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25 Juni 2009

Zukunft des Kapitalismus 1 - 10

komplette FAZ serie... doktrinen - gefasel und ratlosigkeit

GRUNDEINKOMMEN ist die Loesung, finanziert durch Steuer auf Privilegien, basta.

Zukunft des Kapitalismus (1)

Wohlstand für alle ist mehr als eine Phrase

Von Thomas Strobl


Ist noch etwas zu retten?

05. Mai 2009 Deutschland hat eine neue Religion: die Soziale Marktwirtschaft. Jetzt, wo der Neoliberalismus in Trümmern liegt und der Sozialismus als gesellschaftliche Alternative längst nicht mehr zur Verfügung steht, glauben wir wieder an die Soziale Marktwirtschaft. Ja, wir fühlen uns sogar regelrecht in ihr zu Hause - so wie wir uns früher einmal bei Gott zu Hause fühlten, zu dem wir regelmäßig beteten und den wir in unserer Not anriefen, dessen Wille uns aber immer verschlossen bleiben musste und uns daher entsprechend oft auf dem falschen Fuß erwischte.

Auch die Soziale Marktwirtschaft hat ihre Hohepriester gefunden: Bundeskanzlerin Merkel spricht praktisch von nichts anderem mehr, und Bundespräsident Köhler hat sie in seinen Reden gleichfalls wiederentdeckt. Die FDP liebt die Soziale Marktwirtschaft förmlich, proklamiert sich sogar zu deren "Hüterin" und will sie vor steigendem Staatseinfluss sowie der politischen Linken schützen. Die Linke wiederum ist nicht weniger um sie besorgt, sieht sie aber just durch den programmatischen Liberalismus der FDP gefährdet. Wo man also hinschaut: keine Partei, ob links oder rechts, welche die Soziale Marktwirtschaft nicht wieder in ihrem Banner tragen würde und deren Spitzen sich nicht als die einzigen und wahren Kreuzritter des neuen Glaubens zu erkennen geben wollten.

Ein größeres Stück vom Kuchen

BILD: Bleibende Berliner Frage: Horst Buchholz und Billy Wilder bei den Dreharbeiten zu "Eins, zwei, drei"


Die aufgeklärte und säkularisierte Gesellschaft weist jedoch - wie früher Religionen auch - den hohen Ansprüchen der Sozialen Marktwirtschaft in der Praxis einen minimalen Ort zu und gefällt sich in der Vorstellung, dass das eine mit dem anderen vereinbar wäre. Oder anders gesagt: Jenseits der politischen Propaganda führt die Soziale Marktwirtschaft ein recht bescheidenes Dasein. "Wohlstand für alle" - hinter diesem Leitbild versammelte sich einmal ganz Deutschland, nicht nur in Parteipamphleten und politischen Sonntagsreden, sondern in der konkreten Lebenswirklichkeit. Das war zu einer Zeit, "die immer weitere und breitere Schichten unseres Volkes zu Wohlstand zu führen" vermochte, wie sich das der politische Vater der Sozialen Marktwirtschaft, Ludwig Erhard, zum Ziel gesetzt hatte. Erhards Kalkül war dabei recht einfach: Die Politik müsse nur dafür sorgen, dass der Kuchen wachse, dann würde für alle ein entsprechend größeres Stück davon abfallen.

Nun wächst der Kuchen heutzutage nicht mehr so kräftig wie zu Erhards Zeiten, aber zumindest in den letzten zehn Jahren wuchs er nach wie vor. Gleichwohl vermochten Erhards politische Erben sein Versprechen nicht mehr einzulösen: Der reale Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts entfiel fast zur Gänze auf Unternehmensgewinne und Kapitalerträge, während sich die Arbeitnehmer mit Reallohnstagnation bescheiden mussten.

Weiter so wie vorher?


Ist es Zufall, dass diese Entwicklung mit dem Siegeszug des allgemeinen Liberalisierungs-Mantras zusammenfällt? Das politische Spitzenpersonal scheint das zu glauben: Nur in absoluten Ausnahmefällen wären staatliche Eingriffe in die Wirtschaftsordnung gerechtfertigt, meinte die Bundeskanzlerin kürzlich, nämlich dann, wenn die Märkte, die ansonsten immer alles am besten regeln, diesem hehren Anspruch aus welchen Gründen auch immer nicht mehr gerecht würden.

Also ist offenbar alles wie gehabt. Aber was bedeutet das für die Wirtschafts- und Sozialpolitik von morgen, wenn wir die Krise endlich überstanden haben? Will man uns dann ein "Weiter so wie vorher" als zukunftsfähige Maxime zumuten? Ein Wirtschaftssystem, das nur dadurch vom alten Paradigma zu unterscheiden wäre, dass es jetzt wieder als "Soziale Marktwirtschaft" firmierte?

Das sollte man als Demokrat nicht akzeptieren. Denn schon bisher klangen sämtliche Parolen von "Freiheit" und "Gerechtigkeit" für einen Großteil der Bevölkerung wie leeres Gerede angesichts der eindeutigen, in eine gänzlich andere Richtung weisenden Fakten. Darüber hinaus legt die Wirtschaftskrise aber auch schonungslos den zweiten systemischen Fehler der Marktwirtschaft offen: die finanzielle Instabilität. Denn allen vorschnellen Verurteilungen vermeintlich Schuldiger zum Trotz liegen die Ursachen der Krise weder bei verbrecherischen Bankern noch bei obskuren Finanzprodukten oder ahnungslosen Aufsichtsorganen, sondern im Wesen der Marktwirtschaft selbst.

Gigantische Vermögensvernichtung

Seit ihren frühesten Anfängen wird die Marktwirtschaft regelmäßig von Krisen heimgesucht. Neu und bedrohlich ist allerdings, dass diese Krisen seit Mitte der achtziger Jahre in noch nie dagewesener Häufung und Schwere auftreten und dabei jedesmal eine gigantische Vermögensvernichtung nach sich ziehen. Würden wir auf diesem Kurs weitermachen, dann wäre unsere Zukunft einem System anvertraut, das sich neuerdings im Rhythmus von lediglich fünf bis zehn Jahren an den Rand der Selbstzerstörung bringt und nur mittels Einsatz unbeschreiblich hoher finanzieller Ressourcen am Leben halten lässt. Deren Aufbringung aber übersteigt die Leistungsfähigkeit unserer eigenen Generation wie auch die unserer Kinder und Kindeskinder.

Gleichzeitig erleben wir in Deutschland eine historisch beispiellose Konzentration von Einkommen und Vermögen. Nach jüngsten Erhebungen vereinigen die reichsten zehn Prozent der deutschen Bevölkerung mehr als sechzig Prozent des privaten Vermögens auf sich, die reichsten zwanzig sogar achtzig Prozent. Dieser Vermögenskonzentration steht rund die Hälfte der deutschen Bevölkerung gegenüber, die gar kein Vermögen besitzt.

Inhaltsleere Chiffre

Wer wollte angesichts solcher Verhältnisse noch ernsthaft Ludwig Erhards Geist beschwören? Wer würde sich nicht der Unredlichkeit schuldig machen, wenn er es täte? Muss es in den Ohren der meisten Bürger nicht wie blanker Hohn klingen, wenn die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) allen Ernstes schreibt, die "Neider" würden sich zu Unrecht über die Vermögenseinbußen der Superreichen im Zuge der Finanzkrise freuen, weil die doch mit ihrem Geld Arbeitsplätze schafften? Müsste man also nach Ansicht der INSM für eine dermaßen ungerechte Vermögensverteilung auch noch dankbar sein?

Mit solchen Zuständen kann man sich nicht mehr zufriedengeben. Wir sollten der Politik und den Verbänden nicht länger gestatten, uns mit der wohlklingenden, aber inhaltsleeren Chiffre "Soziale Marktwirtschaft" für dumm zu verkaufen. Die Politik trägt eine Verantwortung für die Gesellschaft, und dieser muss sie nachkommen. Die Faktenlage beweist eindeutig, dass der bisherige Kurs zu nichts anderem geführt hat als zu Verteilungsungerechtigkeit und finanzieller Instabilität.

Obszöne Konzentration der Einkommen

Wenn wir den Kapitalismus als prinzipiell beste Wirtschaftsform für eine pluralistische und demokratische Gesellschaft erhalten wollen, die sich dem christlichen Wertekanon weiterhin verpflichtet sieht, dann müssen wir unseren Kurs ändern. Die obszöne Konzentration der Einkommen und Vermögen und die Instabilität des Finanzwesens sind keineswegs auf den ungehemmten Einfluss des Staates zurückzuführen, den die Liberalen gern und schnell zum Universalschuldigen stempeln, sondern entpuppen sich bei genauerem Hinsehen als Konsequenzen einer Liberalisierungswelle, die unter Kohl ihren Anfang nahm und durch Schröders "Agenda"-Politik auf die Spitze getrieben wurde. Wer daher jetzt die Parole "Mehr Kapitalismus wagen" als neue politische Losung ausgibt, muss die Frage beantworten, wie er damit den negativen Trend umkehren will, der in den letzten Jahren zu beobachten ist.

Wie müsste eine Soziale Marktwirtschaft, die diesen Namen zu Recht trägt - sprich: verteilungsgerecht und finanziell stabil verläuft -, stattdessen aussehen? Oberste Priorität hätte die geordnete Abkehr von der einseitigen Fokussierung auf die Exportwirtschaft, dem beinahe krankhaften Bemühen um einen möglichst hohen Leistungsbilanzüberschuss, um erneut den wertlosen Titel "Exportweltmeister" einzuheimsen. Ein hoher Außenhandelsüberschuss bedeutet deutsche Gewinne auf Kosten des Auslands, die einseitige Abschöpfung dortiger Kaufkraft und damit automatisch Instabilität - wie wir sie gerade selbst mit voller Wucht zu spüren bekommen, weil sich die globalen Ungleichgewichte im Welthandel gewaltsam auflösen und uns der Export wegbricht.

Stärkung des Binnenmarktes

Keine Volkswirtschaft der Welt kann sich einem derart abrupten Wandel, wie er jetzt gerade über uns kommt, kurzfristig anpassen. Denn wer könnte die Exporteure retten und Opel, Daimler und Co. ihre Autos abkaufen, die sie im Ausland nicht mehr absetzen können - vom Strohfeuer staatlicher Abwrackprämien sei hier geschwiegen. Sollte es den Regierungen weltweit nicht gelingen, den gegenseitigen Ausgleich der Leistungsbilanzen kontrolliert zu gestalten, wird die Krise in Deutschland Spuren hinterlassen, von denen selbst die schlimmsten Pessimisten derzeit keine Vorstellung haben.

Vor diesem Hintergrund muss eine ernstgemeinte Politik der Sozialen Marktwirtschaft auf eine Stärkung des Binnenmarktes gerichtet sein, insbesondere auf Auf- und Ausbau von Beschäftigungsmöglichkeiten und daraus fließenden Einkommen. Markteintrittsbarrieren aller Art müssen abgeschafft werden, die Handwerkerordnung etwa und ein großer Teil des Gewerberechts. Das wären Maßnahmen, bei denen sich FDP und Union einmal auf sinnvolle Art und Weise um die Liberalisierung verdient machen könnten. Darüber hinaus muss der Staat in diesen Sektor selbst investieren und damit Beschäftigung schaffen, solange die Privaten dazu nicht willens oder in der Lage sind.

Die verteuerte Arbeit

Eine Soziale Marktwirtschaft, die sich wieder um den Wohlstand aller Bürger verdient machen will, wird zudem nicht umhinkommen, den Faktor Arbeit von der massiven Verbrauchsteuer zu befreien, die in Form sozialer Zusatzkosten auf ihm lastet und ihn grundlos verteuert. Die soziale Sicherung ist eine Aufgabe der gesamten Gesellschaft und liegt nicht in der Verantwortung der Beschäftigten allein. Sie sollte daher zur Gänze aus dem allgemeinen Steueraufkommen finanziert werden. Man stelle sich einmal vor, welch einen gigantischen Beschäftigungseffekt eine derartige Umfinanzierung nach sich ziehen könnte.

Selbstverständlich müsste im Gegenzug das Steuersystem in die Lage versetzt werden, die entsprechende Finanzierung auch zu leisten. Das dürfte machbar sein, sobald man sich vom liberalen Steuerwettlauf nach unten endgültig verabschiedet hat. Im internationalen Vergleich hat Deutschland ausreichend fiskalisches Potential, insbesondere bei der Einkommen-, Vermögen- und Erbschaftsteuer. Darüber hinaus wird es der weitere Verlauf der Krise erforderlich machen, dass Deutschland eine strengere fiskalische Linie gegenüber den europäischen Partnerländern durchsetzt. Bereits jetzt zeigt eine Reihe dieser Staaten deutlich mehr Begeisterung für ein finanzielles Zusammenrücken innerhalb der Europäischen Union als für Flat-Tax-Experimente und Niedrigststeuersätze.

Politik und Steuerzahler in Geiselhaft

Und natürlich kommt in einer solchen Sozialen Marktwirtschaft auch dem Finanz- und Kreditsektor eine völlig andere Rolle zu als bisher. Es ist inakzeptabel, dass unsere Bankkonzerne Größenordnungen erreichen, die im Insolvenzfall die gesamte Volkswirtschaft mit in die Tiefe reißen würden - und das auch noch mit Spekulationen und Kreditrisiken, die mit dem wirtschaftlichen Geschehen der deutschen Wirtschaft nicht das Geringste zu tun haben. Die staatliche Politik sowie die Gemeinschaft der Steuerzahler werden dadurch in Geiselhaft genommen.

Bin ich der Einzige, der das alles andere als normal findet? Die Folgerungen aus der gegenwärtigen Krise lassen deshalb nur eine Alternative zu: Entweder wird der Kreditsektor zur Gänze verstaatlicht, oder das bisherige System der Großbanken wird gesprengt und durch eine Vielzahl kleinerer Institute ersetzt, die jedes für sich keine Systemrelevanz mehr entfalten und daher auch ohne Gefahr für das System pleitegehen können. In einem weiterhin marktwirtschaftlich geprägten Umfeld wäre natürlich die zweite Alternative die deutlich sympathischere.

Bereits vor Ausbruch der Finanzkrise herrschten in Deutschland untragbare Zustände: Wir befanden uns nicht mehr auf dem Weg in eine Zweiklassengesellschaft, sondern bereits mittendrin. Außerdem ließen wir es zu, dass das Finanzsystem als Fundament unserer Wirtschaft ein bizarres Eigenleben entwickelte, in dessen Verlauf es sich praktisch selbst zerstörte. Die derzeitige Krise sollte daher als Katharsis aufgefasst werden, aus der eine neue Wirtschaftsordnung erwachsen wird, die in bester Erhardscher Tradition wieder auf Wohlstand für alle ausgerichtet ist. Wer hingegen die Soziale Marktwirtschaft zu einer hohlen Phrase degradiert, mit der auch künftig einem marktliberalen Kult gehuldigt werden soll, der versündigt sich nicht nur an Ludwig Erhard, sondern auch an der deutschen Gesellschaft. Und wer meint, eine Kursänderung im obigen Sinne wäre utopisch, der möge sich durch die Fernsehbilder davon überzeugen lassen, dass die Apologeten ganz anderer Utopien bereits wieder dabei sind, auf den Straßen ihre Truppen zu sammeln.


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Zukunft des Kapitalismus (2)

Modell Deutschland

Von Karen Horn

BILD: Er gab den Startschuss für die Marktwirtschaft: Ludwig Erhard, porträtiert von Bernhard Buffet

05. Mai 2009 "Diese Krise zählt zu den unvermeidbaren. Nicht der geringste Abstrich ist zulässig von den drei Hauptsätzen der einzig treffenden Diagnose: Es lebt sich gut am Vesuv. Leider bricht er gelegentlich aus. Aber niemand weiß, wann." So brachte kürzlich ein früheres Mitglied des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung den aktuellen Tatbestand auf den Punkt. Bezeichnenderweise kommen die "drei Hauptsätze" ohne die Worte "Kapitalismus", "Marktwirtschaft", "Wettbewerb" oder auch nur "System" aus. Der Vesuv, das sind wir Menschen selbst.

Was sich da als krisenanfällig erweist und gelegentlich ausbricht, das ist nämlich nicht irgendein System in all seiner Abstraktion. Der Vesuv, das ist mitnichten die freie Marktwirtschaft, wie man heute von Kritikern aller denkbaren Schattierungen immer wieder hören muss. Auch nicht der Kapitalismus, jenseits jeder klassenkämpferischen Terminologie schlicht und wohl verstanden als eine Wirtschaftsform, die zukunftsgerichtet durch Kapitalbildung, also Sparen und Investieren, auf Wohlstandsmehrung zielt - ein ökonomisches Miteinander, das sich in freiwilligen Austauschbeziehungen auf der Basis von Privateigentum an den Produktionsmitteln konkretisiert.

Neoliberalismus ist nicht einseitig

Der Vesuv, das ist noch nicht einmal die unhistorisch so bezeichnete "neoliberale Ideologie". Die wahre neoliberale Schule aus den dreißiger Jahren versteigt sich gerade nicht zur Heiligsprechung der individuellen Gier und der kollektiven Regellosigkeit. Sie entwirft einen Ordnungsrahmen, der die Grundwerte der Freiheit und Gerechtigkeit, der Verantwortung und Solidarität auch in der Wirtschaft harmonisch zu verbinden erlaubt. Neoliberalismus ist eben nicht einseitig - und deswegen auch nicht ideologisch. Ideologisch ist es, wenn beispielsweise Bischof Wolfgang Huber das Wort "Grundwerte" mit einem Bann belegt. Die Begründung: Der "Wert" als relativer, sich in der derzeitigen Krise selbst entäußernder ökonomistischer Begriff passe nicht zu dem Schönen, Wahren, Guten, das uns heilig sein sollte.

Wenn Ludwig Erhard, der noch weitgehend unumstritten verehrte politische Wegbereiter der Sozialen Marktwirtschaft, einst schrieb, "je freier die Wirtschaft, umso sozialer ist sie auch", dann machte ihn dies nicht zum verantwortungslosen Prediger eines "marktliberalen Kults". Wer für freie Märkte wirbt, meint schließlich nicht regellose Märkte. Wer für freie Märkte wirbt, will Märkte, die effizient funktionieren - auf dass die Erhardsche Formel vom "Wohlstand für alle" Wirklichkeit werde.

Zustimmung nur im Nachhinein

Der Erfolg hat der Sozialen Marktwirtschaft recht gegeben. Der materielle Aufschwung, den Deutschland in und seit den fünfziger Jahren erlebt hat, brachte auch breite Zustimmung zu diesem Wirtschaftssystem, das als deutscher Sonderweg in der Welt begriffen und gehegt wurde. Doch man täusche sich nicht - diese Zustimmung aufgrund der Nützlichkeit des Systems hat es stets nur im Nachhinein gegeben. Als Ludwig Erhard 1948 den Startschuss für die Marktwirtschaft gab, indem er die Preiskontrollen abschaffte, ritt er keineswegs auf einer Welle der allgemeinen Begeisterung, weder bei den Alliierten noch in den Parteien und der Bevölkerung. Als sich dann nicht nur die Regale füllten, sondern auch die Preise stiegen, eskalierte der öffentliche Protest, der in einem Generalstreik kulminierte.

Damit sich die deutsche Gesellschaft auch heute noch hinter der Sozialen Marktwirtschaft versammeln kann, braucht es folglich mehr als ein Nützlichkeitsargument. Es braucht eine philosophische Begründung. Entgegen dem kruden utilitaristischen Materialismus der Kapitalismuskritiker sind Märkte nämlich nicht nur Wohlstandsmaschinen. Sie sind als Plattform der Interaktion auch soziale Räume - Räume, in denen es wesentlich, wie in den anderen Sphären der Gesellschaft auch, um individuelle Würde, Selbstbestimmung und Freiheit geht, und darauf aufbauend um gegenseitig vorteilhafte Kooperation im Rahmen allgemeiner Regeln gerechten Verhaltens.

Ein Rahmen von universellen Regeln

Der Anspruch der Sozialen Marktwirtschaft im Geiste der Neoliberalen ist es, das generelle Streben nach persönlicher Freiheit von Zwang in der Sphäre des ökonomischen Austauschs in der Gesellschaft zu verwirklichen. Dazu braucht es, wie immer wieder betont worden ist, einen Rahmen von universellen Regeln.

Natürlich ist die Beobachtung korrekt, dass wir in der Marktwirtschaft Krisen erlebt haben, erleben und erleben werden. Es trifft auch zu, dass hier die Krisen häufiger vorkommen als in weniger freien Systemen. Doch selbst wenn hier Korrelation und Kausalität in eins fallen, so ist der Saldo doch immer noch positiv, wie es Wissenschaftler vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) vor einigen Jahren in einer gründlichen Studie nachgewiesen haben: Die dauerhaften Wohlstandsgewinne sind immer noch mit Abstand größer als die temporären Verluste im krisenhaften Kollaps.

Unabhängig von dieser materiellen Bilanz liegt in der Korrelation von Krise und Markt aber vor allem noch nicht die Antwort auf die eigentliche, systemische Schuldfrage. Die Wurzel des Übels liegt vielmehr woanders: in der Conditio humana. Und die ändert sich auch nicht mit einem anderen Wirtschaftssystem. Die Krisenanfälligkeit ist dem Menschsein an sich immanent. Denn unser menschliches Dasein ist geprägt von fundamentaler Unsicherheit und von regelmäßigen Interessenskonflikten.

Schwanengesang der Kapitalismuskritiker

Für Thomas Hobbes führt der Ausweg über einen Gesellschaftsvertrag, unter dem alle Bürger ihre natürlichen Rechte abtreten - an einen Staat mit unbegrenzter Herrschaftsgewalt. In einen ähnlichen Schwanengesang der bürgerlichen Kapitulation stimmen nun exakt 358 Jahre später die Kapitalismuskritiker mit dem Ruf nach einem massiv aufgerüsteten Primat der Politik mit ein.

Auch heute soll der Staat wieder nicht alles, aber doch manches besser wissen - nur woher derlei überlegenes Wissen kommen soll, ist nach wie vor unklar. "Die Politik hat eine Verantwortung für die Gesellschaft, und dieser muss sie nachkommen", postuliert Thomas Strobl (siehe auch Die Zukunft des Kapitalismus (1): Wohlstand für alle ). So adrett gewandet sich heute der Abschied von Eigenverantwortung und Privatsphäre, der Freibrief für staatliche Bevormundung, zu Ende gedacht letztlich die totalitäre Versuchung. Zwar wünscht sich niemand mehr einen absoluten Herrscher. An seine Stelle tritt deshalb eine zunehmend absolute Demokratie, die Herrschaft der Mehrheit über die Minderheit. Auf die Spitze getrieben, lässt diese uns diese Kollektivierung aber keine privaten Gärten mehr, die wir frei nach Voltaires Candide bebauen können.

Verkriechen wir uns in der Tonne

Anstelle des Individuums soll nach Strobl nun das Kollektiv entscheiden, was gerecht ist. Das Kollektiv soll bestimmen, wie groß Banken werden dürfen. Das Kollektiv soll sagen, in welchen Branchen Unternehmer ihr Glück versuchen dürfen - auf jeden Fall offenbar jedoch abseits der Exportwirtschaft, auf dass rasch die Leistungsbilanzüberschüsse abgebaut werden. Als ob es die Salden wären, die unsere Empfindlichkeit gegenüber abrupten Nachfrageeinbrüchen in der Weltwirtschaft ausmachen. Nein, diese ergibt sich per se aus der Verflechtung, das heißt, relevant sind nicht die Salden, sondern die Volumina des Handels. Nach der Stroblschen Logik tun wir es wohl am besten Diogenes gleich und verkriechen uns in der Tonne der Antiglobalisierung. Verweigern wir uns doch einfach komplett dem spontanen gesellschaftlichen Austausch. Denn wer sich der Verflechtung entzieht, kann unter ihr auch nicht leiden, so das Kalkül.

Das allerdings wäre höchst bedauerlich, wenn nicht verantwortungslos. Denn wer sich der Verflechtung entzieht, kann nicht nur nicht unter ihr leiden, sondern er kann auch nicht von ihr profitieren. Nicht nur aus dem materiellen Grund, dass uns Austausch, Arbeitsteilung und Verflechtung schon seit je unendlich viel mehr Wohlstand beschert haben als die Abkapselung. Nein, soziale Interaktion bedeutet nicht nur Koordination, sondern in der Koordination und durch die Koordination stets auch Lernen. Und dieses Lernen ist nicht planbar. Es ist "Ergebnis menschlichen Handelns, nicht menschlichen Entwurfs", wie es Adam Ferguson in seiner berühmten Formel ausgedrückt hat.

Nur im Kapitalismus kann es Selbstreinigung geben

Der Kapitalismus ist das einzige System, das sich aufgrund der idealerweise von externen Eingriffen unverzerrten, die individuellen Interessen abbildenden und koordinierenden Rückkopplungsprozesse immer wieder selbst korrigieren kann. Er ist das einzige System, das einen Mangel an Moral oder an Regeln nach gewisser Zeit anzeigt und uns dazu bringt, Moral oder Regeln neuerlich einzufordern. Nur in der Marktwirtschaft kann es solche Krisen überhaupt geben - und vor allem die damit verbundene Selbstreinigung und Innovation.

In der Gesellschaft fehlbarer und von fundamentaler Unsicherheit umgebener Menschen, die wir sind, schließt soziales Lernen auch auf der politischen Regelebene Ausprobieren, Gelingen, Scheitern, Hinterfragung, Korrektur und Selbstvergewisserung notwendig mit ein. So ist nun einmal das Leben am Vesuv. Wir können nur versuchen, mit stets verbesserten Regeln den jeweiligen Schaden zu vermindern. Entscheidend ist daher, dass jetzt auch die richtigen Lehren Eingang in die Politik finden. Dazu gehört es essentiell, den regelsetzenden Staat zu stärken.

Die Ergebnisse des Weltfinanzgipfels in London geben hier einigermaßen, wenn auch mit Einschränkungen, Anlass zur Hoffnung. Es scheint, die Lektion sei gelernt worden, dass politisches Handeln im Kern bedeuten muss, Spielregeln zu definieren. Das ist ein Fortschritt, den wir gar nicht hoch genug schätzen können. Wenn er von Dauer sein sollte, käme er einer kleinen kopernikanischen Wende im Selbstverständnis der Politik gleich. Dafür gilt es freilich noch den ad-hoc-interventionistischen Staat und den Abusus einzudämmen, dass die Spielzüge selbst auch von hoheitlicher Hand ausgeführt werden. Nur dann kann für die Zukunft verhindert werden, dass es wieder zu einer verheerend exzessiven Geldpolitik, zu einer verantwortungslos kurzfristig denkenden Fiskalpolitik und zu unterlassenen Aufsichtspflichten kommt.

Karen Horn leitet das Berliner Hauptstadtbüro des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln.


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Die Zukunft des Kapitalismus (3)

Wettbewerb ist ein Gebot der Nächstenliebe


BILD: Ein Grenzgänger: Michael Ungethüm

07. Mai 2009 Wir haben zu viel zu wissen gekriegt und fangen zu wenig damit an. Das Soziale an der Sozialen Marktwirtschaft ist keine Kompensation, keine Art Wiedergutmachung für das, was Markt und Marktwirtschaft angerichtet haben. Der Schriftsteller Martin Walser hat jemanden entdeckt, der den Kapitalismus der Zukunft lebt. Unsere Serie eröffneten am 30. April Thomas Strobl (Die Zukunft des Kapitalismus (1): Wohlstand für alle ) und Karen Horn (Zukunft des Kapitalismus (2): Modell Deutschland ).

"Der mit dem Geldgeschäft handelnde Kapitalismus hat sich unendlich blamiert": Martin Walser

Ich will nicht sagen, dass ich glücklich bin, aber dass ich ab und zu Glück habe, darf ich schon sagen. Gerade jetzt wieder. Die Welt dröhnt von miserablen Nachrichten, die Sprecherinnen und Sprecher im Fernsehen wollen einander überbieten in Katastrophenmimik. Nicht die von der ARD. Aber die anderen schon. Was der Finanzwelt jetzt gesagt werden muss, sagen sie mit grimmiger Freude oder, genauer: mit freudigem Bedauern. Mit einem Das-hab-ich-gewusst-Gesicht. Als sie an Weihnachten mitteilen mussten, dass die Leute trotz schlimmer Krise fröhlich und massenhaft kauflustig waren, haben sie das zwar berichtet, aber in einem Ton, der hieß: Die werden sich noch wundern, diese naiven Konsumenten.

Tatsächlich hat sich der mit dem Geldgeschäft handelnde Kapitalismus unendlich blamiert. Es war eine ansteckende Geistes- oder Charakterkrankheit, die aus Amerika herüberflorierte. Dass eine ganze Branche so ansteckbar war, bleibt beschämend. Das Kerngeschäft - solide Kredite für solide Projekte - wird zur Zeit übertönt von unglücksgeilen Kassandren. Und da treffe ich, lerne ich kennen Herrn Michael Ungethüm, Prof. Dr. Dr. Dr. h.c., und lerne lesen sein Buch "Verantwortung für das Ganze". Das ist ein Titel, dessen Gutgemeintheit mich nicht sofort erobert. Es sind Reden und Vorträge von 1989 bis 2009. Und ich erfahre: Michael Ungethüm hat den Vater im Krieg verloren, hat Schlosser gelernt, dann das Abendabitur gemacht, dann studiert, promoviert in Ingenieurswissenschaft, habilitiert als Ingenieur im Fach Medizin, vor ihm lag eine akademische Karriere, "die Sicherheit einer Beamtenstelle mit unschätzbarer Freiheit in Forschung und Lehre", aber er verlässt den "Elfenbeinturm der Wissenschaft".

Von München nach Tuttlingen

Wie er diese Grenzüberschreitung selbst schildert, hat mich für ihn eingenommen. Die "Nagelprobe für die richtige Erkenntnis" liegt "in deren praktischer Anwendbarkeit". Das führt ihn, als er sechzig ist, zu der radikalen Formulierung: "Eine Zunahme des theoretischen Wissens ist zunächst einmal völlig belanglos." Damit hat er mich natürlich an Kierkegaard erinnert: "Wir haben zu viel zu wissen gekriegt und fangen zu wenig damit an." Er ist also aus dem brillanten München ins schlichtere Tuttlingen gezogen, zur Firma Aesculap; jetzt ist er dreißig Jahre bei Aesculap und hat den Umsatz um mehr als das Zwanzigfache gesteigert.

Er hat zum Beispiel im Jahr 2001 eine Benchmark Factory eingeweiht, also eine Fabrik, deren Programm heißt Wettbewerbsfähigkeit plus Bestleistung. 1998 hat er auf einer Betriebsversammlung sein Benchmark-Projekt geschildert. Die Lage der Firma Aesculap: zwei Prozent Marktanteil an einem Orthopädie/Traumatologie-Weltmarktvolumen von zehn Milliarden DM. Ein Wettbewerber wurde gerade geschluckt von Hoffmann-La Roche; der amerikanische Branchengigant Johnson und Johnson baut in Irland schon mal eine Fabrik für jährlich sechzigtausend Hüftprothesenschäfte, in Tuttlingen driften Umsatzentwicklung und Mengenentwicklung drastisch auseinander, für denselben Umsatz müssen immer größere Mengen produziert und verkauft werden, Aesculap muss, um zu bestehen, die Benchmark-Fabrik bauen, entweder in Tuttlingen oder in England oder in Spanien.

Am Erfolg beteiligt

Er schlägt einen Standortsicherungsvertrag vor. Die Mitarbeiter arbeiten täglich vierundzwanzig Minuten mehr, und zwar unentgeltlich, werden dafür am Erfolg beteiligt. Aesculap bleibt im Arbeitgeberverband Südwestmetall, das heißt tarifgebunden. Und es gibt keine Kündigung ohne Zustimmung des Betriebsrats. Der Vertrag wird geschlossen, im Dezember 2005 verlängert, er läuft jetzt bis Ende 2010. Seit Beginn des Vertrags sind vierhundert Mitarbeiter unbefristet eingestellt worden, davon hundert Auszubildende. Berechnet war, dass die Erfolgsbeteiligung den Lohnverzicht auswiegen werde. Das ist mehr als eingetroffen.

Einer der Credo-Sätze in Michael Ungethüms Schriften: "Sozial ist, was Arbeit schafft." Man darf bemerken, dass er nicht sagt: "Arbeitsplätze". Vor dieser Verwaltungsstilistik bewahrt ihn offenbar sein Sprachgefühl.

Die Benchmark Factory läuft. Inzwischen werden mehr als hunderttausend Hüft- und Knieprothesen produziert. Man kann jetzt an den Glaskabinen entlanggehen und den Robotern zuschauen. Der eine fräst die Prothese, der nächste schleift sie, der nächste poliert sie, der nächste rauht sie auf, dann wird sie bei 20.000 Grad Hitze plasmabeschichtet, damit sie sich mit unserem Körper besser verbinde ... Jeder dieser Roboter rast, drückt äußerste Anstrengung und höchste Konzentration aus. Nach jedem Arbeitsvorgang schiebt er das Stück durch eine Spezialschleuse dem nächsten Kollegen zu. Man kann diesen Arbeitsfanatikern nicht zuschauen, ohne sich mit ihnen in einem Verständniszusammenhang zu fühlen. Man ist mit ihnen per Du. Dass die Kabinen aus Glas sind, zeigt ja schon, dass man ihnen zuschauen soll. Auf der anderen Seite des Gangs sitzen in größeren Glasgehäusen Menschen an Computern, sie leiten und lenken die stählernen Arbeitsfanatiker. Ganz am Ende des Gangs nimmt eine Frau aus der letzten Roboterkabine das fertige Produkt in Empfang und verpackt es richtig von Hand. Das nächste Mal muss ich noch fragen, ob die gelenkigen Stahlkerle immer so rasend arbeiten oder ob sie's auch langsamer könnten.

Ein Grenzgänger

Michael Ungethüm nennt sich in seinen Schriften des Öfteren einen Grenzgänger. Wissenschaftler-Ingenieur-Mediziner-Unternehmer. Er hat, gleich als er 1977 nach Tuttlingen kam, den ersten Simulator konstruiert, in dem einem Hüft-Prototyp alles abverlangt wird, was er später in unserem Körper leisten muss. Das ist der Typ "Ungethüm I". In Ungethüms Buch "Technologische und biomechanische Aspekte der Hüft- und Kniealloarthroplastik" gibt es eine Passage, in der der Medizin-Ingenieur und der Unternehmer zugleich zu Wort kommen: "Einleuchtend ist auch, je perfekter die Oberfläche in Geometrie und Finish ist, umso höher werden die Kosten für die Teile. Wilson und Scales fordern, dass die Qualität ein Kompromiss zwischen einem theoretisch gewünschten, einem ökonomisch vertretbaren und klinisch zufriedenstellenden Wert darstellen sollte. Der Autor vorliegender Arbeit ist jedoch der Ansicht, dass der höchstmögliche technische Standard erreicht werden sollte, um Reibung, Verschleiß und die Gefahr der Auslockerung auf ein Minimum zu verringern." Wenn man Reibung, Verschleiß und Auslockerung in Patientenleid übersetzt, weiß man diese unternehmerische Entscheidung für das Höchstmögliche zu schätzen. Aber es hat sich ja auch wirtschaftlich bewährt. All it takes to operate, mit dieser zugriffssicheren Formel hat sich Aesculap globalisiert.

Ethik, Unternehmensethik, Wettbewerb und Ethik, das sind seine Themen. Und er ist da kein bisschen anspruchsloser als im Technologischen: "Das Unternehmen als Wertegemeinschaft". Auch da, gebe ich zu, war ich nicht gleich dabei. Wenn es in der Sprache Allergien gäbe, litte ich zweifellos unter einer Ethikallergie. Von Aristoteles bis Brecht hat Ungethüm hilfreiche Zitatenschätze. Wenn er vor der Fabrik eine Stahlplastik von Erich Hauser einweiht, sagt er diesem titellos steil und schön in den Himmel zeigenden Stahlwerk Eigenschaften nach, die seine Erlebnisfähigkeit und sein Ausdrucksvermögen gleichermaßen beweisen. Dass Erich Hauser, dem er "exzentrischen Geist" und "unbeirrbare Energie" nachsagt, dass der in diesem Betrieb als Lehrling gelernt hat, mit Stahl umzugehen, ist mehr als eine Anekdote. Aber dass ein erfolgreicher Unternehmer auch die Ästhetik pflegt, ist wenigstens zurzeit nicht so wichtig wie sein Verhältnis zur Ethik beziehungsweise zum Markt, zum Wettbewerb.

Die tüchtige Seele

Wie wirkt heute, was er in den letzten zwanzig Jahren über Wirtschaft und Ethik, über Geschäft und Ethik gesagt hat? Typisch für ihn ist, dass er, wenn er darüber spricht, nicht über die Beweggründe anderer spekulieren will, er beschreibt, wie es ihm persönlich geht, wenn er jeden Tag wirtschaftlich handeln muss. Wir folgen ihm, wenn er beschreibt, dass durch extreme Spezialisierung und Arbeitsteilung ein "Sinnverlust" drohe. Und entdeckt bei Aristoteles einen Satz, den er brauchen, das heißt anwenden kann. Dass nämlich nicht das Glücklichsein, nicht das Erfolgreichsein das Ziel der Arbeit sei, sondern - und das ist das Zitat: "ein Tätigsein der Seele gemäß ihrer wesenhaften Tüchtigkeit". Und sagt: "Ins Heutige übertragen, lässt sich sagen, dass der Wunsch nach Selbstverwirklichung über das Tun, durch die Arbeit, das stärkste Bedürfnis eines jeden von uns ist." Und ist sofort unternehmerisch praktisch: "Jemand, der das Gefühl hat, sich am Arbeitsplatz verwirklichen zu können, bewegt und leistet ungleich mehr als ein Mitarbeiter, der das Gefühl hat, seine Selbstverwirklichung beginne erst am Feierabend."

Da höre ich schon den Linken sagen: Aha, nur weil einer mehr leistet, weil er mehr Profit bringt, soll er sich am Arbeitsplatz selbst verwirklichen! Es wird den linken Denker hoffentlich nicht irritieren, wenn er dann liest, dass das der Fall ist. Es soll der Firma nutzen. Aber ebendadurch auch dem, der da arbeitet. Wenn das zum Betriebsklima wird, sagt er, gibt es nicht mehr Gewinner und Verlierer. Wenn ein Leitender glaube, sich mit Härte und Kontrolle durchsetzen zu müssen, dürfe er sich nicht wundern, wenn Härte und Kontrolle alle Ebenen des Unternehmens beherrschen. Ein Ausdruck, der Michael Ungethüms Daseinsstimmung verrät, lautet "soziale Zärtlichkeit". Dass es sich aber nicht um eine idealistische Melodie handelt, beweist er in den Sätzen über die Soziale Marktwirtschaft. Zuerst einmal: Die Ethik des Wettbewerbs ist "kein ideologisches Problem, sondern ein zutiefst theoretisches Problem". Die Rechtfertigungen des Wettbewerbs, die sich auf das Tierreich beziehen, schiebt er genauso schnell beiseite wie die, die den Wettbewerb als ein System der Freiheit verteidigen. Sozial ist, was Arbeit schafft. Und geht zurück auf Ludwig Erhards Formel: Wettbewerb schafft Wohlstand für alle.

Sozial ist, was Arbeit schafft

Aber diese Liberalismusformel erfüllt er mit wirklicher Erfahrung und Gedanken, die einfach kühn sind. Da muss man, bevor man sich einmischt, zuerst einmal folgen. Er fragt: Was ist an einer Sozialen Marktwirtschaft, die zu Entlassungen und Insolvenzen führt, noch sozial? Das Verfehlte ist, sagt er, wenn man das Soziale an der Sozialen Marktwirtschaft als eine Kompensation sieht, eine Art Wiedergutmachung für das, was Markt und Marktwirtschaft angerichtet haben. Sozial ist, was Arbeit schafft. Das heißt: Sozialpolitik nicht als Konsum, sondern als Investition in ein besseres Funktionieren von Markt und Wettbewerb. Es geht nicht um die Kosten der Sozialleistungen, sondern um die Rendite, also um die Kosten im Verhältnis zum Ertrag. Es kommt nicht auf die Motive der wirtschaftspolitisch Handelnden an, sondern auf die Wirkung des Wettbewerbssystems für die Menschen. Auf die wohltätigen Wirkungen des Wettbewerbs.

Die aber werden erst hervorgebracht durch eine geeignete Wirtschaftsordnung. Eine, die den Namen sittlich verdient. Und da hat er mich doch an Kant erinnert, von dem ich den Satz im Kopf habe, dass die Verfassung die beste sei, die auch noch eine Gesellschaft von Teufeln zwänge, einander Gutes zu tun. Bei Ungethüm heißt das: Die wohltätige Wirkung des Wettbewerbs wird durch eine geeignete Wirtschaftsordnung erst hervorgebracht. Das ist es doch, die einander nützlich sein könnenden Interessen, die der Firma und die der in ihr Arbeitenden, so organisieren, dass sie einander wirklich nützlich sind - das hat Michael Ungethüm nicht nur durchschaut und formuliert, sondern in der Firma Aesculap verwirklicht. Er hat seine Vision sozialpolitisch stringent, spürbar erfahrungsgesättigt und nachdenkbar und nachvollziehbar so formuliert: "Wenn die Bedeutung der komplimentären Interessen transparent gemacht wird, gibt es lauter Gewinner." Deshalb sieht er, wenn er seine Erfahrung zur Vision werden lässt, den "Wettbewerb als institutionalisierte Form des Gebots der Nächstenliebe".

Da muss ich an den Ökonomen denken, bei dem ich am liebsten lerne: Herbert Giersch. In seinem Buch "Abschied von der Nationalökonomie" - es ist mehr als ein Buch, es ist ein Werk - steht der Satz: "Durch Globalisierung rückt im Bereich der Moral die Fernstenliebe in die Nähe der Nächstenliebe." Der große Theoretiker und der große Praktiker in schönster Übereinstimmung.

Vielleicht verdient, was uns so angeboten wird, unsere Aufmerksamkeit.

Martin Walser, geboren 1927, veröffentlichte zuletzt den Roman "Ein liebender Mann".


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Zukunft des Kapitalismus (4)

Die Firma ist eine Zumutung

Von Dirk Baecker

BILD: Im Kern des Kapitalismus steckt der Buchhalter: Szene aus Billy Wilders "Das Apartment" mit Jack Lemmon

11. Mai 2009 Der Kapitalismus ist jenes Wirtschaftssystem, das Eigentümer auffordert, sich als Schuldner in eigener Sache zu betrachten. Sollte jemand auf die Idee kommen, Güter oder Dienstleistungen zu produzieren, die man mit Aussicht auf Gewinn abzusetzen erwartet, muss das dazu aufgewendete Vermögen als ein Kredit betrachtet werden, den man bei sich selbst aufnimmt und an sich selbst auch wieder zurückzuzahlen hat. Sollte der Gewinn aus dem Absatz der eigenen Produktion geringer sein, als andere mit demselben Vermögen und besseren Ideen erzielen können, liegt es in der Natur der Sache, sein Vermögen diesen anderen zur Verfügung zu stellen, sie damit wirtschaften zu lassen und sich aus dem höheren Gewinn den Kredit bezahlen zu lassen.

Mit anderen Worten, der Kapitalismus ist eine Zumutung. Er ist eine intellektuelle Zumutung, denn wer steigt nicht bereits nach diesen wenigen Sätzen aus und hört auf mitzurechnen, weil die sachliche, zeitliche und soziale Komplexität sich als Überforderung darstellt? Es geht um eine riskante Produktion, eine Überbrückung von Gegenwart und Zukunft und eine Vernetzung zwischen Kreditgebern und Kreditnehmern, die so viele Variablen enthält, dass unklar ist, ob die Gleichung aufgehen kann. Er ist eine praktische Zumutung, denn er verlangt vom Eigentümer, sein Kapital auch dann wie ein Fremdkapital zu behandeln, wenn es sein Eigenkapital ist.

Mit Hilfe eines Instruments, das auf den schönen Namen der Berechnung von Opportunitätskosten hört, soll ein Eigentümer laufend prüfen, ob ihm nicht durch die Eigenverwendung seines Vermögens Gelegenheiten (Opportunitäten) entgehen, andernorts höhere Gewinne zu erzielen. Nicht zuletzt ist der Kapitalismus genau deswegen auch eine gesellschaftliche Zumutung, denn er setzt den wirtschaftlichen Vergleich der Gelegenheiten an die Stelle der Würdigung der Sache selbst, ihrer Geschichte und ihrer Einbettung in soziale Praktiken aller Art. Er setzt die Sorge an die Stelle der Schönheit, wie Goethe in seinem unter dem Titel "Faust II" bekannten Lehrbuch der Ökonomie formuliert.

Buchführung als Kulturleistung

Der Sachverhalt wird dadurch nicht angenehmer, dass sich der Kapitalismus in jahrhundertelangen Auseinandersetzungen nicht nur der Güter und Dienstleistungen, sondern auch des Bodens, der Arbeit, der Information und des menschlichen Körpers angenommen hat. Es gibt weltweit nicht wenige Menschen, die sich fragen müssen, ob sie nicht eine ihrer beiden Nieren profitabler einsetzen können, wenn sie sie verkaufen, als wenn sie sie behalten, vom angeblich ältesten Gewerbe der Welt hier zu schweigen. Nicht erst der Protestantismus hat uns gelehrt, Zeit als Geld zu betrachten und nie aus dem Auge zu verlieren, wo und wie die eigene Arbeitskraft mit der größten Aussicht nicht nur auf Gewinn jetzt, sondern auch auf Gewinn morgen, das heißt auf einen sicheren Arbeitsplatz, eine mögliche Karriere und schließlich auf einigermaßen gute Karten beim Jüngsten Gericht, eingesetzt werden kann.

Werner Sombart vertrat deshalb die These, ohne die Einführung einer doppelten Buchführung hätte sich der Kapitalismus niemals so entwickeln können, wie wir ihn kennen. Dennoch wird die doppelte Buchführung, vormals eine Geheimlehre, erstmals veröffentlicht im Jahr 1494 von Luca Pacioli, einem Franziskanermönch, Mathematikprofessor und Freund Leonardo da Vincis, bis heute immer noch nicht zureichend als eine der großen Kulturleistungen der Menschheit gewürdigt. Immerhin nennt Oswald Spengler Pacioli in einem Atemzug mit Kopernikus und Kolumbus. Seine Lehre der doppelten Buchführung sei "eine reine Analyse des Wertraums", bezogen auf ein Koordinatensystem, dessen Anfangspunkt "die Firma ist", so liest man in "Der Untergang des Abendlandes". Und Sombart erinnert daran, dass auch "die Firma" nichts anderes als die institutionelle Verselbständigung des Rechts und der Pflicht ist, mit einer Unterschrift (ital. firmare: unterschreiben) für seine Absichten und Handlungen geradezustehen.

Deshalb, so Sombart in seinem Hauptwerk "Der moderne Kapitalismus", wird das kapitalistische Unternehmen in verschiedenen europäischen Sprachen zugleich Firma, Ditta und Ratio genannt: Es gibt einen Unternehmer, der mit seiner Unterschrift dafür bürgt, sein Eigenkapital wie ein Fremdkapital und sein Fremdkapital wie ein Eigenkapital zu behandeln. Dieser Unternehmer kann nur deshalb, weil er mit seiner Unterschrift hierfür bürgt, kreditwürdig genannt ("ditta") werden. Und die Voraussetzung für beides ist die Ratio, der Bruch zwischen Fremd- und Eigenkapital und daran anschließend der vernünftige, weil berechnende Umgang mit Mitteln und Zwecken.

Zum Tyrannischsein verdammt

Im Rahmen unserer Frage nach der Zukunft des Kapitalismus ist es entscheidend, diese Kulturleistung der doppelten Buchführung korrekt einzuschätzen. Einfach ist das nicht, denn jahrhundertelang galt die Regel, dass man sich vielleicht mit Verrückten unterhalten kann, unter Umständen sogar mit Ingenieuren, aber mit Sicherheit nicht mit Buchhaltern. Ihre Sprache galt als vollkommen unverständlich. Ihre Fähigkeit, eine einzige Zahlung zugleich auf der Habenseite und auf der Sollseite einer Unternehmensrechnung zu verbuchen, war den Leuten unheimlich. Wie kann man eine Schuld zugleich als ein Vermögen, ein Vermögen zugleich als eine Schuld betrachten?

Was also ist der Kapitalismus, ein Virus der Kostenrechnung und Gewinnorientierung, das man auch wieder loswerden kann, oder eine Institution der menschlichen Gesellschaft und ihrer Wirtschaft, die man durch Rahmung und Einbettung zähmen, aber nicht abschaffen kann? Xenophon verdanken wir einen der frühesten Texte zur Ökonomie überhaupt, sieht man von den Rechenlegungen babylonischer und ägyptischer Palastwirtschaften ab, nämlich den sokratischen Dialog Oekonomikos, in dem sich Sokrates von dem Edelmann Isomachos erzählen lässt, wie man ein Haus gut führt. Wie man weiß, gehört dieser Dialog zu den bei den Römern beliebtesten Texten der alten Griechen überhaupt, und dies nicht nur deswegen, weil eine der Antworten auf die gestellte Frage lautet, der Herr des Hauses müsse sich bemühen, seine junge Frau zu lehren, ihre Pflichten gegenüber ihm, ihren Kindern, dem Gesinde und den Haustieren zu erfüllen, während er sich um die Geschäfte außerhalb des Hauses kümmert.

Tugend der Selbstbeherrschung

Aber wichtiger ist der Ausklang des Dialogs. Das Gespräch mit Isomachos endet mit der Einsicht in die Tugend der Sophrosyne, der Selbstbeherrschung. Nur wer das Geheimnis dieser Tugend beherrsche, herrsche über Subjekte, die sich freiwillig unterwerfen. Wer es jedoch nicht beherrsche, der sei dazu verdammt, tyrannisch über Subjekte zu herrschen, die sich nicht freiwillig unterwerfen, und das sei ein Schicksal, schlimmer als das des Tantalos im Hades. Was ist das Geheimnis der Tugend der Selbstbeherrschung?

Max Weber hat es am Ende seines Lebens bei der Formulierung des soziologischen Grundbegriffs des "Wirtschaftens" entdeckt und offenbar für so wichtig gehalten, dass er drauf und dran war, seine ganze Soziologie umzuschreiben. Webers Faszination für möglichst präzise Definitionen hatte ihn auf die richtige Spur gebracht. Wirtschaften, so definiert er, sei "die friedliche Ausübung von Verfügungsgewalt". Schrieb's und, so muss man sich das wohl vorstellen, erschrak. Denn wie kann man Gewalt friedlich ausüben? Dass er die Verfügungsgewalt nicht bloß als rechtlichen Terminus technicus nahm, zeigen die ausführlichen Erläuterungen, mit denen er das "pragma der Gewalt", das sich seinem Blick so plötzlich aufdrängte, sowohl wieder loszuwerden versuchte als auch ernst zu nehmen begann.

Aber genau das ist der Kapitalismus, ein durch Gewalt erzwungener Verzicht auf sofortige Bedürfnisbefriedigung, um die dadurch gewonnene Zeit und die dadurch gewonnenen Ressourcen derart zur Produktion zu nutzen, dass der Verzicht aus den Früchten, die er bringt, entschädigt werden kann und diese Entschädigung schließlich zur intrinsischen Motivation werden kann, zur Grundlage der Sophrosyne. Dazu jedoch muss man rechnen, mit der Sache, mit der Zeit und mit den Mitmenschen. Und zu nichts anderem fordert das Kapital uns auf. Dass auf die gewalttätige Ausübung der Gewalt dann schließlich verzichtet werden kann, heißt nicht, wie jedem Kritiker auffällt und wofür jeder Buchhalter eine Kostenstelle bereithält, dass sie nicht friedlich nach wie vor ausgeübt wird.

Dirk Baecker lehrt Kulturtheorie und Kulturanalyse an der Zeppelin-Universität in Friedrichshafen am Bodensee. Zuletzt publizierte er das Buch "Kapitalismus als Religion" im Verlag Kadmos.


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Die Zukunft des Kapitalismus (5)

Die nächste Blase schwillt schon an

Von Gunnar Heinsohn

22. Mai 2009 Wie war das möglich? Japans Zentralbanker stellten 2002 geschockt fest: Von acht Yen, die man den Geschäftsbanken geliehen hatte, kam nur ein einziger bei den Unternehmen an! Ihre geldpolitischen Maßnahmen verpufften offenbar wirkungslos: Läppische 0,5 Prozent Zins verlangten sie für ihre Kredite an die Geschäftsbanken, seit sieben Jahren bereits, aus der damaligen Perspektive ein kühnes Unterfangen - dennoch ohne Erfolg! Und selbst als sie später noch mal nachlegten, den Zins noch tiefer, auf 0,1 Prozent und damit real unter null drückten: keine nennenswerte Wirkung!

Stattdessen liehen sich die japanischen Firmen - wie paradox! - Geld bei Kredithaien, im großen Stil, die ihnen dafür mit 20 Prozent Zinsen rund zweihundertmal so viel abknöpften, wie die BoJ den Geschäftsbanken verrechnete. Ähnliches Bild wenige Jahre später in den Vereinigten Staaten: Als die Federal Reserve den Zins von 6,25 Prozent auf 0,75 Prozent senkt und dort volle drei Jahre hindurch belässt, sind auch hier am Ende die Ergebnisse ernüchternd: Von vier Dollar, die bis 2007 in das Bankensystem gepumpt werden, führt lediglich ein einziger zu einer Steigerung des Bruttoinlandsprodukts. Was war da los? Woran lag diese sonderbare Schwäche, in den Vereinigten Staaten wie auch zuvor schon in Japan?

Alles sei Tausch

BILD: In der Krise reicht es nicht, wenn die Zentralbank, hier die japanische, den Zins senkt.

Diese Frage blieb unbeantwortet: Trotz brillanter Nobelpreisträger und Tausender Fachprofessoren gab es niemanden, der die Zentralbanker über das Wesen von Zins und Geld ins Bild setzen hätte können. Stattdessen hielt man unbeirrt an einer Fiktion fest, an die sich die Nationalökonomie bereits seit ihren frühen Anfängen klammert und die überhaupt nichts erklärt: Die Fiktion einer auf "Tausch" beruhenden Wirtschaft.

In dieser wird die Bedeutung von Unternehmen reduziert auf eine Art "Teilelager", die aus ihren Beständen etwas Nützliches für die Bedürfnisbefriedigung zusammensetzen wollen, dafür jeweils passende und unpassende Teile bei sich vorfinden und diese daher so lange hin und her tauschen, bis alle Teile die optimale Verwendung gefunden hätten. Und weil diese Tauscherei ein kompliziertes Geschäft ist, hat sich eines der Teile im Markt allmählich zum Standardgut "Geld" entwickelt, was das Tauschen kolossal erleichterte, weil unterschiedliche Werte unterschiedlicher Teile jetzt nur noch in diesem einen Teil ausgedrückt wurden.

Auf das Eigentum kommt es an

Der ganze Prozess wäre gleichsam das Wesen der Ökonomie, behauptet diese Fiktion, weshalb man sie am besten "Marktwirtschaft" nennen sollte. Und es geht noch weiter: Auch Kredit wäre nichts weiter als Tauschen, nämlich über einen längeren Zeitraum hinweg, dergestalt, dass das verliehene Gut erst nach Verstreichen einer gewissen Frist, beispielsweise zwölf Monate, zum Verleiher zurückkehrt; nehmen wir also beispielhalber mal an, bei dem Tausch ginge es um eine Kuh, dann müsste der Verleiher zwölf Monate lang auf deren Milch verzichten, und für diesen Konsumverzicht müsste er entschädigt werden, und diese Entschädigung wäre der Ursprung für den modernen Kreditzins. Sagt die Tauschtheorie. Und das ist falsch. Und weil uns diese Einsicht fehlt, stehen wir Krisen wie der aktuell ablaufenden auch so perplex und hilflos gegenüber.

Tatsächlich ist nämlich alles ganz anders: Geld und Kredit haben mit dem physischen Besitz von Sachen nicht das Geringste zu tun, sie resultieren auch nicht aus realen Tauschvorgängen. Es ist das Eigentum an ihnen, auf das es ankommt, ein nichtphysisches Merkmal also, das man weder sehen noch anfassen kann, ein reines Rechtskonstrukt: aus ihm werden Geld und Kredit geschöpft. Der strengen Unterscheidung zwischen Eigentum und Besitz, in der bisherigen Ökonomie sträflich vernachlässigt, kommt beim Verständnis von Krisen die alles entscheidende Bedeutung zu. Wenn eine Bank einem Kunden Kredit gewährt und damit gleichzeitig neues Geld an ihn emittiert, als Schuldschein gegen ihr Eigentum (wie dies früher häufige Praxis war), dann verliert sie physisch überhaupt nichts, auch nicht zeitweilig. Aber: Ihr Eigenkapital kann sie bis zur vollen Höhe natürlich nur einmal belasten, das heißt: für die Kreditvergabe beziehungsweise die Geldemission als Sicherheit nutzen.

An die wertmäßige Erhaltung dieser Sicherheit ist sie fortan gebunden, sie kann also nicht mehr unbeschränkt darüber verfügen. Dieser Verlust an Freiheit ist es, über sein Eigentum uneingeschränkt verfügen zu können, der mit Zins ausgeglichen werden muss; ein lediglich immaterieller Verlust, durch den die Eigentumsgesellschaft aber ihren Perpetuum-mobile-Charakter gewinnt: Ständig wird etwas Immaterielles aufgegeben, um im Gegenzug eine konkrete Zinszusage zu empfangen. Das Leistungsversprechen, das hinter dieser Zinszusage steckt, verhilft dem Kapitalismus zu seiner historisch beispiellosen Dynamik.

Geld als vergütetes Eingriffsrecht

Geld im modernen Sinne entsteht somit als Eingriffsrecht in das Eigenkapital einer Notenbank, was sie sich mit Zins vergüten lässt. Der Zins ist deshalb nicht der Preis für Geld, über dessen Verbilligung die Zentralbanken den marktwirtschaftlichen Kreislauf wieder in Gang setzen könnten; er ist auch nicht der Preis für den Kredit selbst, denn sonst müssten ja Kredite immer an denjenigen Schuldner gehen, der den höchsten Zins bietet, was aber ja keineswegs der Fall ist. Im Gegenteil: Kredit geht vorzugsweise an den Schuldner, der die besten Sicherheiten stellen kann, und der zahlt dann sogar einen niedrigeren Zins als allgemein üblich.

Die Bank vermutet bei ihm ein besonders geringes Ausfallrisiko, und falls dieses doch schlagend wird, kann sie sich aus einem erstklassigen Pfand bedienen. Diese Sicherheit erhöht die Bereitschaft der Bank, ihr Eigenkapital in der Kreditvergabe und damit uno actu der Geldemission zu riskieren, was sich in einer geringeren Zinsforderung niederschlägt.

Kein Geld ohne Pfand

Im Umkehrschluss gilt: Wer kein verpfändbares Eigentum als Sicherheit stellen kann, der kann auch 100 Prozent und mehr an Zins bieten: er wird trotzdem keinen Kredit bekommen. Und würde ihm - etwa direkt von der Zentralbank - ein Nullzins angeboten, käme er mangels Pfand trotzdem nicht an das Geld: Da Banknoten eine Forderung gegen das Eigenkapital der Zentralbank verkörpern, wäre es kaufmännisch unverantwortlich, diese ohne Hereinnahme entsprechender Pfänder zu emittieren. Aus genau diesem Grund schlichen damals die japanischen Weltfirmen auch zu den Kredithaien: Die verzichteten nämlich auf Pfänder, forderten dafür aber auch 20 Prozent Zins.

Solange die japanischen Superexporteure ihre Waren in die ganze Welt verkaufen und damit riesige Cashflows generieren konnten, war das ein gutes Geschäft, denn selbst Wucherzinsen konnten da relativ komfortabel bedient werden. Aktuell liegen die Dinge aber anders: weil überall auf der Welt Konsumflaute herrscht und infolgedessen die Cashflows der japanischen Exporteure einbrechen, sind derartige Kreditkonditionen nicht mehr zu verdienen. Und das liegt just an den radikalen Zinssenkungen, mit denen die liebenswerten Zentralbanker doch eigentlich nur Hilfe bringen wollten.

Eine Art Zaunwirtschaft

Stellen wir also fest: Unternehmen sind keine Teilelager, sondern Vermögensmassen, die ihre Eigentumsseite gegen Preisverfall und Vollstreckung verteidigen müssen. Das tun sie durch Innovationen, für deren Umsetzung sie Geld in Anlagen und Löhne investieren müssen. Geld, für dessen Erlangung sie Kredite bei Geschäftsbanken aufnehmen, indem sie ihr Eigentum verpfänden und sich darüber hinaus zur Leistung von Zins verpflichten müssen. Ihre Schuldsumme inklusive Zinsen liegt daher immer höher als die im Kredit selbst erhaltene Geldsumme. Wenn sie dieses Mehr am Markt realisieren können, werden ihre Pfänder wieder ausgelöst und damit frei für eine neuerliche Verschuldung und die Fortsetzung des Wirtschaftens. Gelingt es ihnen aber nicht, wird vollstreckt, und sie hören auf, als Unternehmen zu existieren.

Die treffendere Bezeichnung für unser Wirtschaftssystem wäre daher auch "Eigentumswirtschaft"; in anderen Systemen, wie Stammesgemeinschaften und Adelsherrschaften, wird zwar auch produziert und konsumiert, aber in obigem Sinne nicht "gewirtschaftet". Bildlich kann man sich den Besitz als Acker vorstellen und das Eigentum als den Zaun drum herum: Allen Wirtschaftssystemen gemeinsam ist, dass in die Erde eingesät und abgeerntet, sprich: produziert wird. Gewirtschaftet aber wird allein mit dem Zaun, dessen Belastung und Verpfändung für Verschuldungszwecke einen späteren Verkauf der Ernte auf dem Markt erst ermöglicht beziehungsweise in den im Falle des Scheiterns vollstreckt wird; damit werden jene immateriellen Eigentumsoperationen hervorgebracht, die permanente Innovationen bei der Dienstbarmachung der Ackerkrume erzwingen.

Verschuldung als Verteidigung

Unternehmen verschulden sich mithin also zur Verteidigung ihres Eigentums und nicht wegen eines geringen Zinses, wie dies in Ökonomenkreisen noch immer geglaubt wird. Und schon gar nicht verschulden sie sich ein weiteres Mal, nur weil irgendwo die Zinsen gesenkt wurden. Wenn das Unternehmen einen Wert von beispielsweise einer Milliarde hat und 100 Millionen für die Aufrechterhaltung dieses Werts investieren muss, dann hält ein jährlicher Zins von - sagen wir - 5 statt 3 Millionen die Verschuldung nicht auf. Die 2 Millionen mehr an Zins sind zwar ärgerlich, bleiben aber im Verhältnis zur verteidigten Milliarde von untergeordneter Bedeutung.

Bereits jede gewöhnliche "Standardkrise" gefährdet Firmen. Wer nicht investiert, reduziert den Wert seines Eigentums und beeinträchtigt dadurch seine Kreditfähigkeit; zehn Fabriken zur Herstellung von mechanischen Schreibmaschinen fallen nach Erfindung des Schreibcomputers im Preis auf null, wenn sie nicht umgehend nachziehen. Und das müssen sie alle, obwohl sie natürlich ganz klar sehen, dass es dadurch zu Überkapazitäten kommen wird: Sie haben also nur die Wahl, durch Nichtstun sofort von der Bildfläche zu verschwinden oder durch rechtzeitige Investitionen vielleicht zu den verbliebenen acht von ursprünglich zehn Firmen zu gehören, die ihre neuen Waren am Markt auch verkaufen können, dadurch wirtschaftlich überleben und durch Tilgung ihrer Bankschulden ihr verpfändetes Eigentum wieder auslösen können. Der brancheninterne Mini-Crash lässt zwei von den ursprünglich zehn Firmen bankrottgehen, weil alle zehn im Kampf ums Überleben ihre Preise senken und damit die Schuldentilgung für alle erschweren.

Krisenfaktoren

In großen Crashs aber, nach Innovationssprüngen auf dem Gebiet des Transports, der Kommunikation oder der Materialien, die alle Branchen umsetzen müssen - wie im Jahr 2000 nach dem Internet-Boom -, führt der Abbau der unvermeidlichen Überkapazitäten zu einem allgemeinen Einbruch von Unternehmenswerten wie auch Eigenkapitalpositionen; bestehende Kreditverpflichtungen werden dadurch über Nacht plötzlich unterbesichert. Eine Kreditsicherheit zum ursprünglichen Preis von einer Million für einen Kredit über eine Million mag so also auf 500.000 oder gar nur 250.000 geschrumpft sein. Derartige Kredite werden in den Büchern der Banken nicht nur faul ("toxisch"), sondern gleichzeitig haben die betroffenen Unternehmen für frische Kredite auch keine Pfandmasse mehr. Und ihren Gläubigern bleibt nichts anderes übrig, als die Unterbesicherung aus dem Eigenkapital abzuschreiben und damit den Wert ihres eigenen Eigentums zu verkürzen.

An diesem Prozess vermag keine Bank und erst recht keine Zentralbank auch nur irgendetwas zu ändern, denn beide können den untergehenden Firmen nicht das geben, was sie einzig und alleine retten würde: Sie können ihnen keine zusätzlichen Kreditsicherheiten übertragen und darüber hinaus natürlich auch keine konkurrenzfähige Erfindung verraten, mittels deren sie sich im Wettbewerb gegen ihre Konkurrenten durchzusetzen vermögen. Nur diese beiden Faktoren sind entscheidend! Der Zins hingegen ist für die Unternehmen kaum relevant.

Banken als unverhältnismäßige Größen

Bei den Geschäftsbanken hingegen verhält sich die Sache anders: Was machen die mit den 80 bis 90 Prozent der Zentralbankkredite, die bei den Firmen mangels verfügbarer Kreditsicherheiten trotz Nullzins nicht ankommen? Sie kaufen sämtliche Anlageklassen mit Renditen über null auf - von Rohstoffen über Immobilien bis hin zu Kunstwerken, Staatsanleihen, Firmenaktien oder -anleihen, Hypotheken von pfandlosen Schuldnern oder gleich ganze Konkurrenzbanken. Sie tun das nicht aus Gier, sondern weil sie selbst vom Wertverlust oder vom Verkauf bedroht wären, würden sie auf Fünf-Prozent-Geld beharren, während andere mit den Nullzinsangeboten der Zentralbank profitable Investments tätigen. "Man muss tanzen, solange die Musik spielt", verteidigte sich Citigroup-Chef Charles Prince deshalb auch durchaus zu Recht.

Das Nullzinsgeld der Zentralbanken wird also nicht in die erhöhte Effektivität oder die Produktionsausweitung von Firmen investiert, sondern lediglich in steigende Preise aller Anlageklassen. Als nunmehr im Preis gestiegene Positionen werden sie als Kreditsicherheiten für die nächste Nullzinsmilliarde bei der Zentralbank verpfändet: Im Ergebnis halten daher 2007 die amerikanischen Banken, die weder produzieren und auch nur fünf Prozent der Erwerbstätigen bei sich beschäftigen, vierzig Prozent aller Schulden in den Vereinigten Staaten - während es 1980 noch "normale" zehn Prozent waren - und vereinigen gar die Hälfte aller Gewinne auf sich; die erwachsen ihnen vorrangig aus Wertsteigerungen.

Die Kreditsicherheit muss gestärkt werden

Wenn beim Rennen um die Renditen das höchste Preisniveau erreicht ist, auf dem kein Ertrag oberhalb des Nullzinses mehr erzielbar ist, platzt die Blase. Ein Öl-Future, für den man sich 1,5 Millionen so ungemein günstig geliehen hatte, fällt schlagartig auf 0,5 Millionen: Um die ausstehende Million aufzubringen, wird panisch quer durch alle Anlagen verkauft, wobei im Preis auch das stürzen muss, was eigentlich unverändert solide geführt wird und als "Realwirtschaft" gedanklich abgeschirmt verstanden wird, obwohl es selbstverständlich auch nur über Schulden gedeihen kann. Die Zinsnullung, die ebendiesen guten Unternehmen der Realwirtschaft Geld zuführen sollte, hat sie wegen der im Crash erlittenen Wertverluste bei den Kreditsicherheiten noch wesentlich stärker in ihrer Fähigkeit beeinträchtigt, Geld zu leihen. Die liebenswert-naiven Firmenhelfer in den Zentralbanken werden zu wahren Monstern der Unternehmenszerstörung.

Hätte man nach dem Fiasko früherer Nullzinspolitik wenigstens das System zu durchschauen versucht, wäre das Übel womöglich geringer. Stattdessen wird aber am ökonomischen Leib gerade eine Notoperation durchgeführt, bevor wir zutreffende Kenntnis von dessen Anatomie besitzen. Unser Verständnis derselbigen wie auch eine darauf aufbauende geld- und fiskalpolitische Agenda müssen beim Mangel an unternehmerischen Kreditsicherheiten ansetzen.

Gunnar Heinsohn lehrt Sozialwissenschaft an der Universität Bremen.

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Die Zukunft des Kapitalismus (6)

Der Schaden der anderen

Von Paul Kirchhof


BILD: Prämien und staatlich kreditfinanziertes Wachstum gehören abgewrackt: Paul Kirchhof

29. Mai 2009 Unser Denken ist verwirrt. Wer ein gebrauchsfähiges Auto entgegen seiner Planung vorzeitig abwrackt, erhält eine Prämie. Wer sich bereit findet, keine Steuererklärung abzugeben und deshalb entgegen dem Gesetz besteuert zu werden, soll einen Bonus von 300 Euro empfangen. Wir spannen für die einen, die sich im Wirtschaftswettbewerb nicht bewährt haben, einen Rettungsschirm, lassen aber die anderen, die an dieser Fehlentwicklung nicht beteiligt sind, im Regen stehen. Wir lagern gifthaltige, toxische Papiere in einer "Bad Bank" aus, erhöhen damit das Vermögen der Bank und vermindern das der Steuerzahler.

Diese Aktionen sollen bald wieder ein Wirtschaftswachstum fast um jeden Preis erreichen. Selbst wenn Produktivität und Nachfrage nachlassen, weil wir weniger Kinder, damit weniger Nachfrager, Unternehmer, Erfinder und Firmengründer haben werden, wenn der Finanzmarkt deutlich mehr Werte handelt, als tatsächlich vorhanden sind, wenn der Automobilmarkt mehr Autos produziert, als benötigt werden - selbst dann gestatten wir uns keine Phase der Beruhigung, der Neuorientierung in Bescheidenheit, sondern suchen künstlich und auf Kredit das Wachstum in Schwung zu bringen. Diese Scheinprosperität durch Verschuldung lässt sich organisieren, solange deren Lasten anonym bleiben und noch nicht spürbar sind. Wir stehen vor der Aufgabe, unser Wirtschaftssystem in die verantwortliche Freiheit jedes Unternehmers, Finanziers und Nachfragers zurückzuführen. Der Weg zu diesem anspruchsvollen Ziel wird allerdings oft durch vordergründige Stichworte versperrt. Mancher nennt unsere wirtschaftliche Realität Kapitalismus und erklärt diesen eilig für beendet. Doch dürften wir uns mit einer Phase des Postkapitalismus nicht zufriedengeben, wenn damit die Zeit nach persönlicher Freiheit und persönlicher Verantwortlichkeit beginnen würde.

Droge Konjunkturprogramm

Freiheit ist das Recht jedes Menschen, seine eigenen Angelegenheiten im Rahmen verlässlichen Rechts selbst zu bestimmen. Sie berechtigt als Menschenrecht jeden Menschen, sieht also die einzelne Person in der Verantwortlichkeit für das wirtschaftliche Geschehen. Selbstverständlich können auch die Kapitalgesellschaften die Eigentümerfreiheit, die Berufsfreiheit und die Vereinigungsfreiheit wahrnehmen, müssen dann aber in gleicher Weise wie die Menschen ihr Handeln verantworten und für Fehler haften.

Bisher allerdings haben manche Banken ihre Umsätze erzielt, fast ohne Eigenkapital zu haben und mit diesem zu haften. Zweckgesellschaften haben zweifelhafte Kreditforderungen gebündelt, verbrieft, zerstückelt und unter neuem, wohlklingendem Namen weiterverkauft, ohne dass Verkäufer und Käufer den Wert dieser Papiere ermessen konnten. Anleger leihen sich Aktien und spekulieren auf fallende Kurse oder suchen aus Währungsverlusten ihre Vorteile zu ziehen, erzielen gelegentlich sogar Profit dadurch, dass sie Unternehmen zerstören und sodann Unternehmensteile ertragreich veräußern.

Diese Umkehrung des Erfolgsprinzips der Wirtschaftsfreiheit veranlasst die Frage, ob die Freiheitsrechte die Instrumente dazu bieten, um die Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen, wirtschaftliche Prosperität zu fördern, Wohlstand für alle zu sichern. Markt und Wettbewerb verlieren ihre innere Rechtfertigung, wenn die Gegenwartsprofite langfristig in den Verlust führen. Wirtschaft und Staat rufen nach Konjunkturprogrammen - eine Droge, die gegenwärtig Gewinn und höheres Steueraufkommen verheißt, aber langfristig die Staatsschulden erhöht und alle Beteiligten schädigt.

Die Kurzfristigkeit von Quartalsberichten

Doch die Wurzeln unserer Denkkrise liegen tiefer. Die Bereitschaft zum Verlust meint immer den Verlust des anderen: des Spekulationsobjekts, der fremden Währung, des Zerschlagungsgegenstands, des Steuerstaats. Die Freiheit wird genutzt, um andere zu schädigen. Eine Fremdschädigung aber ist niemals durch ein Freiheitsrecht gerechtfertigt. Das Grundprinzip dieses "Marktes" ist die Unwissenheit. Wer sein Geld in einem Fonds anlegt, überlässt dem Fondsmanager die Entscheidung, das Geld dort zu plazieren, wo die größte Rendite zu erwarten ist. Ob aber mit diesem Geld Weizen oder Waffen finanziert werden, interessiert den Anleger nicht. Er will es nicht wissen. Die Eigentümermacht des Anlegers ist getrennt von der Eigentümerverantwortlichkeit für das, was mit seinem Kapital geschieht. Doch wenn wir Eigentümerrechte systematisch von Eigentümerverantwortlichkeiten sondern, wird die Garantie des Privateigentums auf Dauer keinen Bestand haben.

Das Risiko der strukturellen Nichtverantwortlichkeit ist das Kernproblem unseres Krisenszenarios. Die Eigentumsgarantie meint idealtypisch den Verantwortungseigentümer, den Unternehmer, der mit seinem Namen und seinem Vermögen für die Qualität seiner Leistung einsteht. Der Unternehmer schaut täglich seinem Kunden ins Auge und weiß deswegen, was der Kunde, der Markt von ihm erwartet; er rechtfertigt seinen wirtschaftlichen Erfolg aus seiner Leistung, die den Bedarf des Nachfragers erkundet und befriedigt. Eigentümerfreiheit ist rechtliche, definierte - begrenzte - Freiheit. Diese verantwortliche Freiheit verliert sich in der Anonymität eines nicht mehr überschaubaren Marktes, wenn bei Publikumsgesellschaften der Kapitalgeber auf ein eher formales Recht der Dividende und Wertbeteiligung beschränkt ist, der Ankeraktionär dem von einem zum anderen Unternehmen wechselnden Anleger weicht, der Unternehmensvorstand sich eher durch Banken, Bonusberechtigte und übernahmebereite Konkurrenten in die Pflicht genommen sieht. Bonussysteme verleiten dazu, nach Kennzahlen und nicht nach nachhaltigen Werten zu streben, sie führen zu Netzwerken, die Leistung untergraben. Der Rhythmus unternehmerischen Entscheidens wird durch die Kurzfristigkeit von Quartalsberichten, weniger durch langfristige Pflege der Unternehmensentwicklung bestimmt.

Die "schöpferischen Zerstörung" wird gegenstandslos

Wir stehen heute kaum vor dem Problem der Sozialisierung, bei dem sich der Staat der Privatwirtschaft bemächtigt, sondern wir begegnen der Gefahr der Kollektivierung, in der die Wirtschaftsakteure ihre Verantwortlichkeiten kaum noch kennen und ihre "Finanzprodukte" kaum mehr verstehen. Selbstverständlich brauchen wir die Kapitalgesellschaften, die Großprojekte der Telekommunikation, der Automobilproduktion, der Finanzversorgung organisieren und finanzieren können. Doch diese Kapitalgesellschaften brauchen Strukturen, die persönliche Verantwortlichkeit stärken. Je anonymer und je abstrakter das Eigentum und seine Berechtigten werden, desto mehr schwindet die innere Rechtfertigung des Privateigentums.

Auch die Krise des Finanzmarktes beruht wesentlich auf einer Erwerbsstruktur, bei der die Beteiligten für ihr Produkt und ihre Schuldner kaum noch verantwortlich sind. Herkömmlich leiht der Bankier bei dem Sparer einen Betrag für drei Prozent, überlässt diesen Betrag dem Investor für sechs Prozent, stimmt die Laufzeiten beider Verträge aufeinander ab und beobachtet die Bonität seines Schuldners. Heute hingegen gewährt er Kredit und verkauft die Forderung an eine Zweckgesellschaft.

Damit realisiert er seine Forderung, verliert das Interesse an der Bonität des Kreditnehmers, entzieht sich also der Verantwortlichkeit für den von ihm ausgewählten Schuldner. Die Zweckgesellschaft verbrieft derartige Forderungen in einem Wertpapier, das sie wiederum an Investoren und Banken verkauft oder auch bei der Zentralbank als Pfand hinterlegt. Die so gewonnenen Gelder werden wieder zur Kreditvergabe eingesetzt, wieder werden die Forderungen verbrieft, wieder verdienen Banken, Finanzberater, Bewerter, Versicherer und Rückversicherer. In diesen Finanzkonstrukten verliert der Finanzier den Bezug zu tatsächlicher Produktivität und Dienstleistung, begegnet auch kaum noch Schuldnern und Gläubigern, tauscht Geld gegen Geld. Die Risiken dieser Geschäfte sind so groß, dass ein Finanzinstitut sie allein nicht tragen kann. Sie werden deshalb in gemeinsamen Gesellschaften verteilt und so vernetzt, dass ein einzelnes Unternehmen von einer bestimmten Größe nicht mehr aus dem Markt ausscheiden kann, seine Geschäfte und Kunden kaum von dem besseren Konkurrenten übernommen werden, vielmehr eine Schwäche im Netz alle Vernetzten in den Niedergang zieht. Das harte, aber richtige Wort der "schöpferischen Zerstörung" wird durch kartellähnliche Strukturen gegenstandslos. Die Krise eines einzelnen Instituts weitet sich zur allgemeinen Finanzkrise, aus der nur noch der Zugriff auf den Staatshaushalt zu helfen scheint.

Verantwortlichkeit heißt Haftung

Damit sind die Entscheidungsträger der Demokratie gefordert. Das demokratische Prinzip baut auf die individuelle Freiheit jedes Bürgers, der mit seinem Stimmrecht auf die Entscheidungen des Staates Einfluss nehmen soll. Die Demokratie weiß, dass Herrschaft Widerstand, auch Aufstand provozieren kann, sucht deshalb die gegenläufigen Interessen parlamentarisch und in Wahlen in ständigem Gespräch zu halten, gibt der Minderheit von heute die Chance, die Mehrheit von morgen zu sein, sucht in der Offenheit der Debatte die gegenläufigen Interessen schonend miteinander auszugleichen.

Auch dieser demokratische Ausgleich setzt voraus, dass freiheitliches Wirtschaften selbst, im eigenen Vermögen, verantwortet und nicht zur Gemeinlast wird, die dann durch die Allgemeinheit der Steuerzahler zu finanzieren wäre. Verantwortlichkeit heißt im Wirtschaftsleben vor allem Haftung. Das persönliche Risiko des individuellen Fehlers sichert die Qualität der Leistung. Wer haftet, handelt vorsichtig. Wer zu Lasten anderer spielen und wetten kann, wird risikobereit, wagemutig, tollkühn. Deswegen müssen wir die Frage stellen, ob die Verbriefung von Forderungen in Zweckgesellschaften tatsächlich denjenigen entlasten darf, der den Schuldner ausgesucht und deswegen die Bonität dieses Schuldners zu verantworten hat.

Daneben wird zu Recht geprüft, ob ein Institut, das Anlagen empfiehlt, mit einer Eigenbeteiligung selbst Teile des Risikos der Empfehlung tragen soll. Universalbanken könnten so untergliedert werden, dass die systemischen Risiken von Spiel und Wette nicht auch die Sparer gefährden, die für Sicherheit eine geringere Rendite in Kauf nehmen. Soweit die Kreditinstitute den Steuerstaat als Sanierungshelfer in Anspruch nehmen, sollten vertragliche Absprachen getroffen werden, die alle begünstigten Unternehmer verpflichten, nach der erfolgreichen Sanierung an der Sanierung des hochverschuldeten Staates, über die Steuerpflicht hinaus, mitzuwirken.

Die Gefahr staatlich verbilligten Geldes

Sodann müssen die Ersichtlichkeit und Verständlichkeit des Marktes neu organisiert werden. Der Fondsanleger sollte durch seine Unterschrift die Verantwortlichkeit für die Art des Wirtschaftens übernehmen, durch die er Rendite erzielen will. Finanzprodukte, die nur aus Unwissenheit erworben werden, sollten vom Markt verschwinden. Spiel und Wette, die Unwissenheit zur Voraussetzung haben, sollten allenfalls für einen gesonderten Markt eröffnet werden, dessen rechtlichen Rahmen ein Staat zu setzen hat, der grundsätzlich den Spieltrieb des Menschen einzudämmen sucht und dazu verfassungsrechtlich verpflichtet ist. Schließlich muss die Selbstverständlichkeit, dass hohe Renditen in der Regel hohe Risiken voraussetzen, durch eine Haftung auch für Unbestimmtheiten und Unklarheiten bei Empfehlungen und Werbungen bewusstgemacht werden, die deutlich über eine herkömmliche Prospekthaftung hinausgeht.

Die privatwirtschaftlich tätigen Finanzinstitute handeln strikt nach dem Prinzip der Risikoabsicherung. Sie vergeben den Kredit nicht schon, wenn sie das Geld billig erhalten und teuer überlassen können, sondern fragen nach den Sicherheiten, die der Kreditnehmer bieten kann. Deshalb genügt es nicht, dass der Staat den Finanzinstituten staatliche Gelder zuweist. Gleichermaßen wesentlich ist, dass die kreditsuchenden Unternehmen hinreichende Sicherheiten bieten können. Wenn eine Bank Gelder empfängt, ohne für einen Kredit genügende Sicherheit zu erwarten, wird sie Grundstücke, Staatsanleihen, Beteiligungen oder Unternehmen erwerben. Die Verbilligung des Geldes lässt die Preise für Anlagegüter steigen. Gewinne erwachsen mehr aus dieser Wertsteigerung, weniger aus realer Produktivität. Sie sammeln sich bei Finanzinstitutionen, schwächen Produktion und Handel. Staatlich verbilligtes Geld und staatliche Geldzuweisungen gefährden Unternehmen.

Zum lauteren Wettbewerb zurückkehren

Ein Kernproblem unserer Finanzkrise liegt in dem Versuch, wirtschaftliche Ausgangstatbestände, Prognosen und Renditeerwartungen allein in Zahlen auszudrücken. Von Steuerbilanzen wissen wir, dass die Zahl nur Zählbares zum Ausdruck bringen kann, die Zukunft und zukünftiges Wollen und Entscheiden des Menschen aber nicht zählbar sind. Der Mensch sucht mehr Sicherheit, als Menschen bieten können. Das gilt für den Wetterbericht, die Wirtschaftsprognosen und die Bewertungen durch Ratingagenturen. Müssten wir heute erstmals ein Wirtschaftssystem entwickeln, würden wir eine Arbeitsteilung vereinbaren, Güter tauschen, sparen und investieren, das Freiheitsinstrument des Geldes entwickeln, Kredite gewähren, Banken und Unternehmen gründen.

Ein Wirtschaftssystem, das Erfolg und allgemeine Prosperität von der individuellen Erwerbsfreiheit erwartet und deswegen auf Markt und Wettbewerb setzt, ist ohne Alternative. Nicht Freiheit und Wettbewerb müssen in Frage gestellt werden. Vielmehr ist die Freiheit auch im Wettbewerb so zu reorganisieren, dass sie stets rechtliche, verantwortliche Freiheit bleibt. Wir geben die Erfahrungen von Adam Smith, Immanuel Kant und Ludwig Erhard weiter, die den Wettbewerb dem Unternehmer anvertrauen, der die Bedürfnisse des Kunden erkennt und angemessen befriedigt, damit er Wohlstand für alle schafft. Wir haben eine gute Chance, die gegenwärtige Krise zu bewältigen; doch nicht, indem wir die Krise finanzieren und damit verstetigen, sondern indem wir zur verantwortlichen Freiheit, zum lauteren Wettbewerb, zu einem Markt mit persönlicher Haftung zurückkehren. Nicht Freiheit und Wettbewerb, sondern Prämien, Finanzanreize und staatlich kreditfinanziertes Wachstum gehören abgewrackt.

Paul Kirchhof lehrt Öffentliches Recht, Verfassungsrecht, Finanz- und Steuerrecht an der Universität Heidelberg.


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Die Zukunft des Kapitalismus (7)

2015 - das Jahr der finalen Krise

Meinhard Miegel

03. Juni 2009 Wachstum hebt den Wohlstand nicht. Wir müssen auf das Niveau unserer wirklichen Leistungsfähigkeit zurücksinken, sonst droht die nächste Krise - dann wackeln nicht nur Banken und Unternehmen, sondern ganze Staaten.

Alle reden von der Krise, Sie nicht.

Weil der Begriff Krise negativ besetzt ist. Ich aber sehe in der gegenwärtigen Entwicklung viel Positives. Hinter uns liegt eine Phase, in der sich viele verhalten haben wie Drogensüchtige. Jetzt haben wir die Chance, aus dem Sumpf herauszukommen.

Was war denn die Droge?

Wachstum, Wachstum um jeden Preis. Und da echtes, solides Wachstum vielen nicht reichte, wurden riesige Schaumberge geschlagen. Jetzt platzen die Bläschen, und der Berg fällt wieder in sich zusammen. Aber keine Angst, das bringt uns nicht ins Armenhaus. Wir werden nur auf das Niveau gebracht, das unserer eigentlichen Leistungskraft entspricht.

Seit wann besteht denn diese Sucht?

Seit langem. Aber richtig beängstigend wurde sie Ende der siebziger Jahre. Die Börsenkurse sind ein Indiz dafür: Jahrzehntelang verliefen sie ganz ruhig, dann aber fingen sie an, fiebrig und schließlich irrsinnig zu werden. Was in den vergangenen zehn Jahren geschehen ist, hat mit solidem Wirtschaften nichts mehr zu tun

Und jetzt?

Jetzt wird mit enormen Steuermitteln der nächste Schaumberg geschlagen. Was da getrieben wird, ist doch nicht mehr normal. Wir sollten uns als Gesellschaft, vielleicht sogar als Menschheit eingestehen: Wir haben uns übernommen. Die Versorgungs- und Entsorgungskapazitäten der Erde reichen nicht aus, um einer vorerst weiter explodierenden Weltbevölkerung den angestrebten Lebensstandard zu ermöglichen. Wir sind hier Opfer einer Ideologie immerwährender wirtschaftlicher Wachstumsmöglichkeiten.

Jetzt klingen Sie wie Franz Alt in den achtziger Jahren.

Das kann ich nicht beurteilen. Ich weiß jedoch, dass ich mich seit damals dagegen gewehrt habe, mit zum Teil höchst problematischen Mitteln Wachstum anzukurbeln. Damals wie heute hieß es über das politische Spektrum hinweg: Wachstum, Wachstum. Dieser Wachstumswahn ist jetzt mit der Wirklichkeit kollidiert.

Aber alle sehen doch Erholung und grüne Sprossen

Aber zu welchem Preis? Allein die großen Länder haben für Kredite, Bürgschaften, Rettungsschirme und was weiß ich etwa sieben Billionen Dollar Steuergelder in Aussicht gestellt. Diese Mittel sind doch gar nicht vorhanden. In der ersten Krise dieses Jahrzehnts wackelten Unternehmen. In dieser Krise wackeln Unternehmen und Banken. Und in der nächsten, die jetzt vorbereitet wird, werden Unternehmen, Banken und Staaten wackeln. Dann kann nur noch der liebe Gott Rettungsschirme aufspannen.

Diejenigen, die diese Konzepte entwickeln, wirken aber ganz normal.

Ideologen wirken meistens ganz normal. Schauen Sie, über lange Zeit glaubten Menschen, sie könnten sich von ihren Sünden freikaufen. Da legte dann die brave Bauersfrau Münze auf Münze, um durch einen Ablassbrief ihren verstorbenen Mann aus dem Fegefeuer zu holen. Das war auch so eine Ideologie. Aber alle Beteiligten wirkten durchaus normal.

Wie würden Sie die Ideologie beschreiben?

"Ohne Wachstum ist alles nichts" - so nachzulesen in einem jüngeren Grundsatzpapier der CDU. Das muss man sich einmal vorstellen. Das ganze Wohl und Wehe der Gesellschaft wird hier an etwas gehängt, was niemand gewährleisten kann: Erwerbsarbeit, soziale Sicherheit, ausgeglichene öffentliche Haushalte, selbst die Demokratie. Nichts funktioniert ohne Wachstum. Ein wirklich tollkühnes Konzept.

Dann ist die Krise für Sie ein heilsamer Schock?

Eine überfällige Enttäuschung. Hinter uns liegt eine Phase des Rausches. Was dringend gebraucht wird, ist Bodenhaftung. Wie manche Unternehmen, Banken und Staaten gewirtschaftet haben, konnte nicht gutgehen. Sie mussten in den Schuldenbergen steckenbleiben, die sie seit Jahren vor sich herschieben. Die künstliche Aufschäumung der Geldmenge sprengt jedes Vorstellungsvermögen. In den zurückliegenden dreißig Jahren hat sich die globale Geldmenge schätzungsweise vervierzigfacht, die Gütermenge aber nur vervierfacht. Wohin mit dem gigantischen Geldüberhang?

Viele sehen aber in der Krise ein Gerechtigkeitsproblem: Wenige haben einige Jahre sehr gut verdient, nun müssen alle Schulden aufnehmen.

Das ist auch ein Problem, obwohl die Zusammenhänge oft arg verkürzt dargestellt werden. Denn verloren haben ja zunächst einmal die Vermögensbesitzer, die zugleich in aller Regel weit überproportional die Steuerlasten zu stemmen haben. Aber wie gesagt: Ein Problem bleibt.

Das Wachstum der letzten Dekaden hat für Sie aber auch eine andere Qualität als das Wachstum in den ersten Jahrzehnten der Republik?

Ja, es ist kaum noch wohlstandsmehrend. Erkrankungen, kaputte Familien, Autounfälle, Unwetter - das alles fördert das Wachstum, hebt aber nicht den Wohlstand. Und genau das ist die Art von Wachstum, die seit geraumer Zeit dominiert. Überall muss repariert werden: mehr Kranke, unterstützungsbedürftige Kinder und so weiter. Was heute Wohlstandsmehrung genannt wird, ist zunehmend nur der Versuch, Schäden zu beseitigen, die bei einem solideren Wachstum überhaupt nicht aufgetreten wären.

Wollen Sie darauf hinaus, dass Geld nicht glücklich macht?

Bis zu einem bestimmten Punkt macht es schon glücklich. Menschen, die Not leiden, werden deutlich glücklicher, wenn diese gelindert oder sogar überwunden wird. Doch es ist ein Irrglaube anzunehmen, dass immer mehr Geld immer glücklicher mache. Die materiellen Bedürfnisse von Menschen sind endlich und lassen sich durchaus befriedigen. Was dann kommt, sind Ansehen, Macht und dergleichen. Da wird es schon schwieriger. Übrigens hat Ludwig Erhard das genau erkannt, als er in den Sechzigern erklärte, die materielle Wohlstandsmehrung dürfe nicht mehr im Vordergrund stehen.

Die Grünen predigen das seit je.

Teils, teils. Es gibt auch unter ihnen ziemliche Wachstumsfetischisten.

Aber was kommt nach dieser Ideologie, was kommt nach dem Geld?

Da hat unsere Gesellschaft unglücklicherweise nicht viel zu bieten! Fragt man, was macht dich zufriedener, ein Auto oder die Fähigkeit, eine Fremdsprache zu sprechen, dann sagen die meisten: die Fremdsprache. Das gilt auch im Vergleich: große Wohnung oder Fähigkeit, ein Instrument zu spielen. Das Instrument macht zufriedener. Doch aufgrund unserer Ideologie verschaffen derartige Fähigkeiten weit weniger gesellschaftliches Ansehen als große Wohnungen oder dicke Autos. Und das ist die Crux. Menschen haben ein natürliches Bedürfnis nach Ansehen, nach Anerkennung. Lässt sich das eher durch Materielles erlangen, dann streben sie eben danach und setzen so einen Teufelskreis in Gang.

Das könnte sich doch durch die Krise wieder ändern?

Das wäre schön. Aber wenn ich die mitunter geradezu hysterischen Reaktionen auf den wirtschaftlichen Rückgang sehe, bin ich wenig hoffnungsfroh. Was ist eigentlich so schlimm daran, wenn das Wirtschaftsvolumen in Deutschland auf das Niveau von 2005 zurückgeht? Das waren doch wirklich keine Elendszeiten. Nein, unsere Gesellschaft ist dermaßen auf Wachstum getrimmt, dass selbst bescheidene Rückschritte als Katastrophe empfunden werden. Ich fürchte, viele sind nicht mehr krisentauglich.

Und doch wollen fast alle Verantwortlichen möglichst schnell weitermachen wie vorher.

Ebendeshalb. Sie wollen nicht die herrschende Ideologie aufgeben, was ja auch schwer ist. Da haben sie jahrzehntelang Wachstum gepredigt und sollen nun erklären, sollte es ausbleiben, wäre das auch nicht weiter schlimm. Ich komme zurück auf den Ablasshändler. Der soll eines Tages der Bäuerin sagen, behalte dein Geld. Für deinen verstorbenen Mann macht es keinen Unterschied, ob du meinen Brief kaufst oder nicht. So etwas erfordert sehr viel Charakter.

Das könnte folglich die Stunde der Kultur sein.

Unbedingt. Zurzeit sind wir eine völlig durchmonetarisierte, auf Wachstum fokussierte Gesellschaft. Alles andere ist dem untergeordnet. Zum Teil hat das beinahe manische Züge angenommen, zum Beispiel wenn die Familienministerin sinngemäß erklärt, eine nachhaltige Familienpolitik stärke das wirtschaftliche Wachstum und steigere die dringend benötigten Renditen. Oder wenn die Bedeutung des Sports nach dessen Beitrag zum Bruttoinlandsprodukt bewertet wird. Ähnliches lässt sich für Bildung und Kunst sagen. Immer wieder heißt es: Was bringen sie für die Mehrung unseres materiellen Wohlstands? Irgendwie ist es wie im Mittelalter. Nur dass damals alles im Dienste der Theologie stand. Jetzt steht es im Dienste des Wachstums.

Sehen Sie denn Länder, in denen diese Ideologie weniger ausgeprägt ist?

Es gibt allenfalls graduelle Unterschiede. Selbst das sozialistische Lager war ja wachstumsbesessen. In ihrem zentralen Glücks- und Heilsversprechen unterscheiden sich Kapitalismus und Sozialismus kaum: der Schaffung von Reichen materiellen Überflusses. Die Tragik des Sozialismus war, dass er bei der Einlösung dieses Versprechens kläglich versagte. Der Kapitalismus war ungleich erfolgreicher, stößt aber jetzt ebenfalls an Grenzen.

Wie geht es weiter?

Die Schnitzel auf den Tellern werden kleiner. Vielleicht genießen wir sie aber nicht zuletzt deshalb umso mehr. Die allermeisten können doch auf vieles verzichten, ohne es auch nur zu bemerken. Da muss dann eben einmal eine Modesaison oder eine Handygeneration übersprungen werden. Was macht das schon?

Wie wollen Sie denn Ihre Botschaft vom Ende der Wachstumsideologie unter die Leute bringen?

Das besorgt die Wirklichkeit. Sie hat den Menschen mittlerweile vermittelt: Wie bisher geht es nicht weiter.

Vielleicht rührt daher die Angst, gegenwärtig.

Nicht Angst, aber Unsicherheit. Zu wissen, wie bisher geht es nicht weiter, ist das eine. Aber wie soll, wie wird es weitergehen? Das ist das andere. Und auf diese Frage haben alle Parteien im Kern wieder nur die Antwort: durch Wachstum. Das ist nicht genug. So viel Ideenarmut verunsichert.

Nun werden ja erst einmal die Arbeitslosenzahlen steigen.

Leider. Weil wir immer noch nicht gelernt haben, eine befriedigende Beschäftigungslage auch unter Bedingungen wirtschaftlichen Stillstands oder wirtschaftlicher Schrumpfung zu gewährleisten. Wie soll das eigentlich weitergehen? Brauchen wir auch noch während der nächsten hundert Jahre zwei Prozent Wachstum zur Aufrechterhaltung der Beschäftigung? Dann müsste in nicht so ferner Zukunft das Siebenfache des Heutigen erwirtschaftet werden. Das kann doch nicht Grundlage einer nachhaltigen Politik sein. Das sind doch Hirngespinste.

Können Sie denn ein Beispiel für den von Ihnen avisierten Wandel im Lebensstil nennen?

Ein Beispiel sind unsere Städte. Sie sind getrimmt auf Produktion, Konsum und Transport. Das alles ist wichtig, aber nicht annähernd genug. Eine Stadt muss in erster Linie Lebensraum sein, ein Raum, in dem sich Menschen wohl fühlen, sich entfalten, miteinander kommunizieren. Eine Stadt muss öffentliche Räume bieten, in denen sich Menschen gerne aufhalten. Alle schwärmen von den oberitalienischen Städten. So etwas gab es bei uns auch einmal. Es wurde ersetzt durch Einkaufsstraßen und Shopping-Malls.

So dass, wer sich nichts kaufen kann und nicht arbeitet, auch aus der Gemeinschaft ausgegrenzt wird.

Das ist weithin die schlimme Wirklichkeit. Die Qualität einer Gesellschaft bemisst sich nicht zuletzt an ihrer Fähigkeit, zwischen individueller Wertschätzung und wirtschaftlichem Status zu unterscheiden. Das eine sollte nicht vom anderen abhängen. In früheren Zeiten war man da schon einmal weiter. Kirchen und Kathedralen, der einst größte Luxus, standen allen offen, Fürsten und Bettelleuten. Heute wird ständig gewogen und vermessen, und wehe dem, der für zu leicht befunden wird. Im Sport treibt das die absonderlichsten Blüten: eine hundertstel Sekunde zu langsam - und alles ist aus.

Vom Doping ganz zu schweigen.

Die ganze Gesellschaft ist gedopt. Sie hat längst ihr inneres Gleichgewicht verloren, die Balance zwischen innerem und äußerem Reichtum. Viele vermögen mit "innerem Reichtum" gar nichts mehr anzufangen. Dabei macht er den Menschen erst zum Menschen. Kaninchen und Kühe haben ihn nicht.

Das wissen wir nicht genau.

Gut, jedenfalls halte ich es für unwahrscheinlich. Ganz sicher haben sie keine Religionen, deren Bestreben es ja ist, die Balance von innerem und äußerem Reichtum aufrechtzuerhalten.

Stoßen Sie denn auf offene Ohren?

Durchaus. Die Politik ist keineswegs schwerhörig. Nur geht das meiste schrecklich langsam. Das macht mir Sorge. Die Zeit, die uns für Mentalitätsveränderungen bleibt, ist kurz.

Inwiefern?

Weil die nächste Herausforderung schon in wenigen Jahren zu bestehen sein wird. Ich schätze, um das Jahr 2015. Manche meinen, dann käme so etwas wie ein finaler Crash. Doch final oder nicht final - wir sollten auf wirklich tiefgreifende Veränderungen vorbereitet sein.

Die Fragen stellte Nils Minkmar.

Meinhard Miegel ist Vorstand des Denkwerk Zukunft - Stiftung kulturelle Erneuerung sowie wissenschaftlicher Leiter des Ameranger Disputs der Ernst-Freiberger-Stiftung. Zuletzt erschien von ihm "Epochenwende: Gewinnt der Westen die Zukunft?" (2007)

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Die Zukunft des Kapitalismus (8)

Die Revolution der gebenden Hand

Von Peter Sloterdijk


13. Juni 2009 Am Anfang aller ökonomischen Verhältnisse stehen, wenn man den Klassikern glauben darf, die Willkür und die Leichtgläubigkeit. Rousseau hat hierüber in dem berühmten Einleitungssatz zum zweiten Teil seines Diskurses über die Ungleichheit unter den Menschen von 1755 das Nötige erklärt: "Der erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und es sich einfallen ließ zu sagen: Das gehört mir!, und der Leute fand, die einfältig (simples) genug waren, ihm zu glauben, ist der wahre Gründer der bürgerlichen Gesellschaft (société civile)."

Demnach beginnt, was wir das "Wirtschaftsleben" nennen, mit der Fähigkeit, einen überzeugenden Zaun zu errichten und das eingehegte Terrain durch einen autoritativen Sprechakt unter die Verfügungsgewalt des Zaun-Herrn zu stellen: Ceci est à moi. Der erste Nehmer ist der erste Unternehmer - der erste Bürger und der erste Dieb. Er wird unvermeidlich begleitet vom ersten Notar. Damit so etwas wie überschussträchtige Bodenbewirtschaftung in Gang kommt, ist eine vorökonomische "Tathandlung" vorauszusetzen, die in nichts anderem besteht als der rohen Geste der Inbesitznahme. Diese muss aber durch eine nachträgliche Legalisierung konsolidiert werden. Ohne die Zustimmung der "Einfältigen", die an die Gültigkeit der ersten Nahme glauben, ist ein Besitzrecht auf Dauer nicht zu halten.

Was als Besetzung beginnt, wird durch den Grundbucheintrag besiegelt - zuerst die Willkür, dann ihre Absegnung in rechtsförmiger Anerkennung. Das Geheimnis der bürgerlichen Gesellschaft besteht folglich in der nachträglichen Heiligung der gewaltsamen Initiative. Es kommt nur darauf an, als Erster da zu sein, wenn es um den anfänglichen Raub geht, aus dem später der Rechtstitel wird. Wer hierbei zu spät kommt, den bestraft das Leben. Arm bleibt, wer auf der falschen Seite des Zauns existiert. Den Armen erscheint die Welt als ein Ort, an dem die nehmende Hand der anderen sich schon alles angeeignet hat, bevor sie selber den Schauplatz betraten.


Willkürvoraussetzungen der Ökonomie

Der Rousseausche Mythos von der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft aus der Landokkupation hat seine Wirkung bei den Lesern in der politischen Moderne nicht verfehlt. Marx war von dem Schema der ursprünglichen Einzäunung so beeindruckt, dass er die ganze Frühgeschichte des "Kapitalismus", die sogenannte ursprüngliche Akkumulation, auf die verbrecherische Willkür einiger britischer Großgrundbesitzer zurückführen wollte, die es sich einfallen ließen, große Flächen Landes einzuzäunen und große Herden wolletragenden Kapitals darauf weiden zu lassen - was naturgemäß ohne die Vertreibung der bisherigen Besitzer oder Nutznießer des Bodens nicht geschehen konnte.

Wenn Marx seine Theorie der kapitalgetriebenen Wirtschaftsweise fortan in der Form einer "Kritik der politischen Ökonomie" entwickelte, so auf Grund des von Rousseau inspirierten Verdachts, dass alle Ökonomie auf vorökonomischen Willkürvoraussetzungen beruhe - auf ebenjenen gewaltträchtigen Einzäunungsinitiativen, aus denen, über viele Zwischenschritte, die aktuelle Eigentumsordnung der bürgerlichen Gesellschaft hervorgegangen sei. Die ersten Initiativen der beati possidentes kommen ursprünglichen Verbrechen gleich - sie sind nicht weniger als Wiederholungen der Erbsünde auf dem Gebiet der Besitzverhältnisse. Der Sündenfall geschieht, sobald der Privatbesitz aus dem Gemeinsamen ausgegrenzt wird. Er zeugt sich fort in jedem späteren ökonomischen Akt.

Wiedergutmachung anfänglichen Unrechts

In solchen Anschauungen gründet der für den Marxismus, aber nicht nur für diesen, charakteristische moderne Habitus der Respektlosigkeit vor dem geltenden Recht, insbesondere dem bürgerlichsten der Rechte, dem Recht auf die Unverletzlichkeit des Eigentums. Respektlos wird, wer das "Bestehende" als Resultat eines initialen Unrechts zu durchschauen glaubt. Weil das Eigentum, dieser Betrachtung gemäß, auf einen ursprünglichen "Diebstahl" am diffusen Gemeinbesitz zurückgeführt wird, sollen die Eigentümer von heute sich darauf gefasst machen, dass eines Tages die Korrektur der gewachsenen Verhältnisse auf die politische Agenda gesetzt wird. Dieser Tag bricht an, wenn die Einfältigen von einst aufhören, bloße simples zu sein. Dann erinnern sie sich an das "Verbrechen", das von den Errichtern der ersten Zäune begangen wurde. Von einem erleuchteten revolutionären Elan erfüllt, raffen sie sich dazu auf, die bestehenden Zäune abzureißen.

Von da an muss Politik Entschädigung für die Nachteile bieten, die von den meisten bei der frühen Verteilung hinzunehmen waren: Es gilt jetzt, für das Allgemeine zu reklamieren, was von den ersten privaten Nehmern angeeignet wurde. Auf dem Grund jeder revolutionären Respektlosigkeit findet man die Überzeugung, dass das Früher-Dagewesensein der jetzigen "rechtmäßigen" Besitzer letztlich nichts bedeutet. Von der Respektlosigkeit zur Enteignung ist es nur ein Schritt. Alle Avantgarden verkünden, man müsse mit der Aufteilung der Welt von vorn beginnen.


Diebe an der Macht

Vor diesem Hintergrund ist es leicht zu verstehen, warum alle "kritische" Ökonomie nach Rousseau die Form einer allgemeinen Theorie des Diebstahls annehmen musste. Wo Diebe an der Macht sind - mögen sie auch schon seit längerem als gesetzte Herren auftreten -, kann eine realistische Wirtschaftswissenschaft nur als Lehre von der Kleptokratie der Wohlhabenden entwickelt werden. In theoretischer Perspektive will diese erklären, wieso die Reichen seit je auch die Herrschenden sind: Wer bei der anfänglichen Landnahme zugegriffen hat, wird auch bei späteren Machtnahmen ganz vorn sein.

In politischer Perspektive erläutert die neue Wissenschaft von der nehmenden Hand, warum die real existierende Oligarchie nur durch eine Rücknahme der anfänglichen Nahme überwunden werden kann. Hiermit tritt der mächtigste politisch-ökonomische Gedanke des neunzehnten Jahrhunderts auf die Bühne, der dank des sowjetischen Experiments von 1917 bis 1990 auch das vergangene Jahrhundert mitbestimmte: Er artikuliert die quasi homöopathische Idee, wonach gegen den ursprünglichen Diebstahl seitens der wenigen nur ein sittlich berechtigter Gegendiebstahl seitens der vielen Abhilfe schaffen könne. Die Kritik der aristokratischen und bürgerlichen Kleptokratie, die mit Rousseaus ahnungsvoll drohenden Thesen begonnen hatte, wurde vom radikalen Flügel der Französischen Revolution mit der erbitterten Begeisterung aufgenommen, die der gefährlichen Liaison von Idealismus und Ressentiment entspringt.

Schon bei den Frühsozialisten hieß es alsbald: Eigentum ist Diebstahl. Der Anarchist Pierre-Joseph Proudhon, auf den der anzügliche Lehrsatz zurückgeht, hatte in seiner Schrift über das Eigentum von 1840 die Aufhebung der alten Ordnungen in herrschaftsfreie Produzentenbünde gefordert - zunächst unter dem heftigen Beifall des jungen Marx. Bekanntlich kehrte Marx wenige Jahre später seinen proudhonschen Inspirationen den Rücken, indem er den Anspruch erhob, der Natur des Eigentumsproblems, und eo ipso des Diebstahlphänomens, tiefer auf den Grund gegangen zu sein.


Wirtschaft als Kleptokratie

Mochte Marx auch später noch in klassisch respektloser Tonart die "Expropriation der Expropriateure" auf seine Fahnen schreiben, so sollte dies künftig keineswegs bloß die Wiedergutmachung des vor Zeiten verübten Unrechts bedeuten. Vielmehr zielte das Marxsche Postulat, getragen von einer klug konfusen Werttheorie, auf die Beseitigung der sich täglich erneuernden Plünderungsverhältnisse im Kapitalsystem. Vorgeblich stellen diese sicher, dass der "Wert" aller industriellen Erzeugnisse stets ungerecht geteilt werde: das bloße Existenzminimum für die Arbeiter, den reichen Wertüberschuss für die Kapitaleigentümer.

Aus der Marxschen Mehrwerttheorie ergab sich die folgenschwerste These, die je auf dem Feld der Eigentumskritik formuliert wurde. In ihrer Beleuchtung erscheint die Bourgeoisie, obschon de facto auch eine produzierende Klasse, als ein von Grund auf kleptokratisches Kollektiv, dessen Modus Vivendi umso verwerflicher sei, als dieser sich offiziell auf allgemeine Gleichheit und Freiheit berufe - nicht zuletzt auf die Vertragsfreiheit beim Eingehen von Beschäftigungsverhältnissen. Was unter der juristischen Form von freien Tauschvereinbarungen zwischen Unternehmern und Arbeitern abgeschlossen werde, sei in der Sache nur ein weiterer Anwendungsfall dessen, was Proudhon das "erpresserische Eigentum" genannt hatte.

Es führt geradewegs zu jenem Mehrwertdiebstahl, der vorgeblich in allen Gewinnen der Kapitalseite zutage tritt. In der Lohnzahlung verberge sich ein Nehmen unter dem Vorwand des Gebens; mit ihr geschehe eine Plünderung im Gewand des freiwilligen, gerechten Tauschs. Allein aufgrund dieser moralisierenden Stilisierung der ökonomischen Grundverhältnisse konnte "Kapitalismus" zu einem politischen Kampfwort und systemischen Schimpfwort werden.


Vom Kredit getrieben

Als solches macht es gegenwärtig erneut die Runde. Es steht für die Fortsetzung der feudalen Sklaven- und Leibeigenenausbeutung mit den Mitteln der modernen oder bourgeoisen Lohnempfängerausbeutung. Das ist es, was mit der These besagt war, die "kapitalistische" Wirtschaftsordnung werde durch den basalen Antagonismus von Kapital und Arbeit bewegt - eine These, die bei all ihrem suggestiven Pathos auf einer falschen Darstellung der Verhältnisse beruhte: Das Movens der modernen Wirtschaftsweise ist nämlich keineswegs im Gegenspiel von Kapital und Arbeit zu suchen. Vielmehr verbirgt es sich in der antagonistischen Liaison von Gläubigern und Schuldnern. Es ist die Sorge um die Rückzahlung von Krediten, die das moderne Wirtschaften von Anfang an vorantreibt - und angesichts dieser Sorge stehen Kapital und Arbeit auf derselben Seite.

Immerhin, in diesen Finanzkrisentagen erfährt man es schon aus den Boulevardzeitungen: Der Kredit ist die Seele jedes Betriebs, und die Löhne sind zunächst und zumeist von geliehenem Geld zu bezahlen - und nur bei Erfolg auch aus Gewinnen. Das Profitstreben ist ein Epiphänomen des Schuldendienstes, und die faustische Unruhe des ewig getriebenen Unternehmers ist der psychische Reflex des Zinsenstresses.

Kapitalismus und Staat

Gleichwohl, die Unterstellung, "Kapital" sei nur ein Pseudonym für eine unersättliche räuberische Energie, lebt weiter bis in Brechts Sottise, wonach der Überfall auf eine Bank nichts bedeute im Vergleich mit der Gründung einer Bank. Wohin man auch sieht: In den Analysen der klassischen Linken scheint der Diebstahl an der Macht, wie seriös er auch kaschiert sein mag und wie väterlich sich manche Unternehmer auch für ihre Mitarbeiter einsetzen. Was den "bürgerlichen Staat" angeht, kann er diesen Annahmen gemäß nicht viel mehr sein als ein Syndikat zum Schutz der allzu bekannten "herrschenden Interessen".

Es würde sich an dieser Stelle nicht lohnen, die Irrtümer und Missverständnisse aufzuzählen, die der abenteuerlichen Fehlkonstruktion des Prinzips Eigentum auf der von Rousseau über Marx bis zu Lenin führenden Linie innewohnen. Der Letztgenannte hat vorgeführt, was geschieht, wenn man die Formel von der Expropriation der Expropriateure aus der Sphäre sektiererischer Traktate in die des Staatsparteiterrors übersetzt. Ihm verdankt man die unüberholte Einsicht, dass die Schicksale des Kapitalismus wie die seines vermeintlichen Gegenspielers, des Sozialismus, untrennbar sind von der Ausgestaltung des modernen Staates.

Das geldsaugende Ungeheuer

Tatsächlich muss man auf den zeitgenössischen Staat blicken, wenn man die Aktivitäten der nehmenden Hand auf dem neuesten Stand der Kunst erfassen will. Um die unerhörte Aufblähung der Staatlichkeit in der gegenwärtigen Welt zu ermessen, ist es nützlich, sich an die historische Verwandtschaft zwischen dem frühen Liberalismus und dem anfänglichen Anarchismus zu erinnern. Beide Bewegungen wurden von der trügerischen Annahme animiert, man gehe auf eine Ära geschwächter Staatswesen zu. Während der Liberalismus nach dem Minimalstaat strebte, der seine Bürger nahezu unfühlbar regiert und sie bei ihren Geschäften in Ruhe lässt, setzte der Anarchismus sogar die Forderung nach dem vollständigen Absterben des Staates auf die Tagesordnung.

In beiden Postulaten lebte die für das neunzehnte Jahrhundert und sein systemblindes Denken typische Erwartung, die Ausplünderung des Menschen durch den Menschen werde in absehbarer Zeit an ein Ende kommen: im ersten Fall durch die überfällige Entmachtung der unproduktiven Aussaugungsmächte Adel und Klerus; im zweiten durch die Auflösung der herkömmlichen sozialen Klassen in entfremdungsfreie kleine Zirkel, die selber konsumieren wollten, was sie selber erzeugten.

Die Erfahrung des zwanzigsten Jahrhunderts hat gezeigt, dass Liberalismus wie Anarchismus die Logik des Systems gegen sich hatten. Wer eine gültige Sicht auf die Tätigkeiten der nehmenden Hand hätte entwickeln wollen, hätte vor allem die größte Nehmermacht der modernen Welt ins Auge fassen müssen, den aktualisierten Steuerstaat, der sich auch mehr und mehr zum Schuldenstaat entwickeln sollte. Ansätze hierzu finden sich de facto vorwiegend in den liberalen Traditionen. In ihnen hat man mit beunruhigter Aufmerksamkeit notiert, wie sich der moderne Staat binnen eines Jahrhunderts zu einem geldsaugenden und geldspeienden Ungeheuer von beispiellosen Dimensionen ausformte.

Enteignung per Einkommenssteuer

Dies gelang ihm vor allem mittels einer fabelhaften Ausweitung der Besteuerungszone, nicht zuletzt durch die Einführung der progressiven Einkommensteuer, die in der Sache nicht weniger bedeutet als ein funktionales Äquivalent zur sozialistischen Enteignung, mit dem bemerkenswerten Vorzug, dass sich die Prozedur Jahr für Jahr wiederholen lässt - zumindest bei jenen, die an der Schröpfung des letzten Jahres nicht zugrunde gingen. Um das Phänomen der heutigen Steuerduldsamkeit bei den Wohlhabenden zu würdigen, sollte man vielleicht daran erinnern, dass Queen Victoria bei der erstmaligen Erhebung einer Einkommensteuer in England in Höhe von fünf Prozent sich darüber Gedanken machte, ob man hiermit nicht die Grenze des Zumutbaren überschritten habe. Inzwischen hat man sich längst an Zustände gewöhnt, in denen eine Handvoll Leistungsträger gelassen mehr als die Hälfte des nationalen Einkommensteuerbudgets bestreitet.

Zusammen mit einer bunten Liste an Schöpfungen und Schröpfungen, die überwiegend den Konsum betreffen, ergibt das einen phänomenalen Befund: Voll ausgebaute Steuerstaaten reklamieren jedes Jahr die Hälfte aller Wirtschaftserfolge ihrer produktiven Schichten für den Fiskus, ohne dass die Betroffenen zu der plausibelsten Reaktion darauf, dem antifiskalischen Bürgerkrieg, ihre Zuflucht nehmen. Dies ist ein politisches Dressurergebnis, das jeden Finanzminister des Absolutismus vor Neid hätte erblassen lassen.

Kleptokratie des Staates

Angesichts der bezeichneten Verhältnisse ist leicht zu erkennen, warum die Frage, ob der "Kapitalismus" noch eine Zukunft habe, falsch gestellt ist. Wir leben gegenwärtig ja keineswegs "im Kapitalismus" - wie eine so gedankenlose wie hysterische Rhetorik neuerdings wieder suggeriert -, sondern in einer Ordnung der Dinge, die man cum grano salis als einen massenmedial animierten, steuerstaatlich zugreifenden Semi-Sozialismus auf eigentumswirtschaftlicher Grundlage definieren muss. Offiziell heißt das schamhaft "Soziale Marktwirtschaft". Was freilich die Aktivitäten der nehmenden Hand angeht, so haben sich diese seit ihrer Monopolisierung beim nationalen und regionalen Fiskus überwiegend in den Dienst von Gemeinschaftsaufgaben gestellt. Sie widmen sich den sisyphushaften Arbeiten, die aus den Forderungen nach "sozialer Gerechtigkeit" entspringen. Allesamt beruhen sie auf der Einsicht: Wer viel nehmen will, muss viel begünstigen.

So ist aus der selbstischen und direkten Ausbeutung feudaler Zeiten in der Moderne eine beinahe selbstlose, rechtlich gezügelte Staats-Kleptokratie geworden. Ein moderner Finanzminister ist ein Robin Hood, der den Eid auf die Verfassung geleistet hat. Das Nehmen mit gutem Gewissen, das die öffentliche Hand bezeichnet, rechtfertigt sich, idealtypisch wie pragmatisch, durch seine unverkennbare Nützlichkeit für den sozialen Frieden - um von den übrigen Leistungen des nehmend-gebenden Staats nicht zu reden. Der Korruptionsfaktor hält sich dabei zumeist in mäßigen Grenzen, trotz anderslautenden Hinweisen aus Köln und München. Wer die Gegenprobe zu den hiesigen Zuständen machen möchte, braucht sich nur an die Verhältnisse im postkommunistischen Russland zu erinnern, wo ein Mann ohne Herkunft wie Wladimir Putin sich binnen weniger Dienstjahre an der Spitze des Staates ein Privatvermögen von mehr als zwanzig Milliarden Dollar zusammenstehlen konnte.

Umgekehrte Ausbeutung

Den liberalen Beobachtern des nehmenden Ungeheuers, auf dessen Rücken das aktuelle System der Daseinsvorsorge reitet, kommt das Verdienst zu, auf die Gefährdungen aufmerksam gemacht zu haben, die den gegebenen Verhältnissen innewohnen. Es sind dies die Überregulierung, die dem unternehmerischen Elan zu enge Grenzen setzt, die Überbesteuerung, die den Erfolg bestraft, und die Überschuldung, die den Ernst der Haushaltung mit spekulativer Frivolität durchsetzt - im Privaten nicht anders als im Öffentlichen.

Autoren liberaler Tendenz waren es auch, die zuerst darauf hinwiesen, dass den heutigen Bedingungen eine Tendenz zur Ausbeutungsumkehrung innewohnt: Lebten im ökonomischen Altertum die Reichen unmissverständlich und unmittelbar auf Kosten der Armen, so kann es in der ökonomischen Moderne dahin kommen, dass die Unproduktiven mittelbar auf Kosten der Produktiven leben - und dies zudem auf missverständliche Weise, nämlich so, dass sie gesagt bekommen und glauben, man tue ihnen unrecht und man schulde ihnen mehr.

Verschuldete Zukunft

Tatsächlich besteht derzeit gut die Hälfte jeder Population moderner Nationen aus Beziehern von Null-Einkommen oder niederen Einkünften, die von Abgaben befreit sind und deren Subsistenz weitgehend von den Leistungen der steueraktiven Hälfte abhängt. Sollten sich Wahrnehmungen dieser Art verbreiten und radikalisieren, könnte es im Lauf des einundzwanzigsten Jahrhunderts zu Desolidarisierungen großen Stils kommen. Sie wären die Folge davon, dass die nur allzu plausible liberale These von der Ausbeutung der Produktiven durch die Unproduktiven der längst viel weniger plausiblen linken These von der Ausbeutung der Arbeit durch das Kapital den Rang abläuft. Das zöge postdemokratische Konsequenzen nach sich, deren Ausmalung man sich zur Stunde lieber erspart.

Die größte Gefahr für die Zukunft des Systems geht gegenwärtig von der Schuldenpolitik der keynesianisch vergifteten Staaten aus. Sie steuert so diskret wie unvermeidlich auf eine Situation zu, in der die Schuldner ihre Gläubiger wieder einmal enteignen werden - wie schon so oft in der Geschichte der Schröpfungen, von den Tagen der Pharaonen bis zu den Währungsreformen des zwanzigsten Jahrhunderts. Neu ist an den aktuellen Phänomenen vor allem die pantagruelische Dimension der öffentlichen Schulden. Ob Abschreibung, ob Insolvenz, ob Währungsreform, ob Inflation - die nächsten Großenteignungen sind unterwegs. Schon jetzt ist klar, unter welchem Arbeitstitel das Drehbuch der Zukunft steht: Die Ausplünderung der Zukunft durch die Gegenwart. Die nehmende Hand greift nun sogar ins Leben der kommenden Generationen voraus - die Respektlosigkeit erfasst auch die natürlichen Lebensgrundlagen und die Folge der Generationen.

Die einzige Macht, die der Plünderung der Zukunft Widerstand leisten könnte, hätte eine sozialpsychologische Neuerfindung der "Gesellschaft" zur Voraussetzung. Sie wäre nicht weniger als eine Revolution der gebenden Hand. Sie führte zur Abschaffung der Zwangssteuern und zu deren Umwandlung in Geschenke an die Allgemeinheit - ohne dass der öffentliche Bereich deswegen verarmen müsste. Diese thymotische Umwälzung hätte zu zeigen, dass in dem ewigen Widerstreit zwischen Gier und Stolz zuweilen auch der Letztere die Oberhand gewinnen kann.

Peter Sloterdijk ist Rektor der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe und lehrt dort Philosophie und Ästhetik. Von ihm erschien zuletzt "Du musst dein Leben ändern: Über Anthropotechnik" (2009).

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Die Zukunft des Kapitalismus (9)
Amüsieren? Erst mal können vor Lachen!

Von Michal Hvorecky


BILD: Wäre der Kapitalismus bloß im Westen geblieben: Passanten in Bratislava vor einer McDonald's-Werbung


15. Juni 2009 "In fünf Jahren sind wir wirtschaftlich auf dem Niveau von Österreich!", rief der Mann ins Megafon. Ich war außer mir vor Begeisterung und die Menschenmenge um mich her auch. Ich war dreizehn, es war der eiskalte November 1989, und der Mann hieß Milan Knazko, Schauspieler, Volkstribun und Anführer der slowakischen demokratischen Opposition. Für viele Bratislavaer, nur sechzig Kilometer von Wien entfernt lebend, war gerade der neutrale Nachbarstaat ein Vorbild, ein Traumland, eine idyllische Scheinwelt, eine Projektionsfläche aus dem isolierten Gefängnis des Realsozialismus heraus. Auf dem Platz herrschte ausgelassene Stimmung, alle waren begeistert, jenes neuartige Gefühl zu erleben: Alles ist möglich!

Milan Knazko absolvierte in den folgenden zwanzig Jahren eine typische osteuropäische Nachwendezeit-Erfolgskarriere: Er war Außenminister der Tschechoslowakei, stand dann politisch dem Rechtspopulisten Vladimír Meciar sehr nahe, war Kulturminister der Slowakei, später Direktor eines erfolgreichen privaten Fernsehsenders, Promitänzer und ewiger Talkshowhost. Nebenbei spielte er noch ab und zu in amerikanischen B-Movies wie "Hostel 2", wo er als russischer Mafioso Sascha gerne Kindern kaltblütig in den Kopf schoss. Mit Sicherheit hatte sich für ihn bereits um 1994 herum das (selbst gegebene) Wohlstandsversprechen erfüllt. Doch wie sah es mit dem Rest des Landes aus?

Wer es nicht schafft, ist selber schuld

Sieben Jahre lang, von 1999 bis 2006, machte die Slowakei international Schlagzeilen als Musterbeispiel für erfolgreiche neoliberale Reformen. Der ärmere und fast unbekannte Bruder Tschechiens, oft mit Slowenien verwechselt oder völlig vergessen, senkte sämtliche Steuern auf neunzehn Prozent, was nur der Anfang eines rasanten Strukturwandels war. Das chaotische System kommunistischer Bürokratie wurde endlich vereinfacht und das Finanzsystem des verschlafenen Landes übersichtlicher. Die Reaktionen in ausländischen Wirtschaftskreisen waren durchaus positiv, Investoren aus aller Welt kamen in die Slowakei, und in der Folge beschleunigte sich das Wirtschaftswachstum, und die Arbeitslosenzahlen sanken dramatisch.

Das jährliche Wirtschaftswachstum von zehn Prozent übertraf sogar die optimistischsten Prognosen und machte die Slowakei zum ersten Mal in der Geschichte zum Primus in der Region. "Glamour" und "Luxus" waren die Wörter, die man damals auf den Reklamewänden am häufigsten las. Die neuen Superreichen meldeten sich lauthals zu Wort. 250 Quadratmeter Penthouse mit Dachterrasse an der Donau? Eine eigene Segeljacht? Bitte schön! Wer es nicht schafft, ist selber schuld.

Die Kauflaune muss künstlich stimuliert werden

Doch das alles scheint lange her zu sein. Trotz Lob im Ausland wurden die slowakischen Neoliberalen 2006 abgewählt und durch eine der skurrilsten Regierungskoalitionen Europas ersetzt, bestehend aus den enorm populären postkommunistischen Sozialdemokraten und zwei kleineren rechtspopulistischen Parteien. Das Zurücknehmen aller Reformen war das erfolgreiche Hauptthema im Wahlkampf, doch in der Realität änderte sich wenig. Premierminister Robert Fico behauptet allerdings, dass es unter seiner Ägide mehr soziale Gerechtigkeit und weniger regionale Spaltung gibt. Ficos Rekordhöhen erreichende Popularität bestätigt, dass ihm das Volk immer noch glaubt und die von ihm vollzogene Abkehr vom Privatisierungskurs ankommt. Doch der letzte Jahreswechsel brachte eine ganz neue Situation.

Die Einführung des Euro am 1. Januar 2009 ersparte der Slowakei, anders als ihren Nachbarn Tschechien, Polen und Ungarn, die Schockwellen der globalen Finanzkrise. Auf den neuen Euro-Münzen prangen das slowakische Doppelkreuz, die Bratislavaer Burg und das Nationalsymbol, das Krummhorn in der Hohen Tatra. Zum ersten Mal war der Euro kein Teuro, die sowohl in slowakischen Kronen als auch in Euro angegebenen Preise in Läden und Restaurants blieben unverändert. Von den Folgen der Rezession blieb das Land trotzdem nicht verschont. Die Autohersteller in der Slowakei - neben VW haben auch Peugeot/Citroën und Kia riesige Fabriken bei uns - erwarten für dieses Jahr einen Rückgang der Produktion um bis zu 25 Prozent. Die slowakische Auto-Monokultur könnte bald zur Detroitisierung des ganzen Landes führen. Die im März auch in der Slowakei eingeführte Verschrottungsprämie hat der Wirtschaft geholfen - allerdings der tschechischen, wo die billigen Skodas für die Slowaken gebaut werden. 2000 Euro Prämie! Das stieß in der Öffentlichkeit auf enormes Interesse, doch der Hyperkonsum der kurzen Konjunkturphase ist vorbei, und die Kauflaune muss inzwischen künstlich stimuliert werden.

Schlechter bezahlt als österreichische Putzfrauen

Der mitteleuropäische Tiger ist müde. Und die Regierung zeigte sich in dieser schwierigen Zeit wenig kompetent, schlecht vorbereitet und korrupt. Der große Redekünstler Fico schweigt; seine Regierung versinkt in Skandalen. Nicht nur der Markt, sondern auch das politische Leben braucht jetzt rasche und gezielte Hilfe zur Stabilisierung. Das wird nicht leicht im Euro-Neuling-Land, wo viele Leute erst jetzt wirklich verstehen, wie wenig sie im Vergleich zu den anderen eigentlich verdienen. Meine Mutter bekommt mit dreißig Jahren Berufspraxis als Sonderpädagogin im Monat 650 Euro brutto, und das bei Lebenshaltungskosten, die denen im Westen schon gefährlich gleichen. Und dieser Lohn soll jetzt auch noch eingefroren werden? Die Regierung behauptet, das Volk müsse dringend sparen, doch geht es überhaupt noch sparsamer?

Gerade Wissenschaftler, Künstler und Akademiker verdienen auch zwanzig Jahre nach der Wende extrem wenig, sie werden immer noch schlechter bezahlt als österreichische Putzfrauen und müssen mit 700 Euro auskommen. Wenn nicht alle einen Nebenjob hätten, könnten sie sich niemals über Wasser halten. Die Geldbörsen der Slowaken sind voll mit Euro-Münzen, nicht mehr mit Banknoten.

Vieles erinnert an ein Dritte-Welt-Land

Jeder zehnte Slowake lebt in dauerhafter Armut, und das Wachstum hat sich drastisch verlangsamt. Der Bauboom hat sich abgeschwächt. Ein Großteil der Infrastruktur - Fernstraßen, Fußwege, Schulen, Bibliotheken - bleibt unterentwickelt und erinnert an ein Dritte-Welt-Land. Schafft meine Heimat wirklich nicht mehr?

Zwanzig Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs ist in der Slowakei eine Generation herangewachsen, die den Kommunismus nicht mehr erlebt hat. Die Freiheiten, die die heutigen Twens genießen, sind aus dem epochalen Systemwechsel vom November 1989 erwachsen. Damals waren ihre Eltern um die zwanzig und entdeckten das Neuland. Unter ihnen auch der Schauspieler Milan Knazko. Was macht er eigentlich heute? Vor kurzem spielte er in einem Thriller einen deutschen Massenmörder aus den zwanziger Jahren. Hauptberuflich moderiert er jedoch eine neue Fernsehsendung mit dem Titel "So sind wir mal gewesen", womit sich der Kreis wunderbar schließt. Dort zeichnet er nämlich ein idyllisches Bild von der Vergangenheit, als der Osten noch so wunderbar unkapitalistisch, ruhig und unschuldig war.

Der Schriftsteller Michal Hvorecky, geboren 1976 in Bratislava, veröffentlichte in diesem Frühjahr den Roman "Eskorta"

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Die Zukunft des Kapitalismus (10)

Was sozial ist, schafft Arbeit!

Von Heiner Flassbeck


Wir müssen den Kapitalismus begreifen: Heiner Flassbeck

23. Juni 2009 Es ist ein großes Unglück über Deutschland gekommen. Eine globale Krise hat unseren Wohlstand auf eine Weise dezimiert, wie es das Land seit mehr als einem halben Jahrhundert nicht gesehen hat. Das gesamtwirtschaftliche Einkommen ist im ersten Quartal dieses Jahres genau auf den Wert zurückgefallen, den es im dritten Quartal 2005 schon erreicht hatte. Danach kam die große Koalition und mit ihr der Aufschwung. Die Krise macht somit die Wachstums-Bilanz dieser vier Jahre sehr einfach: Null!

Für das Jahr 2009 bedeutet das einen dramatischen Rückgang der Einkommen, der sich nur deswegen noch nicht voll in den Bilanzen und Portemonnaies niedergeschlagen hat, weil zumeist erst am Jahresende Gewinn-Bilanz gezogen wird. In der deutschen Industrie wird man dann feststellen, dass die Produktion und die dort erzielten Einkommen unter den Wert von 1991 gefallen sind.

Wer aber geglaubt hatte, dass eine solche, menschengemachte Katastrophe - nicht anders als der Einsturz eines Hochhauses in der Frankfurter Innenstadt - sofort zu einer hochnotpeinlichen Untersuchung der Ursachen der Krise führen müsste, ist verblüfft. Niemand denkt daran, eine unabhängige Kommission einzusetzen, die sich nur der einen Frage verpflichtet fühlt: Wie konnte es dazu kommen? Außer ein paar nichtssagenden Floskeln über die amerikanische Geldpolitik oder das globale Über-die-Verhältnisse-Leben hat man nichts darüber gehört, wie der globalen Wirtschaft ohne äußere Einwirkung praktisch über Nacht die Statik abhandenkommen konnte. Niemand, der Verantwortung trägt, spricht ernsthaft über die Ursachen. Niemand, der die Trümmer beseitigt, sucht akribisch nach Indizien und Hinweisen auf die Urheberschaft.

Fürchtet man die Wahrheit?

Was ist geschehen? Kann die Politik die Krise nicht begreifen, oder will sie es gar nicht? Fürchtet man die Wahrheit? Ist den regierenden Politikern und den "Experten" der Blick verstellt, weil sie Angst haben, Glaubenssätze zu erschüttern, die niemals erschüttert werden sollen? Wo ist der tiefgehende akademische Streit um die Ursachen? Fehlanzeige. Offenbar wollen die Protagonisten der Marktwirtschaft den Kapitalismus um jeden Preis schützen, weil sie fürchten, dass die anderen ihn bei dieser Gelegenheit um jeden Preis zerstören wollen. Es ist wieder das alte Lied: Markt gegen Staat! Da schrauben die meisten Ökonomen die Bretter fest, und die Politiker wetzen in die Schützengräben. Auf der Strecke bleibt das kritische Denken. Auf der Strecke bleibt womöglich ein System, das tatsächlich schützenswert sein könnte, wenn wir denn endlich versuchen würden, es zu begreifen.

Martin Walser hat im dritten Teil dieser Serie (Die Zukunft des Kapitalismus (3): Martin Walser) seine Version des Kapitalismus auf den Punkt gebracht, dass sozial ist, was Arbeit schafft. Das Handeln der Unternehmen ist in dieser Sicht nicht nur Gegenstand des Kapitalismus, es ist seine Richtschnur. Der Teil wird so zum Ganzen, Vielfalt wird zu Einfalt. Eine arbeitsteilige Marktwirtschaft ist nämlich mehr als die Summe ihrer Teile. Selbst wenn das Handeln der Unternehmen sein zentraler Gegenstand ist, emanzipiert sich volkswirtschaftliches Denken von der Logik des Unternehmens, weil es eine Logik des Ganzen schafft, die der einzelwirtschaftlichen häufig diametral entgegensteht.

Fundamental in Frage gestellt

Einzelwirtschaftliche und volkswirtschaftliche Logik widersprechen sich schon da, wo die Arbeitsteilung beginnt. Die Entscheidung eines Individuums, nicht mehr in Autarkie seinen Lebensunterhalt bestreiten zu wollen, sondern sich mit anderen auf einen Vertrag zu einigen, bei dem alle einen Vorteil haben und einen Anteil am Ganzen erhalten, der den Bestand des Systems sichert, markiert diesen Punkt. Genau hier, bei der Entlohnung von Arbeit, wurde die arbeitsteilige Marktwirtschaft in den vergangenen fünfzehn Jahren in Deutschland mehr als anderswo fundamental in Frage gestellt.

Wohlgemerkt, man kann sich bei Vertragsfreiheit durchaus darauf einigen, unterschiedlich knappe Arbeit in absoluten Beträgen unterschiedlich zu entlohnen. Bei der Dynamik des Systems aber kann man sich der unternehmerischen Sicht der Dinge nicht mehr anvertrauen. Hier kommt der Bruch, der Einfalt von Vielfalt scheidet: In einzelwirtschaftlicher Sicht kann man durch Gürtel-enger-Schnallen die Krise zu überwinden suchen. Gesamtwirtschaftlich ist das aussichtslos, weil die Kosten des einen die Erträge eines anderen Unternehmens sind.

In einer Krise kann sich ein einzelnes Unternehmen mit seinen Mitarbeitern darauf verständigen, die Löhne zu senken, um Verluste zu vermindern, obwohl die Arbeiter keinerlei Schuld an der Krise tragen. Senkt man, wie Daimler das kürzlich getan hat, dadurch seinen Verlust um dreihundert Millionen Euro, steigt allerdings der Verlust der anderen Unternehmen um genau diesen Betrag, weil die Arbeiter von Daimler zehn Prozent weniger Einkommen erzielen und folglich zehn Prozent weniger zum Ausgeben für Güter der anderen Unternehmen haben.

Was sozial ist, schafft Arbeit!

Gesamtwirtschaftlich ist es auch sinnlos, die Arbeiter dazu zu bewegen, auf die Teilhabe an den gemeinsam erarbeitenden Zuwächsen des Systems, den Produktivitätsfortschritt, zu verzichten, wie das die deutsche Wirtschaftspolitik seit Mitte der neunziger Jahre getan hat. Weil geringere Löhne immer unmittelbar weniger Nachfrage nach den von Kapital und Arbeit gemeinsam erarbeiteten Gütern bedeutet, erreicht man damit weder mehr Beschäftigung noch eine Umverteilung hin zu den Investoren. Der Versuch, weniger sozial zu sein, scheitert an der inhärenten Logik der Marktwirtschaft, nicht an zu starken Gewerkschaften. Was sozial ist, schafft Arbeit!

Ein Land kann durch Lohnsenkung, also eigenes Unter-den-Verhältnissen-Leben, nur dann seine Situation kurzfristig verbessern, wenn es gelingt, andere Länder dazu zu bewegen, über ihre Verhältnisse zu leben. Das geht besonders leicht in einer Währungsunion wie der Euro-Zone, weil die Handelspartner nicht durch Abwertung ihrer Währung, sondern nur durch langwieriges und schmerzhaftes eigenes Gürtel-enger-Schnallen parieren können. Wiederum jedoch obsiegt die gesamtwirtschaftliche Logik: Weil der Verlierer im Standortwettbewerb seine Schulden nicht zurückzahlen kann und wegen dauernder Marktanteilsverluste aus dem Währungsverbund ausscheiden muss, geht mehr verloren als nur ein Handelsvorteil. Aber Standortwettbewerb klingt wie Wettbewerb und damit gut in den Ohren der einzelwirtschaftlichen Einfalt.

Wetten und Zocken

Wirklicher Wettbewerb freilich ist nicht Wetteifer darum, wer seinen Bürgern größeres Leid abverlangen kann, sondern ist Wettbewerb um Ideen für neue Produkte oder neue Produktionstechnologien. Nur dieser Wettbewerb bringt in der Arbeitsteilung Investitionen hervor, von denen alle profitieren können. Arbeitnehmer und Kapitaleigner können ihre Lebensumstände einschließlich der natürlichen Lebensumstände verbessern, wenn sie bereit sind, sich mit den zwei Prozent Zuwachs zu bescheiden, die gut funktionierende Marktwirtschaften pro Jahr hervorbringen können.

Das wollen die Akteure an den Finanzmärkten aber nicht. Folglich hat das, was ein "investment banker" tut, gerade nicht mit Investieren, sondern mit Wetten und Zocken zu tun. Dabei kann wiederum immer nur ein Einzelner gewinnen, niemals alle. Nullsummenspiele produzieren nichts, selbst wenn es Zockerherden immer wieder gelingt, dies durch Preisexzesse an Aktien-, Rohstoff- oder Währungsmärkten für ein paar Jahre zu verdecken. Kasinokapitalismus ist die explizite Aufkündigung eines arbeitsteiligen, der Marktwirtschaft impliziten Versprechens: Sparen, der Verzicht auf Konsum, ist nur sinnvoll, wenn der Schuldner verspricht, die Ersparnisse produktiv zu verwenden. Versprechen auf Wetten sind Lügen - nicht für jeden, aber für alle.

Hat der Kapitalismus eine Chance? Ja, aber nur, wenn wir beginnen, ihn zu begreifen. Wenn demnächst zusammen mit den von Entlassung bedrohten Arbeitern auch die richtigen Unternehmer und Investoren auf die Straße gehen und gegen die Zocker aufbegehren, gibt es eine Chance.

Heiner Flassbeck war unter Oskar Lafontaine Staatssekretär im Bundesfinanzministerium und ist heute Chefvolkswirt der UN-Organisation für Welthandel und Entwicklung. Zuletzt erschien "Gescheitert - Warum die Politik vor der Wirtschaft kapituliert".