MUBARAK WEG -- ANALYSE
Analyse der Situation in Ägypten
Warum Mubarak am Ende ist
In Ägypten kämpft nicht nur die Jugend gegen die alte Garde der Diktatur. Die Dynamik des Aufstands wird auch von Polizei, Militär, Geheim- und Sicherheitsdiensten befeuert. Sie alle haben ihre eigene Geschichte, ihre Kultur, ihre Bindungen und Einkommensquellen. Eine Analyse der aktuellen Kräfteverhältnisse am Nil.
Von Paul Amar
Soldaten vor Protestierenden in einer Seitenstraße des Tahrir-Platzes.
07. Februar 2011Wenn wir verstehen wollen, wohin die Entwicklung in Ägypten geht und welche Form die Demokratie dort annehmen könnte, müssen wir die außerordentlich erfolgreiche Mobilisierung des Volkes in ihre militärischen, ökonomischen und sozialen Kontexte zerlegen. Welche Kräfte standen außer dem Volk noch hinter Mubaraks plötzlichem Machtverlust? Und wie wird die Übergangsregierung, die um das Militär herum gebildet wurde, mit der Millionen Köpfe zählenden Protestbewegung umgehen?
Es fällt vielen Kommentatoren in den internationalen Medien und auch einigen akademischen und politischen Analytikern schwer, die komplexen Kräfte zu verstehen, die das aktuelle Geschehen vorantreiben. Denn die Gruppen, die sich gegenüberstehen, lassen sich nicht schlicht in „Gute" und „Böse" aufteilen, wie es immer wieder versucht wird. Eine solche Sichtweise verdunkelt mehr, als sie erhellt. Vor allem drei binäre Modelle zur Erfassung der Geschehnisse sind in Umlauf, und jedes hat seine Schwierigkeiten, die Lage in den Griff zu bekommen.
Erstens: Volk gegen Diktatur. Diese Sicht führt zu liberaler Naivität und einer Verkennung der aktiven Rolle, die das Militär und die Eliten bei diesem Aufstand spielen.
Zweitens: Laizisten gegen Islamisten. Dieses Modell führt zum Ruf nach „Stabilität" im Stil der achtziger Jahre und zu islamophoben Ängsten vor der angeblich extremistischen „arabischen Straße".
Drittens: alte Garde gegen frustrierte Jugend. Diese Perspektive ist durch eine romantische Sicht der Proteste im Stil der sechziger Jahre geprägt, vermag aber weder die strukturelle und institutionelle Dynamik, die hinter dem Aufstand steht, noch die zentrale Rolle vieler Siebzigjähriger aus der Nasser-Zeit zu erklären.
Um ein umfassenderes Bild zu zeichnen, ist es hilfreich, die treibenden Kräfte innerhalb der militärischen und polizeilichen Institutionen des staatlichen Sicherheitsapparats zu identifizieren und zu zeigen, in welchem Zusammenhang Konflikte innerhalb und zwischen diesen Institutionen mit Veränderungen der Klassenstruktur und der Kapitalbildung stehen. Ich werde diese Faktoren auch in ihrem Verhältnis zu neuen, nichtreligiösen sozialen Bewegungen und zur internationalistischen oder humanitären Identität einiger nun plötzlich im Zentrum der neuen Oppositionskoalition stehender Figuren beleuchten.
Westliche Kommentatoren, ob nun liberal oder konservativ, begreifen alle repressiven Kräfte in nichtdemokratischen Gesellschaften gerne als Hammer der „Diktatur" oder als Ausdruck des Willens eines autoritären Führers. Doch jede polizeiliche, militärische oder geheimdienstliche Institution hat ihre eigene Geschichte, ihre Kultur, ihre Klassenbindungen und oft auch ihre eigenen Einkommensquellen und einen eigenständigen Rückhalt.
DIE POLIZEI
Ein Soldat beschützt einen Anhänger Mubaraks vor Regierungsgegnern
In Ägypten steht die Polizei (al shurta) unter der Leitung des Innenministeriums, das Mubarak und dem Präsidialamt sehr nahe stand und politisch auf Gedeih und Verderb mit ihm verbunden ist. Die einzelnen Polizeireviere haben in den letzten Jahrzehnten eine gewisse Autonomie erlangt. In manchen Polizeirevieren zeigt sich diese Autonomie darin, dass sie eine militante Ideologie oder eine moralische Mission übernehmen. Andere haben sich auf den Drogenhandel oder auf Schutzgelderpressung im lokalen Handel und Gewerbe verlegt. Von unten nach oben gesehen, ist die Zuverlässigkeit der Polizei nicht sonderlich groß.
DIE BANDEN
Von Revier zu Revier unterschiedlich, entwickelte die Polizei ein hohes Maß an Eigennutz und Unternehmergeist. In den achtziger Jahren war die Polizei mit einer wachsenden Zahl von „Banden" konfrontiert, die im ägyptischen Arabisch als baltagiya bezeichnet werden. Diese Straßenbanden beherrschten bald zahlreiche informelle Siedlungen und Slums in Kairo. Ausländer und die ägyptische Bourgeoisie hielten die baltagiya für islamistisch, aber in Wirklichkeit waren sie gänzlich unideologisch. In den frühen neunziger Jahren beschloss das Innenministerium: „Wenn du sie nicht schlagen kannst, musst du sie kaufen."
Ausruhen vor einem Panzer auf dem Tahrir-Platz.
So begannen das Innenministerium und der Zentrale Sicherheitsdienst, die Repression auf die baltagiya auszulagern, sie dafür gut zu bezahlen und sie im Einsatz sexueller Gewalt (vom Grapschen bis hin zur Vergewaltigung) auszubilden, um Demonstrantinnen und männliche Gefangene gleichermaßen zu bestrafen und abzuschrecken. In dieser Zeit auch machte das Innenministerium die Geheimpolizei (mabahith amn al dawla) zu einer monströsen und gefährlichen Organisation, die zahllose innenpolitische Dissidenten verhaftete und folterte.
DIE ZENTRALEN SICHERHEITSDIENSTE
Die Zentralen Sicherheitsdienste (Amn al Markazi) sind unabhängig vom Innenministerium. Das sind die schwarz uniformierten und behelmten Männer, die in den Medien „die Polizei" genannt werden. Die Zentralen Sicherheitsdienste gelten als Mubaraks Privatarmee. Sie sind keine Revolutionsgarden oder Moralwächter wie die basiji, die in Iran die Demonstrationen der Grünen Bewegung unterdrückten. Die Amn al Markazi sind schlecht bezahlt und unideologisch. Außerdem erhoben sich Brigaden dieser Organisation immer wieder einmal massenhaft gegen Mubarak, um höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen durchzusetzen.
Protestierende umringen einen vermeintlichen Anhänger Mubaraks.
Könnten sie nicht auf die finstere Unterstützung der baltagiya zählen, wären sie wahrscheinlich keine sonderlich einschüchternde Streitmacht. Die lustlose Resignation in den Augen mancher Amn-al-Markazi-Soldaten, als sie von Demonstranten geküsst und liebevoll entwaffnet wurden, gehört bislang zu den eindrucksvollsten Ikonen dieser Revolution. Mubaraks Machtverlust lässt sich genau auf den Augenblick datieren, als Demonstranten Markazi-Offiziere auf die Wangen küssten, worauf diese prompt in Tränengaswolken verschwanden und nie mehr zurückkehrten.
DIE STREITKRÄFTE
Die Streitkräfte der Arabischen Republik Ägypten haben kaum Verbindungen zu den Amn al Markazi oder zur Polizei und betrachten sich gewissermaßen als Staat im Staate. Man könnte sagen, Ägypten sei immer noch eine „Militärdiktatur" (falls man diesen Ausdruck benutzen muss), denn dies ist immer noch das Regime, das die Revolution der Freien Offiziere in den fünfziger Jahren geschaffen hat. Doch das Militär ist an den Rand gedrängt, seit der ägyptische Präsident Anwar Sadat das Camp-David-Abkommen mit Israel und den Vereinigten Staaten unterzeichnete. Seit 1977 durfte das Militär gegen niemanden mehr kämpfen. Dafür erhielten die Generäle gewaltige Summen an amerikanischer Militärhilfe. Man gewährte ihnen Konzessionen für den Bau von Einkaufszentren, von umzäunten Städten in der Wüste und von Strandhotels an den Küsten. Und man ermunterte sie, in billigen Clubs herumzusitzen.
Ein Junge bemalt sein Gesicht in den Farben der ägyptischen Flagge.
Durch diese Bestechungsgelder sind sie zu einer unglaublich organisierten Interessengruppe nationalistischer Geschäftsleute geworden, die gerne im Ausland investieren würden, deren Loyalitäten jedoch ökonomisch und symbolisch in das nationale Territorium eingebunden sind. Wie auch in anderen Ländern der Region (Pakistan, Irak, Golfstaaten) handeln die Amerikaner sich mit ihrer Militärhilfe keine Loyalität gegenüber Amerika ein, sondern nur Ressentiments.
In den letzten Jahren hat das ägyptische Militär kollektiv ein wachsendes nationales Pflichtgefühl entwickelt und zugleich ein Gefühl tiefster Scham angesichts seiner, wie es dies empfindet, „kastrierten Männlichkeit", weil es nicht für das eigene Volk eintritt. Die nationalistischen Streitkräfte möchten ihre Ehre wiederherstellen und sind angewidert von der Korruption der Polizei und der Brutalität der baltagiya. Und wie es scheint, verstehen die „Nationalkapitalisten" des Militärs sich als Erzrivalen der neoliberalen „Spezikapitalisten" im Umkreis des Mubarak-Sohns Gamal, die alles privatisieren, was sie in die Hände bekommen können, und die Besitztümer des Landes an Investoren aus China, Amerika und den Golfstaaten verkaufen.
So wird verständlich, warum wir in der ersten Phase dieser Revolution am Freitag, dem 28. Januar, einen sehr raschen Staatsstreich des Militärs gegen Polizei und Sicherheitsdienst erlebt haben, der zum Verschwinden Gamal Mubaraks (des Sohns) und des verhassten Innenministers Habib el Adly führte. Doch das Militär ist seinerseits aufgrund einiger innerer Widersprüche gespalten. Innerhalb der Streitkräfte gibt es zwei Elitezweige, die Präsidentengarde und die Luftwaffe. Sie blieben Mubarak enger verbunden, während die übrigen Teile des Militärs sich gegen ihn wendeten.
So ist auch zu erklären, weshalb der Generalstabschef der Streitkräfte, Muhammad Tantawi, am 30. Januar zu den Demonstranten ging und ihnen seine Unterstützung signalisierte, während zugleich der Luftwaffenchef zu Mubaraks neuem Ministerpräsidenten ernannt wurde und Flugzeuge losschickte, um die Demonstranten einzuschüchtern. Es erklärt außerdem, weshalb die Präsidentengarde das Gebäude des staatlichen Fernsehens beschützte und am 28. Januar gegen die Demonstranten vorging, statt sich an deren Seite zu stellen.
DER GEHEIMDIENST
Omar Suleiman, der am 29. Januar zum Vizepräsidenten ernannt wurde, war früher Chef des Geheimdienstes (al mukhabarat), der gleichfalls zum Militär und nicht zur Polizei gehört. Dieser Geheimdienst ist für nach außen gerichtete Geheimoperationen, Verhaftungen und Verhöre zuständig (und daher für die Folterung und Auslieferung von Nichtägyptern). Da Soleimans mukhabarat nicht so viele ägyptische Dissidenten verhaftet und gefoltert hat, ist er weniger verhasst als mubahith. Der Geheimdienst mukhabarat hat besondere Bedeutung für einen Wechsel. Soweit ich sehen kann, schätzt der Geheimdienst Gamal Mubarak und die Fraktion der „Spezikapitalisten" nicht, ist aber besessen vom Gedanken der Stabilität und unterhält seit langem enge Beziehungen zur CIA und zum amerikanischen Militär.
Der Aufstieg des Militärs und damit auch des militärischen Geheimdienstes erklärt, warum alle Geschäftsfreunde Gamal Mubaraks am Freitag dem 28. Januar aus dem Kabinett geworfen wurden und warum Suleiman das Amt des Interimsvizepräsidenten übernahm (der in Wirklichkeit die Amtsgeschäfte führt). Diese Revolution oder dieser Regimewechsel wird perfekt sein, sobald die gegen Mubarak gerichteten Strömungen innerhalb des Militärs ihre Position festigen und den Geheimdienst wie auch die Luftwaffe davon überzeugen können, dass sie sich vertrauensvoll für die neuen Volksbewegungen und die um den Oppositionsführer El Baradei versammelten Parteien öffnen können. Genauso könnten optimistische Leser auch den von Obama und Clinton beschriebenen „geordneten Übergang" verstehen.
Am Montag, dem 31. Januar, sahen wir, dass Naguib Sawiris, der wohl reichste Geschäftsmann Ägyptens und Galionsfigur der auf nationale Entwicklung setzenden Kapitalfraktion des Landes, sich den Demonstranten anschloss und Mubaraks Rücktritt forderte. Im vergangenen Jahrzehnt sahen Sawiris und seine Verbündeten sich durch den extremen Liberalismus Mubaraks und seines Sohnes bedroht, die westlichen, europäischen und chinesischen Investoren den Vorzug gegenüber nationalen Geschäftsleuten gaben. Da ihre Investitionen sich mit denen der Militärs überschneiden, sind die Interessen dieser prominenten ägyptischen Geschäftsleute buchstäblich in Land, Ressourcen und Erschließungsprojekte innerhalb Ägyptens eingebunden. Sie sind angewidert von der Korruption des inneren Zirkels um Mubarak.
DIE GEWERKSCHAFTEN
Parallel zur Rückkehr eines mit dem Militär verbundenen und gegen die Polizei gerichteten organisierten nationalen oder auch nationalistischen Kapitals (ein Vorgang, zu dem es auch während des Kampfes gegen den britischen Imperialismus in den dreißiger bis fünfziger Jahren kam) erlebte auch eine sehr mächtige und breit organisierte Gewerkschaftsbewegung ihre Wiederkehr, vor allem unter jungen Menschen. Die Jahre 2009 und 2010 waren von landesweiten Massenstreiks, Sit-ins und weithin sichtbaren Gewerkschaftsdemonstrationen geprägt, und das vielfach an denselben Orten, an denen der Aufstand dieses Jahres seinen Anfang nahm. In ländlichen Gebieten erhoben sich die Menschen gegen staatliche Versuche, Kleinbauern von ihrem Land zu vertreiben, um die großen Ländereien wiederherzustellen, die es in osmanischer Zeit und während des britischen Kolonialregimes gegeben hatte.
2008 erlebten wir die Entstehung der 100 000 Mitglieder zählenden Jugendbewegung des 6. April, die einen Generalstreik organisierte. Am 30. Januar 2011 schließlich gründeten zahlreiche Gewerkschaften aus den meisten größeren Industriestädten des Landes einen Unabhängigen Gewerkschaftsbund. Diese Bewegungen werden von neuen linksgerichteten politischen Parteien organisiert, die keine Verbindung zur Muslimbruderschaft besitzen und auch nicht zum Nasserismus der vorangegangenen Generation. Sie sind natürlich nicht gegen den Islam und erheben die Trennung zwischen Staat und Religion nicht zum Programm. Ihr Interesse gilt dem Schutz des produzierenden Gewerbes und der landwirtschaftlichen Kleinbetriebe in Ägypten, und ihre Forderung nach staatlichen Investitionen in die wirtschaftliche Entwicklung des Landes überschneidet sich in manchen Teilen mit den Interessen der neuen nationalkapitalistischen Allianz.
NEUE SOZIALE BEWEGUNGEN
So zeigt sich denn, dass hinter den Kulissen der nichtstaatlichen Organisationen und der durch Facebook-Aktivitäten angetriebenen Protestwellen gewaltige strukturelle und ökonomische Kräfte wie auch institutionelle Umorientierungen am Werk sind. Die Bevölkerungszahl Ägyptens wird offiziell mit 81 Millionen angegeben, doch in Wirklichkeit übersteigt sie 100 Millionen, da manche Eltern ihre Kinder nicht registrieren lassen, damit sie nicht zu den Amn al Markazi oder zum Militär eingezogen werden. Da die ständig wachsende junge Bevölkerung heute gut organisiert ist, erlangen diese sozialen und internetbasierten Bewegungen immer größere Bedeutung. Hier lassen sich drei Trends unterscheiden: Eine Gruppe neuer Bewegungen orientiert sich an internationalen Normen und Organisationen, und so neigen denn viele zu weltoffenen, laizistischen Perspektiven und Diskursen. Eine zweite Gruppe orientiert sich an der sehr aktiven und durchsetzungsfähigen Rechtskultur und den unabhängigen rechtlichen Institutionen Ägyptens.
Diese starke Rechtskultur ist gewiss kein Import westlicher Menschenrechtsideale. Anwälte, Richter und Millionen von Rechtssuchenden - Männer und Frauen, Arbeiter, Bauern und Angehörige der Elite - halten das Rechtssystem lebendig und können auf eine lange, ungebrochene Geschichte des Widerstands gegen autoritäre Herrschaft und des Eintretens für Rechtsansprüche aller Art zurückblicken. Eine dritte Gruppe neuer sozialer Bewegungen besteht aus einem Geflecht international ausgerichteter NGOs, für Rechtsstaatlichkeit eintretender Gruppen und neuer linksgerichteter, feministischer, ländlicher sowie gewerkschaftlicher sozialer Bewegungen. Die zuletzt genannte Gruppe kritisiert den Universalismus der laizistischen Diskurse der UN und der NGOs und stützt sich auf die Macht der ägyptischen Rechts- und Gewerkschaftsaktivisten, verfügt aber auch über eigene innovative Strategien und Lösungen - von denen viele in dieser Woche auf den Straßen deutlich vorgeführt wurden.
DIE VEREINTEN NATIONEN
Ein letztes Element, das hier untersucht werden soll, ist die entscheidende und oft übersehene Rolle, die Ägypten in den Vereinten Nationen und in humanitären Organisationen gespielt hat. Diese Geschichte kehrt heute nach Ägypten zurück, belebt die Innenpolitik und sorgt aktuell für Legitimation und Führung. Mohamad El Baradei, der frühere Leiter der Internationalen Atomenergiebehörde der Vereinten Nationen, ist von der Vereinten Demokratischen Front in Ägypten gebeten worden, als Interimspräsident zu fungieren und den Vorsitz in einem nationalen Prozess der Herstellung eines Konsenses und des Entwurfs einer neuen Verfassung zu übernehmen.
Im ersten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts leitete El Baradei mutig die Internationale Atomenergiebehörde und bestätigte glaubwürdig, dass der Irak keine Massenvernichtungswaffen besaß und Iran keine Kernwaffen entwickelte. Er erhielt den Nobelpreis für seine Bemühungen, das Völkerrecht gegen eine neue Welle von Angriffskriegen zu verteidigen. Er ist weder ein Radikaler noch ein ägyptischer Gandhi. Aber er ist auch kein Schwächling oder gar eine Marionette der Vereinigten Staaten. Fast die ganze Woche lang stand an seiner Seite auf den Demonstrationen der ägyptische Schauspieler Khaled Abou Naga, der in diversen ägyptischen und amerikanischen Spielfilmen aufgetreten ist und der Unicef als ehrenamtlicher Botschafter dient. Die Geschehnisse in Ägypten sind weit eher eine von humanitären UN-Vertretern angeführte Revolution als ein Aufstand der Muslimbruderschaft. Es handelt sich um einen Regimewechsel ganz im Stil des einundzwanzigsten Jahrhunderts - hochgradig lokal und zugleich international.
Dies ist der rechte Augenblick, daran zu erinnern, dass der allererste militärisch-humanitäre Friedenseinsatz der Vereinten Nationen, die UN Emergency Force, 1960 mit gemeinsamer Unterstützung Gamal Abdel Nassers und Dwight D. Eisenhowers (beide natürlich Militärs) geschaffen wurde, um den Frieden in Gaza zu sichern und die ehemaligen Kolonialmächte sowie Israel daran zu hindern, in Ägypten einzudringen, den Suezkanal wieder unter ihre Kontrolle zu bringen und das Land erneut zu unterjochen. In den neunziger Jahren diente der Ägypter Boutros Boutros-Ghali den Vereinten Nationen als Generalsekretär. Er formulierte neue UN-Doktrinen für die Staatenbildung und für humanitäre Militäreinsätze. Aber er wurde nicht wiedergewählt, weil er den Fehler beging, darauf zu bestehen, dass die internationalen Menschenrechte und das humanitäre Völkerrecht neutral und universell anzuwenden seien und nicht nach dem Belieben der im Sicherheitsrat vertretenen Mächte.
Doch die Beziehungen Ägyptens zu den Vereinten Nationen gehen weiter. So ist Aida Seif Ad-Dawla, eine der wortgewandtesten, mutigsten und kreativsten Führerinnen der neuen Generation ägyptischer sozialer Bewegungen und feministischer NGOs, eine Kandidatin für das hohe Amt der UN-Berichterstatterin über Folter. Die Ägypter können auf eine lange Geschichte der Förderung und Unterstützung des Völkerrechts, der humanitären Normen und der Menschenrechte zurückblicken. Der ägyptische Internationalismus besteht auf der einheitlichen Anwendung der Menschenrechte und des humanitären Kriegsrechts auch in Fällen, in denen eine Supermacht Druck ausübt. In diesem Kontext ist es durchaus sinnvoll, wenn El Baradei eine Führungsrolle in Ägypten übernimmt - auch wenn die meisten selbstgerechten liberalen Kommentatoren die internationale Dimension des „lokalen" Aufstands in Ägypten vollständig übersehen, weil sie unter „international" nur den „Westen" verstehen und meinen, die Demonstranten in Ägypten ließen sich von einer Politik des Bauches leiten statt von Prinzipien.
Mubarak ist schon nicht mehr an der Macht. Das neue Kabinett besteht aus den Chefs des Geheimdienstes, der Luftwaffe, der Gefängnisbehörde und einem Vertreter der Internationalen Gewerkschaftsorganisation. Diese Gruppe verkörpert den harten Kern einer „Stabilitätskoalition", die versuchen wird, die Interessen des neuen Militärs, des nationalen Kapitals und der Gewerkschaften zusammenzubringen und dabei zugleich die Befürchtungen der Vereinigten Staaten zu zerstreuen. Ja, das ist ein Kabinettsumbau - aber einer, der einen bedeutsamen politischen Richtungswechsel erkennen lässt. Nichts von alledem kann jedoch als Übergang zur Demokratie gelten, solange die riesige neue Koalition der lokalen sozialen Bewegungen und der internationalistisch ausgerichteten Ägypter nicht in diesen Zirkel eindringt und darauf besteht, die Bedingungen und die Tagesordnung des Übergangs zu bestimmen.
Ich möchte wetten, selbst die Hardliner des neuen Kabinetts werden sich der Willenskraft der Volksaufstände von hundert Millionen Ägyptern nicht widersetzen können.
Aus dem Englischen übersetzt von Michael Bischoff.
Paul Amar ist Professor für Internationale Beziehungen an der University of California. Sein Artikel erschien zuerst bei www.jadaliyya.com und wird seitdem im Internet heftig diskutiert. Wir danken Paul Amar für die Erlaubnis, seinen Beitrag hier erstmals in deutscher Sprache zu publizieren.
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