Zukunft des Kapitalismus
Die Firma ist eine Zumutung
Von Dirk Baecker
Im Kern des Kapitalismus steckt der Buchhalter: Szene aus Billy Wilders "Das ...
Im Kern des Kapitalismus steckt der Buchhalter: Szene aus Billy Wilders "Das Apartment" mit Jack Lemmon
11. Mai 2009 Der Kapitalismus ist jenes Wirtschaftssystem, das Eigentümer auffordert, sich als Schuldner in eigener Sache zu betrachten. Sollte jemand auf die Idee kommen, Güter oder Dienstleistungen zu produzieren, die man mit Aussicht auf Gewinn abzusetzen erwartet, muss das dazu aufgewendete Vermögen als ein Kredit betrachtet werden, den man bei sich selbst aufnimmt und an sich selbst auch wieder zurückzuzahlen hat. Sollte der Gewinn aus dem Absatz der eigenen Produktion geringer sein, als andere mit demselben Vermögen und besseren Ideen erzielen können, liegt es in der Natur der Sache, sein Vermögen diesen anderen zur Verfügung zu stellen, sie damit wirtschaften zu lassen und sich aus dem höheren Gewinn den Kredit bezahlen zu lassen.
Mit anderen Worten, der Kapitalismus ist eine Zumutung. Er ist eine intellektuelle Zumutung, denn wer steigt nicht bereits nach diesen wenigen Sätzen aus und hört auf mitzurechnen, weil die sachliche, zeitliche und soziale Komplexität sich als Überforderung darstellt? Es geht um eine riskante Produktion, eine Überbrückung von Gegenwart und Zukunft und eine Vernetzung zwischen Kreditgebern und Kreditnehmern, die so viele Variablen enthält, dass unklar ist, ob die Gleichung aufgehen kann. Er ist eine praktische Zumutung, denn er verlangt vom Eigentümer, sein Kapital auch dann wie ein Fremdkapital zu behandeln, wenn es sein Eigenkapital ist.
Mit Hilfe eines Instruments, das auf den schönen Namen der Berechnung von Opportunitätskosten hört, soll ein Eigentümer laufend prüfen, ob ihm nicht durch die Eigenverwendung seines Vermögens Gelegenheiten (Opportunitäten) entgehen, andernorts höhere Gewinne zu erzielen. Nicht zuletzt ist der Kapitalismus genau deswegen auch eine gesellschaftliche Zumutung, denn er setzt den wirtschaftlichen Vergleich der Gelegenheiten an die Stelle der Würdigung der Sache selbst, ihrer Geschichte und ihrer Einbettung in soziale Praktiken aller Art. Er setzt die Sorge an die Stelle der Schönheit, wie Goethe in seinem unter dem Titel "Faust II" bekannten Lehrbuch der Ökonomie formuliert.
Buchführung als Kulturleistung
Der Sachverhalt wird dadurch nicht angenehmer, dass sich der Kapitalismus in jahrhundertelangen Auseinandersetzungen nicht nur der Güter und Dienstleistungen, sondern auch des Bodens, der Arbeit, der Information und des menschlichen Körpers angenommen hat. Es gibt weltweit nicht wenige Menschen, die sich fragen müssen, ob sie nicht eine ihrer beiden Nieren profitabler einsetzen können, wenn sie sie verkaufen, als wenn sie sie behalten, vom angeblich ältesten Gewerbe der Welt hier zu schweigen. Nicht erst der Protestantismus hat uns gelehrt, Zeit als Geld zu betrachten und nie aus dem Auge zu verlieren, wo und wie die eigene Arbeitskraft mit der größten Aussicht nicht nur auf Gewinn jetzt, sondern auch auf Gewinn morgen, das heißt auf einen sicheren Arbeitsplatz, eine mögliche Karriere und schließlich auf einigermaßen gute Karten beim Jüngsten Gericht, eingesetzt werden kann.
Werner Sombart vertrat deshalb die These, ohne die Einführung einer doppelten Buchführung hätte sich der Kapitalismus niemals so entwickeln können, wie wir ihn kennen. Dennoch wird die doppelte Buchführung, vormals eine Geheimlehre, erstmals veröffentlicht im Jahr 1494 von Luca Pacioli, einem Franziskanermönch, Mathematikprofessor und Freund Leonardo da Vincis, bis heute immer noch nicht zureichend als eine der großen Kulturleistungen der Menschheit gewürdigt. Immerhin nennt Oswald Spengler Pacioli in einem Atemzug mit Kopernikus und Kolumbus. Seine Lehre der doppelten Buchführung sei "eine reine Analyse des Wertraums", bezogen auf ein Koordinatensystem, dessen Anfangspunkt "die Firma ist", so liest man in "Der Untergang des Abendlandes". Und Sombart erinnert daran, dass auch "die Firma" nichts anderes als die institutionelle Verselbständigung des Rechts und der Pflicht ist, mit einer Unterschrift (ital. firmare: unterschreiben) für seine Absichten und Handlungen geradezustehen.
Deshalb, so Sombart in seinem Hauptwerk "Der moderne Kapitalismus", wird das kapitalistische Unternehmen in verschiedenen europäischen Sprachen zugleich Firma, Ditta und Ratio genannt: Es gibt einen Unternehmer, der mit seiner Unterschrift dafür bürgt, sein Eigenkapital wie ein Fremdkapital und sein Fremdkapital wie ein Eigenkapital zu behandeln. Dieser Unternehmer kann nur deshalb, weil er mit seiner Unterschrift hierfür bürgt, kreditwürdig genannt ("ditta") werden. Und die Voraussetzung für beides ist die Ratio, der Bruch zwischen Fremd- und Eigenkapital und daran anschließend der vernünftige, weil berechnende Umgang mit Mitteln und Zwecken.
Zum Tyrannischsein verdammt
Im Rahmen unserer Frage nach der Zukunft des Kapitalismus ist es entscheidend, diese Kulturleistung der doppelten Buchführung korrekt einzuschätzen. Einfach ist das nicht, denn jahrhundertelang galt die Regel, dass man sich vielleicht mit Verrückten unterhalten kann, unter Umständen sogar mit Ingenieuren, aber mit Sicherheit nicht mit Buchhaltern. Ihre Sprache galt als vollkommen unverständlich. Ihre Fähigkeit, eine einzige Zahlung zugleich auf der Habenseite und auf der Sollseite einer Unternehmensrechnung zu verbuchen, war den Leuten unheimlich. Wie kann man eine Schuld zugleich als ein Vermögen, ein Vermögen zugleich als eine Schuld betrachten?
Was also ist der Kapitalismus, ein Virus der Kostenrechnung und Gewinnorientierung, das man auch wieder loswerden kann, oder eine Institution der menschlichen Gesellschaft und ihrer Wirtschaft, die man durch Rahmung und Einbettung zähmen, aber nicht abschaffen kann? Xenophon verdanken wir einen der frühesten Texte zur Ökonomie überhaupt, sieht man von den Rechenlegungen babylonischer und ägyptischer Palastwirtschaften ab, nämlich den sokratischen Dialog Oekonomikos, in dem sich Sokrates von dem Edelmann Isomachos erzählen lässt, wie man ein Haus gut führt. Wie man weiß, gehört dieser Dialog zu den bei den Römern beliebtesten Texten der alten Griechen überhaupt, und dies nicht nur deswegen, weil eine der Antworten auf die gestellte Frage lautet, der Herr des Hauses müsse sich bemühen, seine junge Frau zu lehren, ihre Pflichten gegenüber ihm, ihren Kindern, dem Gesinde und den Haustieren zu erfüllen, während er sich um die Geschäfte außerhalb des Hauses kümmert.
Tugend der Selbstbeherrschung
Aber wichtiger ist der Ausklang des Dialogs. Das Gespräch mit Isomachos endet mit der Einsicht in die Tugend der Sophrosyne, der Selbstbeherrschung. Nur wer das Geheimnis dieser Tugend beherrsche, herrsche über Subjekte, die sich freiwillig unterwerfen. Wer es jedoch nicht beherrsche, der sei dazu verdammt, tyrannisch über Subjekte zu herrschen, die sich nicht freiwillig unterwerfen, und das sei ein Schicksal, schlimmer als das des Tantalos im Hades. Was ist das Geheimnis der Tugend der Selbstbeherrschung?
Max Weber hat es am Ende seines Lebens bei der Formulierung des soziologischen Grundbegriffs des "Wirtschaftens" entdeckt und offenbar für so wichtig gehalten, dass er drauf und dran war, seine ganze Soziologie umzuschreiben. Webers Faszination für möglichst präzise Definitionen hatte ihn auf die richtige Spur gebracht. Wirtschaften, so definiert er, sei "die friedliche Ausübung von Verfügungsgewalt". Schrieb's und, so muss man sich das wohl vorstellen, erschrak. Denn wie kann man Gewalt friedlich ausüben? Dass er die Verfügungsgewalt nicht bloß als rechtlichen Terminus technicus nahm, zeigen die ausführlichen Erläuterungen, mit denen er das "pragma der Gewalt", das sich seinem Blick so plötzlich aufdrängte, sowohl wieder loszuwerden versuchte als auch ernst zu nehmen begann.
Aber genau das ist der Kapitalismus, ein durch Gewalt erzwungener Verzicht auf sofortige Bedürfnisbefriedigung, um die dadurch gewonnene Zeit und die dadurch gewonnenen Ressourcen derart zur Produktion zu nutzen, dass der Verzicht aus den Früchten, die er bringt, entschädigt werden kann und diese Entschädigung schließlich zur intrinsischen Motivation werden kann, zur Grundlage der Sophrosyne. Dazu jedoch muss man rechnen, mit der Sache, mit der Zeit und mit den Mitmenschen. Und zu nichts anderem fordert das Kapital uns auf. Dass auf die gewalttätige Ausübung der Gewalt dann schließlich verzichtet werden kann, heißt nicht, wie jedem Kritiker auffällt und wofür jeder Buchhalter eine Kostenstelle bereithält, dass sie nicht friedlich nach wie vor ausgeübt wird.
Dirk Baecker lehrt Kulturtheorie und Kulturanalyse an der Zeppelin-Universität in Friedrichshafen am Bodensee. Zuletzt publizierte er das Buch "Kapitalismus als Religion" im Verlag Kadmos.
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