Chomsky Interview -- von 2004 und doch wieder lesenswert
1. US-Amerika und Europa*
von Noam Chomsky und Timo Stollenwerk
ZNet Deutschland 24.05.2004
In einem Kapitel des Buches Understanding Power, das gerade unter dem Titel Eine Anatomie der Macht auf Deutsch erschienen ist, beschreibst du eine Interviewsituation in Kanada. Der Interviewer wurde wütend, weil du anfingst, Kritik an Kanada zu üben, statt dich, wie es ihm lieber gewesen wäre, auf die USA zu beschränken.[1] Du sagst in dem Buch, einer der Gründe dafür, dass du so oft in der Mainstreampresse außerhalb der USA interviewt wirst, sei die Tatsache, dass du die USA kritisierst und nicht das Land, in dem du interviewt wirst. Ich möchte deswegen über die Frage sprechen, welche Bedeutung deine Schriften und dein Aktivismus für europäische Länder, besonders Deutschland, haben können.
Wo immer ich hingehe, versuche ich, Kritik an dem Land zu üben, in das ich komme, aber das ist nicht meine Hauptsorge. Tatsächlich erinnere ich mich an diese Geschichte in Kanada. Das war ein Interview für die wichtigste nationale Interviewsendung im Radio, und jedes Mal, wenn ich in Toronto landete, waren sie ganz entzückt, mich in ihrer Sendung zu haben. Aber dieses Mal merkte ich, dass ich es allmählich wirklich satt hatte. Die erste Frage war: „Wann sind sie hier angekommen?“ Ich sagte, dass ich gerade erst auf dem Lester-B.-Pearson-Kriegsverbrecher-Flughafen angekommen sei. Der Interviewer sagte: „Was soll das heißen – Lester B. Pearson soll ein Kriegsverbrecher gewesen sein?“ Da begann ich, aufzuzählen, was Lester Pearson so alles getan hatte. In Kanada wird er als großer Held betrachtet – Friedensnobelpreisträger und so weiter. Er hat furchtbare Dinge getan, die ich aufzählte, woraufhin der Interviewer krebsrot im Gesicht wurde und ich plötzlich nicht mehr auf Sendung war. Er brach das Interview einfach ab und fing an, herumzuschreien.
Als ich das Studio verließ, sah ich diese ganzen Lämpchen aufleuchten, die anzeigen, dass Leute im Studio anrufen; sie bekamen Anrufe von überallher in ganz Kanada. Die Leute waren sehr wütend auf den Interviewer. Das waren gar nicht mal Leute, denen es gefiel, was ich sagte, aber sie fanden, dass man Studiogäste so einfach nicht behandeln kann. Als ich ging, baten mich die Leute vom Studio, doch wieder zu kommen, um ein richtiges Interview zu machen, worauf ich sagte, ich wüsste nicht, ob ich Zeit hätte – vielleicht bei meinem nächsten Besuch in Kanada. Sie schickten dann sogar ein Team nach Boston, das mich interviewte, weil die Zuhörer das verlangt hatten, aber in ihre Sendung eingeladen haben sie mich nie mehr. Dasselbe ist mir noch ein paar Mal passiert, sowohl in Kanada als auch in anderen Ländern.
Du hast gestern für dein Lebenswerk den Carl-von-Ossietzky-Preis bekommen, wofür wir dir gratulieren wollen. Der Preis würdigt deine Kritik an der US-Außenpolitik, aber auch deine Forschungsarbeit zur Funktionsweise der Medien in demokratischen Gesellschaften. Du hast zusammen mit Edward S. Herman einen analytischen Rahmen entwickelt, der versucht, zu erklären, wie die (Mainstream-)Medien in den USA arbeiten. Diesem Propagandamodell zufolge dienen die Medien den Interessen der konzentrierten Macht von Staat und Konzernen und präsentieren eine Sicht von der Welt, die diesen Interessen entspricht. Bist du der Meinung, dass das Propagandamodell auch auf den europäischen, und insbesondere den deutschen Medienmarkt anwendbar ist?
Nun, ich lese die deutsche Presse nicht regelmäßig, und so kann ich dazu nichts Definitives sagen. Aber von dem Wenigen her, was ich gesehen habe, würde ich deine Frage bejahen. Und ich würde vermuten, dass man, wenn man die deutsche Presse ebenso intensiv untersuchen würde, wie dies mit der amerikanischen Presse getan wird, zu denselben Ergebnissen kommen würde. Es ist eine ziemlich bemerkenswerte Tatsache, dass die Kritik an den Medien sehr stark in den USA konzentriert ist. In den Vereinigten Staaten arbeiten eine Menge Leute zu diesem Thema, und dementsprechend finden wir etliche Analysen und Diskussionen dazu.
In Kanada findet so etwas praktisch gar nicht statt, in Großbritannien ein bisschen – so gibt es z.B. ein gutes Medieninstitut in Glasgow und eine Reihe von anderen Institutionen und Initiativen. In Frankreich sehr wenig. In Deutschland dachte ich bis gestern, es gäbe nichts, aber gestern abend erzählte mir ein Professor, einige Leute würden daran arbeiten. Es mag also sein, dass manches vorhanden ist, aber ich konnte das nicht weiter verfolgen. Das ist tatsächlich eine Frage, die ihr euch selbst stellen müsst. Ihr müsst euch eure Medien hier in Deutschland systematisch anschauen. Eben mal die Zeitungen zu lesen, wenn man wie ich alle paar Jahre mal hierher kommt, reicht dazu einfach nicht aus. Wenn ich dann allerdings die Presse hier zu Gesicht bekomme, scheint mir durchaus, dass es hier auch nicht anders ist als in den USA.
MS: Glaubst du, dass die Bandbreite der Medien von der Tatsache beeinflusst ist, dass wir in Europa bis vor kurzem Arbeiterparteien wie die sozialdemokratische Partei hatten – Parteien, die sehr rasch im Verschwinden begriffen sind, die es aber gab? Bist du der Meinung, dass das die Bandbreite von Meinungen, die in der Presse geäußert werden können, beeinflusst hat?
Wahrscheinlich, das sollte man erwarten. England kenne ich besser, dort gibt es immer noch eine Arbeiterbewegung und diese Partei, die sich Labour Party nennt. Jedenfalls gab es in England eine Arbeiterpresse, und sie wurde viel gelesen, genoss große Unterstützung und hatte ihre Wirkung. Der Daily Herald war die meistgelesene Zeitung in England, mit großer Leserbeteiligung. Er hielt sich bis Anfang der sechziger Jahre, und in den sechziger Jahren orientierte sich auch die Boulevardpresse, wie z.B. der Daily Mirror, an der Arbeiterbewegung und den Gewerkschaften. Die Arbeiterpresse selbst hatte da schon eine lange Zeit des Niedergangs hinter sich, und Anfang der sechziger Jahre war dann im wesentlichen Schluss damit. Das ging hauptsächlich über die Kapitalkonzentration, die Verteilung der Werbeeinnahmen und ähnliche Prozesse vor sich.
Dadurch spiegelt sich die Weltsicht arbeitender Menschen immer weniger in den Medien wider. Wie sich das auswirkt, konnte ich vor ein paar Tagen in England beobachten. Ich hielt an allen möglichen Orten Vorträge, unter anderem auch in Liverpool. Das war auf einer Veranstaltung, die von den Dockarbeitern organisiert worden war, die nach einem großen Arbeitskampf einige Jahre zuvor entlassen wurden. Damals verloren Hunderte von Arbeitern ihren Arbeitsplatz und wurden im Rahmen der Anstrengungen der Arbeitgeber zur Vernichtung der Gewerkschaften durch Streikbrecher ersetzt.
Das war in den Jahren nach Thatcher, aber es lief genauso ab wie bei den Arbeitskämpfen zuvor. Sie gaben nicht auf, sondern kämpften wirklich hart, nur um am Schluss doch entlassen zu werden, aber danach wendeten sie sich anderen Aktivitäten zu, kulturellen Aktivitäten in Liverpool und politischer Tätigkeit, und neben anderem hatten sie diese jährlichen Veranstaltungen zur Erinnerung an den Streik, und mein Vortrag war ein Teil davon. Aber das Publikum bestand jetzt natürlich nicht mehr nur aus Dockern. Über die Sicht, die solche Leute von der Welt haben, wird in den Medien einfach nicht mehr berichtet. Wenn man in den Vereinigten Staaten zurück bis an den Anfang des letzten Jahrhunderts geht, findet man Zeitungen wie Appeal to Reason, die eine Art links-sozialdemokratische Zeitschrift war und ebenso weit verbreitet war wie die kommerzielle Presse. Und Mitte des 19. Jahrhunderts gab es eine sehr lebendige Arbeiterpresse. Selbst in den fünfziger Jahren des Zwanzigsten Jahrhunderts gab es immer noch 800 an der Arbeiterbewegung orientierte Zeitungen, die vielleicht 20 bis 30 Millionen Leserinnen und Leser erreichten, aber heute ist es mit all dem praktisch vorbei. Und so verloren die unabhängigen Medien Schritt für Schritt an Boden, während das Kapital die Kontrolle übernahm.
Früher hatte jede Zeitung einen Kolumnisten für Belange der Arbeiter, einen Redakteur, der über Nachrichten aus der Arbeitswelt berichtete – heute hat das praktisch keine einzige mehr. Stattdessen schreiben die Wirtschaftsredakteure gelegentlich einen Artikel über einen Streik oder ähnliches – aber einen großen Wirtschaftsteil haben sie alle. Jede Zeitung hat diesen Wirtschaftsteil, aber die Idee, dass sie auch einen eigenen Teil über Probleme der Arbeiter haben sollten, ist inzwischen nahezu unvorstellbar.
Wenn man also etwas über die Aktienkurse erfahren will, kann man das sofort, aber wenn man sich über das Lohnniveau oder über die durchschnittliche Arbeitszeit informieren will, muss man sich durch komplizierte Statistiken hindurcharbeiten. Und in den Vereinigten Staaten werden einige dieser Informationen nicht einmal gesammelt. Die USA sind eines der wenigen Industrieländer, vielleicht sogar das einzige, in dem die offiziellen staatlichen Daten – obwohl sie zu jedem einzelnen Thema sehr umfangreich sind – nicht klassen- und schichtenspezifisch klassifiziert sind. Wenn zum Beispiel jemand die Daten zur Gesundheit und Sterberate von Industriearbeitern mit den entsprechenden Daten für Selbständige vergleichen will, ist die einzige Möglichkeit, dies zu tun, sich durch die Daten zu arbeiten, die es tatsächlich gibt und komplizierte Korrelationen zwischen ihnen herzustellen. Es gibt eine ziemlich enge Korrelation zwischen ethnischer Zugehörigkeit und Klasse, und es gibt etliche Daten, die nach dem Kriterium der ethnischen Zugehörigkeit geordnet sind – und wenn man dann diese Daten analysiert und noch eine Reihe von anderen Daten dazu, findet man schließlich auch etwas über klassenspezifische Daten heraus.
MS: In Deutschland gibt es sehr wenige Daten über die Reichen. Über Besitz und Reichtum etwas herauszufinden, ist sehr schwierig. Man muss dieselben Methoden anwenden, die du in Bezug auf den Gesundheitszustand der arbeitenden Bevölkerung beschrieben hast, wenn man herausfinden will, wer was hat und so weiter.
Das hat zum Teil noch einen anderen Grund. Es gibt soziologische Studien über die Armen, aber nur sehr wenige über die Reichen. Das ist unter anderem deswegen so, weil die Reichen nicht sehr auskunftsfreudig sind. Nur Leute, die kaum Möglichkeiten haben, sich zu wehren, lassen einen zu sich ins Haus, um sich befragen zu lassen. Wenn man in einen Slum geht und anfängt, den Leuten Fragen zu stellen, werden sie vielleicht mit einem reden. Wenn man dagegen in die reichen Vorstädte geht und dasselbe versucht, werfen sie einen raus. Das geht einen nichts an, und sie befürchten dann, man würde irgendwie unfair zu ihnen sein.
Wie dem auch sei, die anthropologischen, soziologischen und psychologischen Studien sind meistens Studien über Unterdrückte. Und interessant daran ist, dass man Daten über die Verteilung des Reichtums finden kann, aber wenn man nach Dingen sucht, die mit dieser Verteilung korrelieren, wie z.B. dem Gesundheitszustand, wird es schwierig.
Tatsächlich wird den Leuten in den Vereinigten Staaten immerzu eingehämmert, sie gehörten alle zur Mittelklasse. Meine Tochter unterrichtet an einem staatlichen College, wo die Studenten aus einer Schicht kommen, die wir als Arbeiterklasse bezeichnen oder noch weiter unten ansiedeln würden, viele von ihnen sind nur Gelegenheitsbeschäftigte, jedenfalls eindeutig aus der Unterschicht. Am ersten Tag fragt meine Tochter die Studenten im Seminar immer: „Zu welcher Schicht zählt ihr euch“, und alle antworten, zur Mittelschicht, und dann versucht sie, herauszufinden, was für Zukunftsvorstellungen sie haben: „Warum geht ihr aufs College?“, „Was ist euer Vater von Beruf?“ und so weiter. Dann sagen sie regelmäßig so etwas wie, dass ihr Vater, wenn er gerade Arbeit hat, Hausmeister ist, und dass sie hoffen, später einmal als Krankenpfleger oder Krankenpflegerin zu arbeiten – aber sie gehören zur Mittelklasse. Alle gehören zur Mittelklasse.
Gestern habe ich in der britischen Presse einen Artikel in einer der so genannten linken Zeitungen, dem Guardian oder dem Observer, gelesen, der von jemandem stammte, der beim Filmfestival in Cannes ein Interview mit Michael Moore gemacht hatte. Der Autor versuchte dann, einen möglichst kritischen Artikel zu schreiben, in dem er sagt, Moore sei ein Heuchler und Betrüger, und in diesem Zusammenhang sagte er dann auch, Moore gebe vor, aus der Arbeiterklasse zu kommen, während er in Wirklichkeit aus dem Mittelschichtmilieu der Vorstädte stamme. Dann stellt sich heraus, dass sein Vater Arbeiter in einer Autofabrik war – aber deswegen gehörte er noch lange nicht zur Arbeiterklasse, weil er sich immerhin ein eigenes Haus kaufen konnte. Moores Vater arbeitete in einer Autofabrik, und jetzt kommt sein Sohn an und betrügt die Leute und gibt vor, er käme aus der Arbeiterklasse. Ich bin sicher, dass der Autor das noch nicht einmal komisch fand, und die Leser fanden vermutlich auch nichts Merkwürdiges daran.
Im Rahmen der Diskussion über den jüngsten Golfkrieg wurden der deutsche Kanzler und die deutsche Regierung für ihre Antikriegshaltung gelobt, obwohl Deutschland den USA erlaubte, mit ihren Kriegsflugzeugen auf dem Weg in den Irak den deutschen Luftraum zu überfliegen und die Infrastruktur der NATO zu benutzen. Was waren deiner Ansicht nach die Motive Deutschlands und anderer europäischer Staaten, als sie sich gegen die US-Intervention im Irak wandten?
Ich weiß nicht genug über Deutschland, um darauf wirklich antworten zu können, aber es ist schon eine interessante Frage. Ist die Frage, die gestellt werden sollte: Was waren die Motive Frankreichs und Deutschlands, sich nicht am Krieg der USA zu beteiligen? Niemand fragt, warum Italien sich bereit fand, beim Krieg mitzumachen oder warum Spanien dies tat. Schließlich ist es in Wirklichkeit so, dass die Bevölkerung dort entschieden gegen diesen Krieg war – sie war sogar in noch höherem Maß gegen den Krieg als die Bevölkerungen in Frankreich und Deutschland. Wenn überhaupt irgendjemand an die Demokratie glaubte, was leider Gottes nicht der Fall ist, würde diese Frage überhaupt nicht gestellt. Es gibt nichts weiter zu fragen, wenn eine Regierung dieselbe Position einnimmt wie die Mehrheit der Bevölkerung, denn so soll es in einer demokratischen Gesellschaft doch sein. Aber diese Frage muss natürlich nur für diejenigen gestellt werden, die nicht einfach Befehle aus Crawford in Texas entgegennahmen. Hier haben wir ein Problem. Was diejenigen betrifft, die 90 Prozent ihrer Bevölkerung ignorierten und ihrem Herrn gehorchten – da stellt sich keine Frage. Warum die deutsche Regierung beschlossen hat, dem Willen von 70 Prozent der deutschen Bevölkerung entsprechend zu handeln, weiß ich nicht. Aber in einer demokratischen Gesellschaft sollte sich eine derartige Frage gar nicht stellen. Die Regierung sollte gar keine Wahl haben. Sie sollte tun, was die Bevölkerung will, oder zum Rücktritt gezwungen werden.
Sind die Differenzen zwischen dem „Alten Europa“ und den USA im Hinblick auf den Irak Ausdruck einer wachsenden politischen und wirtschaftlichen Rivalität zwischen diesen Ländern und den Vereinigten Staaten?
Der Begriff „Altes Europa“ ist interessant, und zwar aus einer Reihe von Gründen. Er wurde von Rumsfeld erfunden und machte von da aus seine Runde. Er wird jetzt von der westlichen Elite überall verwendet. Das Kriterium dafür, ob ein Land zum „Alten Europa“ oder zum „Neuen Europa“ gehört, ist glasklar: Ein Land gehört zum „Alten Europa“, wenn die Regierung, aus welchem Grund auch immer, dieselbe Haltung eingenommen hat wie die große Mehrheit der Bevölkerung. Es gehört zum „Neuen Europa“, wenn es sich gegen eine noch größere Mehrheit der Bevölkerung stellte und stattdessen den Befehlen aus Washington gehorchte. Das „Alte Europa“ wird verdammt, während das „Neue Europa“ gelobt wird und als die Hoffnung der Zukunft gilt. Darin kommt ein derartiger Hass auf die Demokratie zum Ausdruck, dass es wirklich kaum zu glauben ist. Und dieser Tatbestand wurde so gut wie keines Kommentars gewürdigt.
Der dramatischste Fall war die Türkei. In der Türkei waren 95 Prozent der Bevölkerung gegen den Krieg, und zur Überraschung aller stimmte das Parlament mit einer knappen Mehrheit dafür, dem Willen von 95 Prozent der Bevölkerung Genüge zu tun. Colin Powell drohte der Türkei sofort mit der Einstellung jeder Hilfe, und Paul Wolfowitz, der große Visionär, verurteilte das türkische Militär dafür, dass es nicht interveniert hatte, um die Regierung von diesem schrecklichen Fehler abzuhalten. Er verlangte von ihnen, sich bei den Vereinigten Staaten zu entschuldigen und sich darüber klar zu werden, dass ihre Aufgabe in der Unterstützung Amerikas besteht. Das ändert nichts daran, dass Wolfowitz weiterhin als großer Visionär gilt.
Auch hier war die Reaktion der Presse wieder ziemlich interessant. Sie verurteilte fast einmütig die Türkei und begann, zum ersten Mal, über die türkischen Gräuel gegen die Kurden in den neunziger Jahren zu berichten. Das hatte sie zuvor noch nie getan, aber um zu zeigen, wie schrecklich die Türken sind, weil sie sich geweigert hatten, den Befehlen aus Washington zu gehorchen, fing sie nun an, darüber zu berichten, was die Türken den Kurden angetan hatten. Natürlich sagte die Presse nichts darüber, dass die Türken diese Untaten nur begehen konnten, weil sie so viel Militärhilfe aus den Vereinigten Staaten bekamen, und dass diese Hilfe intensiviert wurde, während die Gräuel immer schlimmer wurden. Und natürlich schrieb die Presse nichts darüber, dass sie selbst nicht über diese Gräueltaten berichtet hatte, als solche Berichte dafür hätten sorgen können, dass die Schrecken aufhören. Das ist niemals ein Thema.
Statt dessen brachte der Korrespondent der New York Times, Nicholas Kristof, einen Artikel über Heuchelei.[2] Das war das Thema. Es ging um die Heuchelei der arabischen Staaten, die jetzt gegen die Gräuel der USA protestieren, aber nie gegen die Gräuel der Türken gegen die Kurden protestiert haben. Das stimmt – solche Proteste sind heuchlerisch. Aber was hat Nicholas Kristof getan, als die Türkei, finanziert von den Vereinigten Staaten, ihre Gräuel beging? Hätte er damals davon gesprochen, hätte man sie leicht verhindern können, aber er ließ keinen Mucks hören. Und auch jetzt hören wir von ihm nichts über US-finanzierte Gräuel, und niemand wird je auf diesen Aspekt seines Verhaltens hinweisen, entweder, weil die jeweiligen Leute keine Ahnung davon haben oder weil sie nicht darüber sprechen wollen.
Das ist also schon mal ein Kriterium, aber zudem gibt es noch ein weiteres Kriterium, das mehr oder weniger damit korreliert. Das „Alte Europa“ ist das wirtschaftliche, kommerzielle, industrielle und finanzielle Zentrum Europas. Das „Neue Europa“ liegt an den Rändern dieses Zentrums. Nicht erst seit gestern, sondern schon seit dem Zweiten Weltkrieg treibt die USA die tiefe Sorge um, dass Europa einen unabhängigeren Kurs einschlagen könnte. So um 1970 herum hatte Europa sich so weit vom Krieg erholt, dass es wirtschaftlich mit den Vereinigten Staaten gleichgezogen hatte. 1973 war „das Jahr Europas“, in dem Europa seine Wiederauferstehung vom Krieg feiern sollte. Aus diesem Anlass hielt Henry Kissinger eine wichtige Ansprache, nämlich die „Rede zum Jahr Europas“, in der es in erster Linie darum ging, dass die Europäer sich auf ihre „regionalen Verantwortlichkeiten“ innerhalb des „großen Ordnungsrahmens“ beschränken sollten, dessen Kontrolle den Vereinigten Staaten obliege.
Der entscheidende Punkt ist, dass sämtliche europäischen Unabhängigkeitsbemühungen sich auf Frankreich und Deutschland stützen müssen. Das ist einer der Gründe, weshalb die Vereinigten Staaten sich so für die Erweiterung der EU einsetzen. Die USA gehen davon aus, dass sie den Einfluss Europas schwächen können, indem sie diese ehemaligen Satelliten der Sowjetunion in die EU bringen, bei denen sie, wahrscheinlich zu Recht, davon ausgehen, dass sie in stärkerem Maß unter dem Einfluss der USA stehen werden. Aus demselben Grund befürworten die USA auch eine Mitgliedschaft der Türkei – damit die EU in stärkerem Maß unter US-Einfluss steht.
Und inzwischen gibt es für die USA noch eine größere Bedrohung, nämlich Nordostasien. Nordostasien ist die am raschesten wachsende Wirtschaft der Welt, das Bruttosozialprodukt der Region ist bedeutend größer als das Nordamerikas oder Europas, es hat die Hälfte der Finanzreserven der Welt, es gibt Rohstoffe in Sibirien, und diese Region könnte sich in eine unabhängige Richtung entwickeln. In diesem Gebiet befinden sich zwei der größten industriellen Ökonomien der Welt, nämlich Japan und Südkorea. Chinas Wirtschaft wächst und befindet sich an der Peripherie Ost-Sibiriens, wo es viele Ressourcen gibt – darunter ein großer Teil der Ölreserven der Welt.
Das sind also die wirklichen Probleme der Weltordnung, und ein Großteil der Geschehnisse im Nahen Osten hängt genau damit zusammen. Die USA müssen die wichtigsten Energiequellen kontrollieren, um dafür zu sorgen, dass Europa und Asien sich nicht auf Abwege begeben. Europa und Asien wiederum sind teilweise gehorsam, aber nicht immer, wie zum Beispiel in ihrer Politik gegenüber dem Iran. Die USA geben sich große Mühe, Europa und Japan davon abzuhalten, in die iranische Ölproduktion zu investieren, aber sie tun es trotzdem. Japan hat gerade einen Vertrag über viele Milliarden Dollar zur Entwicklung eines großen iranischen Ölfeldes abgeschlossen. Den USA hat das nicht gefallen, aber sie können nicht viel dagegen tun – hier handelt es sich durchaus um ernsthafte Konflikte.
Einer der Gründe für die Invasion des Irak war die Tatsache, dass Frankreich und Russland den geschäftlichen Zugang zum Irak hatten und das irakische Ölsystem kontrollierten. Damit ist nun natürlich Schluss. All das sind Themen und Konflikte, die weit in die Vergangenheit zurückreichen.
Tatsächlich spielt dabei auch Deutschland eine große Rolle. 1952 machte Stalin das Angebot einer Wiedervereinigung Deutschlands inklusive international überwachter demokratischer Wahlen, Wahlen, die die Kommunisten mit Sicherheit verloren hätten. Er stellte nur eine Bedingung, nämlich die, dass es keine Wiederbewaffnung Deutschlands im Rahmen eines westlichen Militärbündnisses geben dürfe, eine Forderung, die angesichts der Geschichte der vorausgegangenen Jahrzehnte ziemlich einleuchtend war. Dieses Angebot wurde, als es gemacht wurde, in den Vereinigten Staaten erst einmal unterschlagen, weil es zum falschen Zeitpunkt kam – nämlich als die US-Regierung sich darum bemühte, die Mittel für einen rasanten Anstieg der Militärausgaben zusammenzubringen. Aber dann sickerte es doch durch, und es gab einige Diskussionen darüber.
Damals wurde ein Buch von einem ziemlich bekannten und einflussreichen politischen Kommentator, James P. Warburg aus der Warburg-Familie, einem recht bedeutenden Mann also, veröffentlicht, und er brachte dieses Thema auf. Das Buch hieß Germany, Key to Peace und kam 1953 heraus,[3] und er sprach darin über dieses Angebot, worauf er heftig kritisiert und verhöhnt wurde: „Wie konnte er auf die Idee kommen, dass Stalin Frieden geschlossen hätte?“ Nun, auf die Frage, ob Stalin das wirklich getan hätte, gibt es keine definitive Antwort. Wie sich jetzt anhand der Materialien in den russischen Archiven herausstellt, meinten die Russen es wahrscheinlich ernst.
Uns gegenüber hat man im Geschichtsunterricht behauptet, das sei kein ernstgemeintes Angebot, sondern nur eine taktische Finte Stalins gewesen.
Das stimmt einfach nicht. Genau dasselbe wurde damals gesagt, aber der richtige Weg, herauszufinden, ob es nur Taktik war, wäre gewesen, das Angebot anzunehmen und zu sagen, gut, machen wir es so, und wenn Stalin dann einen Rückzieher gemacht hätte, hätte es sich als Finte erwiesen, aber genau das wollte man im Westen nicht tun. Und die Historiker weisen auf diesen einfachen Tatbestand nicht hin. Aber jetzt werden die Archive geöffnet und es gibt andere Materialien, und sie deuten in zunehmendem Maß darauf hin, dass die Stalin-Offerte ernstgemeint war – nicht zuletzt deshalb, weil sich jetzt herausstellt, dass die Russen sehr gut verstanden hatten, dass die Vereinigten Staaten versuchten, sie auf dem Wege des Wettrüstens wirtschaftlich in die Knie zu zwingen. Sie wussten, dass die USA eine viel stärkere Wirtschaft hatten und dass sie mit den Militärausgaben der USA auf keinen Fall mithalten konnten. Selbst die schlimmsten Verbrecher wie Berija[4] machten in Bezug auf Deutschland dasselbe Angebot wie Stalin: Wiedervereinigung Deutschlands durch demokratische Wahlen, unter der Voraussetzung, dass Deutschland entmilitarisiert bleibt. Und Beria war eines der schlimmsten Ungeheuer. Aber er und später Chruschtschow vertraten glasklar die Meinung, die Vereinigten Staaten versuchen uns tot zu rüsten, wir können mit diesen Militärausgaben nicht mithalten, und 1954, als Chruschtschow an die Macht kam, machte er Eisenhower den Vorschlag, beide Seiten sollten ihre Militärausgaben zurückschrauben und ihre offensiven Militärpotentiale zurückfahren. Die Eisenhower-Administration ging nicht darauf ein, aber die Russen taten es trotzdem, einseitig und gegen den Widerstand der russischen Generäle, denen das gar nicht gefiel. Später fuhren sie die russischen militärischen Offensivkräfte scharf zurück und forderten die Kennedy-Administration auf, dasselbe zu tun. Dort dachte man darüber nach, aber das Ergebnis war stattdessen eine rapide Steigerung der Militärausgaben der USA. Dann kam die Kubakrise, in der die Russen wirklich gedemütigt wurden. Die Kennedy-Administration unternahm alles, um die Russen zu erniedrigen, und das wurde den russischen Militärs schließlich zu viel. Sie stürzten Chruschtschow und beteiligten sich an diesem wahnwitzigen Rüstungswettlauf, bis sie in den Militärausgaben ungefähr mit den USA gleichgezogen, dabei aber ihre Wirtschaft ruiniert hatten. Tatsächlich kann man, wenn man sich die russischen Statistiken anschaut, sehen, dass die sechziger Jahre die Zeit waren, in der die Wirtschaft zu stagnieren begann, die Gesundheitsstatistiken schlechter wurden und vieles andere mehr. Es war die Kennedy-Administration, die dafür sorgte, dass ihrer Wirtschaft die Puste ausging. Wenn die Kennedy-Regierung den russischen Vorschlägen zugestimmt und kooperiert hätte, wäre vielleicht schon früher eine Figur wie Gorbatschow aufgetaucht, und der Welt wären vielleicht alle möglichen Schrecken erspart geblieben. Russland wäre möglicherweise ein sanfterer Übergang zu einer Art sozialdemokratischer Wirtschaftsform gelungen, und es hätte nicht die Katastrophe der letzten zehn Jahre durchleiden müssen. Auch was diese Lektion betrifft, bezweifle ich, dass man bei euch im Geschichtsunterricht darüber spricht. Aber unter ernsthaften Wissenschaftlern sollte all das eigentlich nicht mehr kontrovers sein.
Selbst die antikommunistischsten Wissenschaftler, wie der mir persönlich bekannte, vor ein paar Jahren verstorbene Adam Ulam,[5] der ein sehr guter polnisch-amerikanischer Sowjetologe in Harvard war, wie alle Polen die Russen hasste und ein großer Antikommunist war – selbst er begann kurz vor seinem Tod Artikel über das Angebot von 1952 zu schreiben, in denen er sagte, es sehe mehr und mehr danach aus, als sei es ernstgemeint gewesen. Beweisen lasse sich das natürlich nicht, aber es sei sicherlich ein Fehler gewesen, nicht auszuloten, was es damit auf sich hatte – wenn deine Lehrer also noch weiter rechts stehen als Adam Ulam, dann kann ich dir nur sagen, dass sie wirklich sehr weit rechts stehen!
Innerhalb unserer intellektuellen Eliten gibt es eine Diskussion über das so genannte Problem eines „Demokratiedefizits“ im Hinblick auf die Institutionen der Europäischen Union. Das Problem wird im allgemeinen als ein bloßes Public-Relations-Problem diskutiert – wobei man davon ausgeht, Demokratie bedeute, dass „Führungspersönlichkeiten rechenschaftspflichtig sind und in letzter Instanz von der Bevölkerung abberufen werden können“. Um dem Genüge zu tun, reicht es dieser Auffassung zufolge aus, wenn die gewählten Parlamente ihre Vertreter für die europäischen Institutionen ernennen. Wie denkst du darüber? Stellt die Europäische Union einen Versuch dar, den Einfluss der Bevölkerung auf die Politik zu reduzieren?
Es ist interessant, dass die Rechte in den Vereinigten Staaten über das Demokratiedefizit in Europa entsetzt ist. So findet man in Foreign Affairs – diese Zeitschrift ist nicht wirklich rechts, das sind eher Mainstream-Konservative – Artikel, in denen die Unabhängigkeit der Europäischen Währungsbank heftig gegeißelt wird. Sie sei äußerst undemokratisch, habe einen starken, vorwiegend negativen Einfluss auf die europäische Wirtschaft, und unterliege keinerlei öffentlicher Kontrolle, womit sie eine noch viel größere Rolle als die Federal Reserve Bank in den Vereinigten Staaten spiele – so wurde sie in Foreign Affairs kritisiert.
Die Idee, dass Abgeordnete von ihrer Wählerschaft abberufen werden können, ist durchaus stimmig, wenn man tatsächlich eine funktionierende Demokratie hat, aber funktionierende Demokratie bedeutet Beteiligung der Bevölkerung, und nicht, dass sie alle paar Jahre ein Kreuzchen irgendwohin macht; es bedeutet, dass sie sich organisiert, ihre Kandidatinnen und Kandidaten auswählt und sie regelmäßig wieder abberuft und vieles andere mehr, und so etwas haben wir gar nicht. Was wir stattdessen haben, ist eine Art politische Klasse, die eng mit den wirtschaftlichen Eliten und dem Führungspersonal der Wirtschaft verbunden ist und aus diesem Kreis ausgewählt wird. Und man erlaubt der Bevölkerung, die dort getroffene Wahl auf die ein oder andere Art zu ratifizieren, aber das ist keine Demokratie. Tatsächlich wird so etwas in der Politikwissenschaft Polyarchie genannt, nicht Demokratie.
Dies gilt für die Vereinigten Staaten in besonders extremem Maß, aber es gilt auch für Europa, wenn auch nicht so stark, wegen des Faktors, über den wir vorhin gesprochen haben. Europa hatte in der Bevölkerung verankerte Parteien – Arbeiterparteien, sozialdemokratische Parteien und so weiter, und das machte einen gewissen Unterschied. So liegt zum Beispiel die Wahlbeteiligung in den Vereinigten Staaten viel niedriger als in Europa, und das ist ein Phänomen, zu dem ausführliche Studien angestellt worden sind, von denen die wichtigste schon vor langer Zeit, so um die 1980, veröffentlicht wurde.[6] Heute ist dieses Phänomen noch ausgeprägter.
Walter Dean Burnham, ein Politikwissenschaftler, hat eine Art sozioökonomischer Analyse der Nichtwähler in den Vereinigten Staaten durchgeführt, und dabei stellte sich heraus, dass sie ihrem Profil nach sehr stark den Wählern in Europa ähneln, die für die Arbeiterparteien oder die sozialdemokratischen Parteien stimmen. Diese Option gibt es in den Vereinigten Staaten einfach nicht, und daher gehen diese Leute dann gar nicht wählen. Aber der Kontrast, den Europa zu diesem Modell darstellte, schwindet immer mehr. Europa folgt jetzt selbst mehr und mehr dem amerikanischen Modell, und das bedeutet, dass es sich immer weiter weg von einer Demokratie und hin zu einer Polyarchie entwickelt. In den Vereinigten Staaten war das politische System von vornherein so angelegt; die Verfassung war darauf angelegt, dass es so funktioniert, und so ist es dann aus allen möglichen Gründen im Großen und Ganzen auch geblieben. Aber die Länder Europas haben ihre eigene Geschichte, und hier ist jetzt ein klarer Trend in Richtung Polyarchie erkennbar.
Ihr wisst über die Dinge, über die ich jetzt spreche, besser Bescheid als ich, und ich habe Vorbehalte, über Europa zu sprechen, aber meinem Eindruck nach bewegt sich Europa in zwei entgegengesetzte Richtungen. Einerseits bewegt es sich in Richtung Zentralismus und Demokratiedefizit, auf der anderen Seite gibt es Entwicklungen hin zu einer Art Regionalismus, als Reaktion auf den ersten Trend. Wenn man sich in Europa umsieht, findet man einen zunehmenden Druck zugunsten regionaler Autonomie, die Belebung traditioneller Sprachen und der regionalen Kultur, ein gewisses Maß an politischer Autonomie und so weiter und so fort. Am fortgeschrittensten ist dieser Prozess in Spanien. Spaniens Struktur wird immer föderaler, wie zum Beispiel in Katalonien. Das Katalanische, die Sprache Kataloniens, hat sich vollständig regeneriert, und dasselbe gilt auch für andere Bereche der katalanischen Kultur. Vor einigen Jahren wohnte ich in einem Hotel im Stadtzentrum von Barcelona, und am Sonntagmorgen strömten die Leute von überall her auf den Stadtplatz vor der Kathedrale und führten traditionelle katalanische Volkstänze mit katalanischer Musik und ähnlichem auf. Dasselbe geschieht im Baskenland, es geschieht in Asturien, in Galizien, und es gibt einen Druck zur Auflösung des künstlich konstruierten spanischen Staates in regionale Gebiete, die den Gegebenheiten besser angepasst sind. Ähnliche Entwicklungen finden in England statt. In Wales hat sich die lokale Sprache wiederbelebt, die Kinder sprechen untereinander Walisisch, es gibt eine walisische nationale Identität. Dasselbe findet sich in gewissem Maß in Schottland und ein wenig auch in Frankreich.
Meines Erachtens handelt es sich hier um begrüßenswerte Entwicklungen, die vielleicht ein Gegengewicht zu den zentralistischen Tendenzen der Europäischen Union darstellen und dem deutlichen Demokratiedefizit entgegenwirken könnten, das auf eine Form der Zentralisierung zurückgeht, die der Bevölkerung immer weniger Zugang zur Macht gewährt. Regionalisierung ist keine schlechte Idee. Das System der Nationalstaaten ist ein sehr künstliches und brutales System, und das ist der Grund, weshalb Europa Jahrhunderte lang der grausamste Ort der Welt war: Weil Europa versuchte, dieses wahnsinnige System mit Gewalt durchzusetzen, und weil die meisten Konflikte im Rest der Welt letztendlich Konsequenzen der Versuche Europas sind, dieses System durchzusetzen. Die Auflösung dieses Systems könnte eine gesunde Entwicklung sein.
Du weist oft auf ein grundlegendes moralisches Prinzip hin, an dem du dich orientiertst: „Man ist verantwortlich für die vorhersehbaren Konsequenzen seiner eigenen Handlungen; man ist nicht verantwortlich für die vorhersehbaren Konsequenzen der Handlungen anderer.“ Heißt das, dass europäische Aktivisten sich stärker auf das konzentrieren sollten, was ihre eigenen Regierungen tun, und weniger auf das weltweite Vorgehen der USA?
Das hängt von der Antwort auf die Frage ab: „Was sind die Konsequenzen meiner Verwicklung in das, was die USA weltweit tun?“ Und hier gibt es Konsequenzen, reale Konsequenzen. Wenn Deutschland zu irgendetwas Stellung bezieht und die deutsche Bevölkerung in Deutschland Stellung zu etwas bezieht, hat das einen indirekten Einfluss darauf, wie die USA handeln. Und man muss immer versuchen, herauszufinden, wie groß dieser Einfluss ist. Als zum Beispiel die Deutschen auf die Straße gegangen sind und gegen den Krieg gegen den Irak protestiert haben, war das von großer Bedeutung, so etwas hat einen Einfluss auf die US-Politik.
Aber das Kriterium ist immer dasselbe. Ich meine, das Kriterium ist nicht einmal diskutierbar. Leute, die dieses Kriterium nicht verstehen können, sollten besser den Mund halten oder sagen, gut, ich bin eben ein Nazi. Denn dieses Prinzip ist ja auch in persönlichen Angelegenheiten einfach elementar; andererseits ist die Frage seiner praktischen Anwendung durchaus kompliziert. Aus diesem Kriterium könnte hervorgehen, dass man sich mehr um die örtlichen Probleme in Oldenburg kümmern sollte; es könnte besagen, dass man sein Augenmerk auf die Welthandelorganisation WTO und die US-Initiativen dort richten sollte. Wie dieses Kriterium auf Fälle der realen Welt angewendet werden sollte, muss man jeweils herausfinden, aber das Kriterium selbst ist nicht diskutierbar. Es ist ja so, dass Deutschland nicht Ruanda ist, es hat großen Einfluss auf die internationale Politik, und daher kann das, was in Deutschland geschieht, einen großen Unterschied machen. Nehmen wir das Thema, über das wir vorhin sprachen, das Thema der europäischen Unabhängigkeit. Wenn Europa allmählich eine unabhängigere Rolle in der Welt einnehmen würde, könnte das große Auswirkungen haben. Tatsächlich könnte Europa gerade jetzt eine sehr wichtige Rolle bei der Regelung des israelisch-arabischen Konfliktes spielen. Dazu müsste es mit seinem Oberherrn brechen. Es müsste aufhören, den Befehlen des Herrn und Meisters zu gehorchen. Die europäischen Eliten wollen diesen Schritt nicht tun, aber wenn sie durch Druck dazu genötigt würden, könnten sie intervenieren und als Vermittler zu einer Lösung beitragen, die nicht unter Kontrolle der USA steht. Und dasselbe gilt auch für eine Reihe von anderen Gebieten und Bereichen.
Anmerkungen:
* Einige im Text gekennzeichnete Fragen wurden von Michael Schiffmann (MS) gestellt.
[1] Understanding Power. The Indispensable Chomsky, The New Press 2002, S. 289ff. Deutsch: Eine Anatomie der Macht. Der Chomsky-Reader, Europa Verlag 2004, S. 351ff.
[2] Nicholas D. Kristof, „Calling the Kettle Black“, New York Times, February 25, 2004.
[3] James P. Warburg, Germany, Key to Peace, Harvard University Press 1953. Mehr darüber findet sich in Chomskys Buch Deterring Democracy, Verso 1991, S. 24-25, darunter folgende Passage: „Wenn der Vorschlag des Kreml umgesetzt worden wäre, hätte er jede mögliche Art einer sowjetischen militärischen Bedrohung Westeuropas beseitigt. Wahrscheinlich hätte es keine sowjetischen Panzer in Ostberlin 1953, keine Berliner Mauer, keine Invasion in Ungarn oder der Tschechoslowakei gegeben – aber was noch wichtiger ist, auch keine bequeme Rechtfertigung für US-Interventionen und US-Subversion auf der ganzen Welt, für eine staatliche Politik des ökonomischen Managements im Dienste der fortgeschrittensten Industrie oder für ein System der Weltordnung, in dem sich die Vorherrschaft der USA zum großen Teil auf militärische Macht stützte.“ (S. 25) Siehe außerdem Noam Chomsky, Hegemony or Survival. America’s Quest for Global Dominance, Metropolitan Books 2003, S. 223-224, wo Chomsky Adam Ulam zitiert, einen hochgeachteten, extrem antikommunistischen polnisch-amerikanischen Historiker des Kommunismus und der Sowjetunion, von dem auch im vorliegenden Interview kurz die Rede ist (s.u.). Deutsch: Hybris. Die endgültige Sicherung der globalen Vormachtstellung der USA, Europa Verlag 2004; S. 268-269.
[4] Lawrentij Pawlovitsch Berija, Chef des russischen Innenministerium NKWD (später KGB), das wie ein Geheimdienst betrieben wurde; siehe http://de.wikipedia.org/wiki/Lawrentij_Pawlowitsch_Berija.
[5] Adam Ulam (1922 – 2000) ist der Autor vieler Werke über die Sowjetunion und den Ostblock, darunter einer 760-seitigen Biografie Josef Stalins, Stalin: The Man and His Era (1973).
[6] Walter Dean Burnham, “The 1980 Earthquake,” in T. Ferguson and J. Rogers, Herausgeber, The Hidden Election: Politics and Economics in the 1980 Presidential Campaign, Pantheon 1981. Zu verwandten Themen siehe auch Walter Dean Burnham and Martha Wagner Weinberg, American Politics and Public Policy, MIT Press 1980.
Übersetzt von: Michael Schiffmann
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