbrechen nach den Nürnberger Gesetzen, ist die 46. militärische „Intervention" des Vereinigten Königreichs im Mittleren Osten seit 1945. Wie bei seinen Partnern ist das Ziel des Vereinigten Königreichs die Kontrolle über Afrikas Erdöl. Cameron ist nicht Anthony Eden, aber fast. Gleiche Schule. Gleiche Werte. In den Presseaussendungen kommen die Worte Kolonialismus und Imperialismus nicht mehr vor, so dass die Zyniker und die Gutgläubigen die staatliche Gewalt in schmackhafteren Varianten zelebrieren können.
Und während „Mr. Hopey Changey" (der Name, den der große amerikanische Cartoonist Ted Rall Barack Obama gibt) von der britischen Elite umschwänzelt wird und eine weitere unerträgliche Wahlkampagne startet, schreitet das angloamerikanische Reich des Terrors weiter in Afghanistan und anderswo voran, mit der Ermordung von Menschen mit unbemannten Drohnen – eine Innovation der Vereinigten Staaten von Amerika und Israels, bereitwillig angenommen von Obama. Um das einmal festzuhalten, nach einer Wertungsliste des zugefügten Leids, von Femeverfahren und geheimen Gefängnissen und der Jagd auf Whistleblowers, von der Kriminalisierung abweichender Meinungen bis zur Inhaftierung und Verarmung seiner eigenen Leute, hauptsächlich schwarzer Menschen, ist Obama genauso schlimm wie George W. Bush.
Die Palästinenser verstehen das alles. Ihre jungen Leute, die mutig der Gewalttätigkeit des israelischen Blut-Rassismus widerstehen, die Schlüssel der gestohlenen Wohnungen ihrer Großeltern in der Tasche, scheinen gar nicht auf in Mr. Hopey Changeys Liste der Menschen im Mittleren Osten, deren Befreiung schon lange fällig ist. Was die Unterdrückten brauchen, sagte er am 19. Mai, ist eine Portion von „Amerikas Interessen, die für sie wesentlich sind."
Er verhöhnt uns alle.
Ein rothaariger junger Mann
von Uri Avnery
MEIN HELD des Jahres ist (bis jetzt) ein junger rothaariger palästinensischer Flüchtling, der in Syrien lebt und Hassan Hejazi heißt.
Er war einer von Hunderten von Flüchtlingen, die die Demonstration auf der syrischen Seite des Golan-Grenzzaunes zur Erinnerung an die Nakba („Katastrophe") hielten – den Exodus von mehr als der Hälfte des palästinensischen Volkes aus dem von Israel im 1948er Krieg eroberten Gebiet. Einige der Demonstranten rannten hinunter bis zum Zaun und überquerten das Minenfeld. Glücklicherweise explodierte keine Mine – vielleicht waren sie einfach zu alt.
Sie kamen in das drusische Dorf Majdal Shams, das seit 1967 von Israel besetzt ist, und verteilten sich dort. Israelische Soldaten schossen, töteten und verletzten mehrere von ihnen. Der Rest wurde gefangen genommen und sofort nach Syrien zurückgebracht.
Außer Hassan. Er fand einen Bus mit israelischen und internationalen Friedensaktivisten, die ihn mit sich nahmen – vielleicht wussten sie, woher er kam, vielleicht auch nicht. Er sah offenbar nicht arabisch aus.
Sie ließen ihn in der Nähe von Tel Aviv aussteigen. Er fuhr per Anhalter weiter und schließlich erreichte er Jaffa, die Stadt, in der seine Großeltern lebten.
Ohne Geld und ohne dass er jemanden dort kannte, versuchte er, das Haus seiner Familie zu finden. Es gelang ihm nicht. Der Ort hatte sich viel zu sehr verändert.
Schließlich gelang es ihm, Kontakt mit einem israelischen TV-Korrespondenten aufzunehmen, durch den er sich selbst der Polizei übergab. Er wurde verhaftet und zurück nach Syrien deportiert.
Eine bemerkenswerte Heldentat.
DIE GRENZÜBERQUERUNG der Flüchtlinge nahe Majdal Shams verursachte in Israel fast eine Panik.
Zunächst gab es die üblichen gegenseitigen Beschuldigungen. Warum war die Armee nicht auf diesen Vorfall vorbereitet? Wer war schuld daran – das Nördliche Kommando oder der militärische Nachrichtendienst?
Hinter all der Aufregung stand der Alptraum, der Israel seit 1948 heimsucht: dass die 750 000 Flüchtlinge und ihre Nachkommen – jetzt etwa 5 Millionen – eines Tages aufstehen, auf die Grenzen Israels vom Norden, Osten und Süden zumarschieren, den Zaun durchbrechen und ins Land fluten werden. Dieser Alptraum ist das Spiegelbild des Traumes der Flüchtlinge.
Während der ersten Jahre Israels war dies ein bewusster Alptraum. Am Gründungstag Israels hatte es 650 000 jüdische Einwohner. Die Rückkehr der Flüchtlinge hätte tatsächlich den jungen israelischen Staat überschwemmt. Heute mit mehr als sechs Millionen jüdischer Bürger hat sich die Angst in den Hintergrund verzogen – aber sie ist noch immer da. Psychologen könnten sagen, dass sie verdrängte Schuldgefühle in der nationalen Psyche darstellt.
IN DIESER Woche gab es eine Wiederholung. Die Palästinenser rund um Israel haben den 5. Juni zum Naksa-Tag erklärt, um an den „Rückschlag" von 1967 zu erinnern, als Israel sensationell die Armeen von Ägypten, Syrien und Jordanien besiegten, die von irakischen und Saudi-Soldaten verstärkt waren.
Dieses Mal war die israelische Armee vorbereitet. Der Zaun war verstärkt und ein Anti-Panzer-Graben davor gegraben worden. Als die Demonstranten versuchten, den Zaun zu erreichen – wieder in der Nähe von Majdal Shams – wurden sie von Scharfschützen beschossen. Etwa 22 wurden getötet, viele Dutzende verletzt. Die Palästinenser berichten, dass Leute, die die Verletzten zu retten und die Toten zu holen versuchten, auch beschossen und getötet wurden.
Zweifellos war dies eine absichtliche Taktik, die im Voraus vom Armeekommando nach dem Nakba-Fiasko entschieden und von Binjamin Netanyahu und Ehud Barak genehmigt wurde. Dies wurde ganz offen gesagt: den Palästinensern muss eine Lektion erteilt werden, die sie nicht vergessen werden, um jeden Gedanken einer Massenaktion aus ihren Köpfen zu vertreiben.
Es erinnert erschreckend an die Ereignisse von vor 10 Jahren. Nach der ersten Intifada, in der Steine werfende Jugendliche und Kinder einen moralischen Sieg errangen, der zum Oslo-Abkommen überleitete, führte unsere Armee Übungen in Erwartung einer 2.Intifada durch. Sie brach nach dem politischen Desaster von Camp David aus. Die Armee war bereit.
Die neue Intifada beginnt mit Massendemonstrationen unbewaffneter Palästinenser. Sie trafen auf speziell trainierte Scharfschützen. Neben jedem Scharfschützen stand ein Offizier, der auf Individuen zeigte, die erschossen werden sollten, weil sie wie Anführer aussahen: „Den Kerl dort mit rotem Hemd .. jetzt den Jungen mit der blauen Hose …"
Der unbewaffnete Aufstand brach zusammen und wurde durch die Selbstmordattentäter, Bomben am Straßenrand und andere „terroristische" Akte ersetzt. Mit denen wusste unsere Armee umzugehen.
Ich habe den starken Verdacht, dass wir jetzt noch einmal dasselbe erleben. Speziell trainierte Scharfschützen sind wieder im Gange, von Offizieren angeleitet.
Doch gibt es einen Unterschied. 2001 wurde uns erzählt, unsere Soldaten hätten in die Luft geschossen. Jetzt sagte man uns, dass sie auf die Beine der Araber schießen. Damals mussten die Palästinenser hoch in die Luft springen, um getötet zu werden, jetzt scheint es, als müssten sie sich bücken.
DIE GANZE Sache ist nicht nur mörderisch, sondern auch unglaublich dumm.
Seit Jahrzehnten reden praktisch alle über Frieden, der sich auf die im 1967er-Krieg besetzten Gebiete konzentriert. Präsident Mahmoud Abbas, Präsident Barack Obama und die israelische Friedensbewegung reden alle über die „1967er-Grenzen". Als meine Freunde und ich 1949 anfingen, über die Zwei-Staaten-Lösung zu reden, meinten wir auch diese Grenzen. (die „1967er-Grenzen" sind tatsächlich die Waffenstillstandslinien, auf die man sich nach dem 1948er-Krieg geeinigt hatte.)
Die meisten Leute, selbst die in der israelischen Friedensbewegung, ignorierten vollkommen das Flüchtlingsproblem. Sie arbeiteten mit der Illusion, dass dies nicht mehr besteht oder dass es mit einem Friedensschluss verschwindet, der zwischen Israel und der Palästinensischen Behörde erreicht würde. Ich warnte meine Freunde immer wieder, dies würde nicht geschehen – fünf Millionen Menschen kann man nicht einfach ausschließen. Es hat keinen Sinn, mit der Hälfte des palästinensischen Volkes Frieden zu schließen und die andere Hälfte zu ignorieren. Das bedeutet kein „Ende des Konfliktes", egal was im Friedensabkommen festgelegt werden wird.
Aber während jahrelanger Diskussionen, meist hinter verschlossenen Türen, war ein Konsens erreicht worden. Fast alle palästinensischen Führer sind mit der Formel einer „gerechten und übereingekommenen Lösung für das Flüchtlingsproblem" einverstanden – entweder ausdrücklich oder stillschweigend – so dass jede Lösung israelischer Zustimmung bedarf. Ich habe darüber viele Male mit Yasser Arafat, Faisal al-Husseini und anderen gesprochen.
Praktisch bedeutet dies, dass einer symbolischen Anzahl von Flüchtlingen die Rückkehr nach Israel erlaubt werden soll (Die genaue Anzahl sollte bei Verhandlungen festgelegt werden), die anderen sollten im Staat Palästina wieder angesiedelt werden (das groß sein muss und lebensfähig, damit dies möglich ist) oder großzügige Entschädigung erhalten, die ihnen erlaubt, dort, wo sie sind, oder irgendwo anders ein neues Leben aufzubauen.
UM DIESE komplizierte und schmerzvolle Lösung zu erleichtern, stimmte jeder darin überein, dass es das beste sei, sich mit dieser Angelegenheit nah am Ende der Friedensverhandlungen zu befassen, nachdem gegenseitiges Vertrauen und eine entspannte Atmosphäre geschaffen worden ist.
Und jetzt kommt unsere Regierung und versucht, das Problem mit Scharfschützen zu lösen – nicht als letzten Ausweg, sondern als ersten . Statt den Demonstranten mit wirksamen nicht tödlichen Mitteln zu begegnen, töten sie die Leute. Dies wird die Proteste natürlich intensivieren, Massen von Flüchtlingen mobilisieren und das „Flüchtlingsproblem" direkt mitten auf den Tisch legen, bevor die Verhandlungen überhaupt begonnen haben.
Mit anderen Worten: der Konflikt von 1967 wird auf 1948 zurückgeschraubt. Für Hassan Hejazi, den Enkel eines Flüchtlings aus Jaffa, ist dies eine große Errungenschaft.
Nichts könnte dümmer sein als dieser Aktionskurs von Netanyahu & Co.
Natürlich vorausgesetzt sie täten dies bewusst, um Friedensverhandlungen unmöglich zu machen.