Betreff: Mein Bericht vom Weltsozialforum
Liebe Freundinnen, liebe Freunde,
vom 4. bis zum 13. Februar 2011 habe ich am Weltsozialforum in Dakar /
Senegal teilgenommen. Das war sehr spannend und motvierend. Hier
bekommt Ihr meinen Bericht.
Mit solidarischen Grüßen Ihr / Euer
Sven Giegold
Weltsozialforum in Dakar:
Globaler open space mit Aktionsorientierung
Wie schon das Weltsozialforum 2009 im Brasilianischen Belém fand das
Forum in Dakar unter dem starken Eindruck der tiefen Krise des
neoliberalen Globalisierungsprojekts statt. In einigen Weltregionen
läuft die Wirtschaft schon länger wieder gut, in anderen hat sie sich
an der Oberfläche erholt. Das kann jedoch nicht über die tiefen
sozialen, ökonomischen und ökologischen Probleme hinwegtäuschen. Auf
dem Forum trafen sich diejenigen aus den Bewegungen und
Zivilgesellschaft, die einen tiefen Bruch mit der neoliberalen
Globalisierung wünschen, entweder in Form einer sozialen und
ökologischen Regulierungspolitik, wie etwa in einem "Grünen New Deal",
oder durch einen grundsätzlichen Bruch mit dem Kapitalismus. Diese
Spannweite politischer Alternativen charakterisierte dieses WSF wie
auch die altermondialistische(*) Bewegung seit ihrer Gründung. Gustave
Massiah (2011a & 2011b)* schrieb dazu vor Dakar ein viel beachtetes
Buch und veröffentlichte 12 Thesen zur altermondialistischen Bewegung.
Doch während in Belém die Diskussion um die Zivilisationskrise und
grundlegende Alternativen zur Globalisierung des Kapitalismus wie die
Idee des "buen vivir" [guten Lebens] die Debatten beherrschten, war
dies in Dakar anders. Die friedlichen Revolutionen in Ägypten und
Tunesien sowie der besondere afrikanische Kontext mit seinen eigenen
Themen dominierten auch das WSF. Schon auf dem beeindruckenden
Eröffnungsmarsch wurde deutlich, dass dies kein Forum der großen
übergreifenden Forderungen und Parolen würde. Dem Organisationskomitee
war es gelungen, in großer Breite die sozialen Bewegungen und
Basisinitiativen Westafrikas zu mobilisieren. Dazu trugen auch die über
Land reisenden Karawanen bei, die sternförmig aus allen Nachbarländern
in den Senegal zogen und damit eine kostengünstige Anreise ermöglichten
und gleichzeitig auf das WSF aufmerksam machten. Sie kamen jedoch nicht
roten, grünen oder anderweitig gleichartigen Fahnen, sondern mit ihren
eigenen Anliegen: Landraub ("land grabbing") durch den immer schärferen
Druck auf das knapper werdende landwirtschaftlich nutzbare Land für die
Bedürfnisse der globalen Konsumentenklasse. Der Schutz lokalen Saatguts
und lokaler Produktion vor Kontrolle der Multis und Agrarsubventionen
wurden eingefordert. Überfischung ("sea grabbing") durch die
industriellen Fischfangflotten auf Kosten der familiären
Fischereibetriebe. Besonders sichtbar waren überall auf dem Forum die
starken Frauenbewegungen in Afrika, sowohl in Bezug auf Landrechte, die
Fischerei und die Beteiligung von Frauen an Konfliktlösung in Afrika.
Schließlich war die Festung Europa mit seinem menschenverachtenden
"Grenzschutzregime". Immer wieder wurden die TeilnehmerInnen aus Europa
gefragt, auch von Studierenden aus dem Senegal: Wie kann es sein, dass
Ihr ohne Visum hierherkommen könnt und wir nicht einmal die Chance auf
ein Visum haben? Immer wieder wurde die Forderung nach globaler
Bewegungsfreiheit erhoben, als Teil globaler Bürgerrechte. Schon vor
dem Forum verabschiedete ein eigenes Forum zu Migration eine "Charta
der Migranten" (
http://fsm2011.org/fr/charte-mondiale-des-migrants).
Kurzum: die neuen und alten Formen des Kolonialismus' waren die
bestimmenden Themen des Weltsozialforums. Anders als beim WSF in
Nairobi 2007 blieb diesmal die Beschimpfung oder überhebliche westliche
Kritik an Afrikanischen Basisbewegungen aus. Dazu trug auch bei, dass
religiös motivierte Gruppen - ob christlich oder muslimisch - wenig
sichtbar waren und damit die religiöse Intoleranz mancher Linker
weniger provoziert wurde. Erfreulich aktiv waren die katholischen und
evangelischen Hilfewerke, die auch vielen ihrer Partnerorganisationen
im Süden die Teilnahme am Weltsozialforum ermöglichten. Der
Evangelische Entwicklungsdienst stellte auf dem Forum eine
vielbeachtete Studie zu EU-Westafrikanischen Fischereikooperationen
vor, die massiv das Recht auf Nahrung der Fischer und ihrer Familien an
den Küsten verletzen. Anders als bei den Foren in Lateinamerika und
2003 in Mumbai waren dagegen linke Parteien und Gewerkschaften
vergleichsweise wenig sichtbar. Aus Deutschland war aus den
Gewerkschaften nur die GEW dabei. Die großen NGOs waren zahlreich
vertreten, dominierten jedoch nicht das Forum. Auch regional entsprach
die Beteiligung der Verankerung der altermondialistischen Bewegung auf
den verschiedenen Kontinenten. Während EuropäerInnen und
LateinamerikanerInnen neben den zahlenmäßig dominierenden
AfrikanerInnen sehr sichtbar waren, gab es aus Asien außerhalb von
Indien nur wenig Beteiligung. Auch die NGOs aus Nordamerika waren nicht
so zahlreich vertreten, wie es ihrer Stärke eigentlich entspricht.
Anders als in Lateinamerika gibt es keine Regierung auf dem
afrikanischen Kontinent, die sich auf die altermondialistische Bewegung
bezieht. Somit wurden die Revolutionen in Tunesien und Ägypten zum
machtpolitischen Bezugspunkt des Forums. Gerade im Maghreb hatte ein
Duzend Sozialforen stattgefunden und dazu beigetragen, den Boden für
den Wandel vorzubereiten. Allerdings wäre es eine Übertreibung, die
beiden Absetzungen undemokratischer Regime als Erfolge der
altermondialistischen Bewegungen zu sehen. In jedem Falle wollen
etliche Organisationen aus dem Weltsozialforumsprozess am 20. März nach
Tunesien reisen. Auch das europäische Attac-Netzwerk bereitet mit Attac
Tunesien eine Delegation vor.
Bewährt hat sich wiederum die neue Methodik des WSF: Nach einem Tag von
Veranstaltungen zu afrikanischen Themen gab es zwei Tage mit
selbstorganisierten Veranstaltungen der teilnehmenden Organisationen.
Große, zentral organisierte Veranstaltungen gab es außer der Eröffnung
und dem Abschluss nicht. Wie bei vorigen WSFs fanden vielfach zu den
gleichen Themen verschiedene Veranstaltungen statt, weil sich die
OrganisatorInnen schichtweg nicht kannten. Am Schluss des Forums
folgten dann eineinhalb Tage, die Aktionsversammlungen vorbehalten
waren. Zu jedem relevanten Thema fand hier jeweils eine Versammlung
statt - insgesamt 38. Sie waren praktisch durchweg ein großer Erfolg.
Oft basierten die beschlossenen gemeinsamen Aktionen auf den
Vorbereitungsarbeiten von globalen Netzwerken, die schon vor einigen
Jahren auf vorigen WSF gegründet wurden. Diese Netzwerke - oft mit
kleinen Sekretariaten, Mailinglisten, regelmäßigen Telefonkonferenzen -
sind eines der größten Erfolge der Weltsozialforen und bei der
Kommentierung am meisten übersehenen. Das Weltsozialforum ist ein
globaler Open Space mit Aktionsorientierung.
Es gab keine systematische Dokumentation der Ergebnisse der 38
Aktionsversammlungen. Hier sind daher nur einige viel Ergebnisse von
viel beachteten Versammlung erwähnt. Sie binden politisch nur die
TeilnehmerInnen, nicht jedoch das Weltsozialforum als Ganzes. Bei einer
mit 300 TeilnehmerInnen sehr gut besuchten Versammlung zu "land
grabbing" wurde eine ganze Reihe von Aktivitäten vereinbart und dazu
eine Erklärung zum Thema verabschiedet
(
http://farmlandgrab.org/post/view/18159). Dabei wurde klar, dass der
Kampf um traditionelle Landnutzungsrechte und damit das Recht auf
Nahrung jeweils vor Ort gewonnen werden muss. Zwar sind die
Konsumwünsche der global gesehen Reichen und auch multinationale
Konzerne bzw. mächtige Staaten ursächlich für das "Land grabbing" im
Süden, ein entscheidender Schlüssel liegt jedoch bei den lokalen
Behörden und Nationalstaaten im Süden. Sie müssen die Rechte der
Kleinbauern verteidigen, statt der Exportlandwirtschaft in oft
korrupter Art und Weise zu dienen. Ganz Ähnliches wurde auch bei einer
am Rande des Weltsozialforums durchgeführten großen Konferenz zu "land
and sea grabbing" unserer Grünen Fraktion im Europaparlament mit
betroffenen Kleinbauern und Fischern deutlich. Natürlich müssen wir
gerade die Bedeutung des Themas auf dem Weltsozialforum nutzen, um
Druck gegen illegitime Praktiken westlicher Konzerne und auch die
Handelspolitik der EU zu machen, die zum Schaden kleiner Produzenten im
Süden ist. Gleichzeitig müssen wir fairen Handel stärken und die
Bewegungen im Süden unterstützen, die Druck auf ihre Regierungen
machen.
In verschiedenen Versammlungen wurde auch die Mobilisierungsagenda der
nächsten Monate deutlich. In Frankreich finden dieses Jahr der G8 und
G20-Gipfel statt. Frankreichs Staatspräsident Sarkozy will sich der
kritischen französischen Öffentlichkeit als Altermondialist
präsentieren, der dann billig und folgenlos an "bösen anderen Staaten"
scheitert. Gleichzeitig bremst er in der EU bei der Regulierung der
Finanzmärkte und der Einführung der Finanztransaktionssteuer. Es
scheint klar, dass die französischen Bewegungen diese durchsichtige
Strategie nicht durchgehen lassen werden. Die Aktionsversammlung zu
G8/G20 beschloss eine entsprechende Erklärung (
http://gruenlink.de/54).
In Frankreich hat sich ein Organisationskomitee gebildet, das auch
europäisch vernetzt ist. Es sind daher starke Mobilisierungen zum
21./22. Mai nach Deauville und zum 31. Oktober-5.November nach Cannes
zu erwarten. Am 26./27. März findet in Paris eine weitere
Vorbereitungsversammlung statt. Es scheint, dass es gelingt, die beim
Thema Klimaschutz besonders starken politischen Spannungen zwischen
NGOs und sozialen Bewegungen auszuhalten.
Darüber hinaus orientieren viele Bewegungen auf die kommende
Weltklimakonferenz vom 28.11.-9.12.2011 im südafrikanischen Durban (COP-
17) und stärker noch auf den Rio+20-Erdgipfel in Brasilien vom 14.-16.
Mai 2011. In Rio ist ein "People's summit" als Parallelveranstaltung
der Zivilgesellschaft geplant. Dass diese beiden für Klimaschutz und
Biodiversität entscheidenden Konferenzen in stark wachsenden
Schwellländern stattfinden, ist politisch spannend. Die beiden
Regierungen sind aus sozialen Bewegungen hervorgegangen. Gleichzeitig
haben sie sich gerade im ökologischen Bereich alles andere als mit Ruhm
bekleckert. Wie ökologische und soziale Krise in einer gemeinsamen
ökonomischen Strategie angegangen werden können, wird zum zentralen
Thema werden. Aus diesem Kalender ergibt sich ein Reigen von großen
Mobilisierungen für die altermondialistische Bewegung: Deauville,
Cannes, Durban, Rio.
Leider litt das Forum sehr unter organisatorischen Problemen. Kurz vor
Forumsbeginn hatte der Uni-Direktor gewechselt. Der neue fühlte sich an
vorige Absprachen nicht mehr gebunden. Das Weltsozialforum und der
reguläre Uni-Betrieb fanden daher parallel statt. Die Doppelbelegung
der Räume war der Normalfall. Es dauerte, bis Zelte aufgestellt waren
und oft klappte die Ankündigung der neuen Räume nicht richtig. Viele,
lange vorbereitete Veranstaltungen daher fielen aus. Das betraf vor
allem die kleineren.
Diese Probleme können jedoch den Wert und Erfolg des Forums nicht
zerstören. Beim auf das Forum folgenden Treffen des Internationalen
Rates des Weltsozialforums wurde das Forum so auch als Erfolg gewertet.
Vor allem die erfolgreichen globalen Netzwerke und ihre Aktivitäten
zeigen die Notwendigkeit und Nützlichkeit des WSF. Von einer
angeblichen Erschöpfung der Foren oder einer perspektivlosen
Wiederholung der Inhalte kann jedenfalls keine Rede sein. Die
Weltsozialforen entwickeln sich regional und thematisch weiter. Was es
jedoch nach wie vor nicht gibt und wohl auch bis auf weiteres nicht
geben wird, ist eine übergreifende gemeinsame Theorie der sozialen
Bewegungen und unabhängigen Zivilgesellschaft. Viel an der Rede von der
Erschöpfung gründet vielmehr in einer falschen Sehnsucht nach
Einheitlichkeit und einem großen vereinigenden "Ismus". Dass es diese
ideologische Engführung nicht gibt, ist jedoch nicht einfach Schwäche,
sondern gleichzeitig demokratische Stärke der altermondialistischen
Bewegung.
Kritik gab es im Rat allerdings zurecht an der Tatsache, dass ein
Staatspräsident - Evo Morales aus Bolivien - das weltweite Forum der
Zivilgesellschaft eröffnete, ohne dass dies im Rat abgesprochen war.
Schließlich gab es gerade aus Indien und Brasilien kritische Anfragen
an den europäischen Sozialforumsprozess. Es könne nicht sein, dass er
in Europa so schwach verankert ist. Tatsächlich steckt der Prozess des
Europäischen Sozialforums seit Jahren in der Krise. Denn anderes als
beim Weltsozialforum ist es nicht gelungen, die großen NGOs,
Gewerkschaften mit den radikaleren sozialen Bewegungen zu vernetzen.
Vielmehr haben sich fast alle Großorganisationen zurückgezogen und der
Prozess ist in der Hand einer kleinen, schlecht legitimierten
Vorbereitungsgruppe. Dass diese Schwäche nun aus dem Süden kritisiert
wird, ist ein gutes Zeichen.
* Ich benutze hier "altermondialistisch" (franz. altermondialist), der
die Bewegung für eine andere Globalisierung im französischsprachigen
Raum viel besser beschreibt, als das deutsche
"globalisierungskritisch".
* Gustave Massiah (2011a): Une stratégie altermondialiste, Paris: La
Découverte.
Gustave Massiah (2011b): Les douze hypotheses d'une stratégie
altermondialiste,
http://www.cetri.be/spip.php?article2060〈=fr
Meine 150 Fotos vom Weltsozialforum finden sich hier:
http://gruenlink.de/6l ------------------------------