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31 Juli 2010

Afghanistan - Bericht.von der ATTAC Sommerakademie

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Mitmachakademie

Mitdenken, mitreden, mitmachen. Aufbauen und abspülen. Referieren, teilnehmen, helfen. Nur konsumieren zählt nicht. Wenn alle Hand anlegen, läuft die Sommeraka- demie, das ist Teil der Idee und Teil des Erfolgs. Wer jetzt bereits handgreifliche Hilfe anbieten kann, wird vorgemerkt, aber auch während der Akademie wird es an sponta- nen Möglichkeiten nicht mangeln.


Veranstaltung: „Raus aus Afghanistan"

(Donnerstag 15.00-16.30 Uhr)

http://www.attac.de/uploads/tx_vcjavascriptslideshow/4_02.jpg

SOMMERAKADEMIE  www.attac.de/sommerakademie
Auf unserer beliebten Sommerakademie vom 28. Juli bis 1. August 2010 in Hamburg gibt es Basiswissen, Fachdebatten und Aktionszirkel ...

Mit Spannung erwartete ich diese Veranstaltung. Und ich erwartete Menschen,
die grundsätzlich gegen den Krieg sind und ich erwartete eine Diskussion, in
der Kriegsgegner Anregungen und Ideen brächten, um mehr Menschen im
friedlichen Kampf gegen den furchtbaren Krieg in Afghanistan zu aktivieren.

Doch ein Großteil der Sitzplätze in der kleinen Aula der Gesamtschule
Bergedorf blieb leer. Lag es vielleicht daran, dass ein Teil der
Antikriegsbewegung von Attac ahnte, wie die „Diskussion" ablaufen sollte?

http://www.aspr.ac.at/sak/SAK2008/galerie/08GamaufHaydtMaeder.jpg

Frau Claudia Haydt (Erste Referentin) eröffnete das Trauerspiel. Sie war
sichtlich bemüht, den Krieg in Afghanistan zu erklären. Sie erklärte
dermaßen tiefgründig und eingehend, als säßen just gelandete Außerirdische
vor ihr, denen der Planet Erde, Afghanistan und überhaupt ein Krieg und
seine Auswirkungen und Folgen völlig unbekannt, ja fremd sind.

Ein wenig mag sie der Moderator, Herr Stephan Lindner, verwirrt haben. Für
diesen Herren war der Vortrag der Frau Haydt nicht ganz so wichtig.
Wichtiger war ihm, dem Publikum vorzuführen, dass er sein vor ihm liegendes
eingeschaltetes Handy auch bedienen konnte. Ja, Hut ab, er ließ es klingeln,
nahm ab und führte während des Vortrages mehrere sehr wichtige Gespräche.
Tel. (0176) 2434 2789  Tel.: 030 / 27 59 68 87
Diese Telefonate, die er tatsächlich oben auf dem Podium annahm und sich
dann so lautstark unterhielt, dass Frau Haydt den Vortrag mehrfach
unterbrechen musste, waren (ihm) tatsächlich wichtiger als der ungestörte
Ablauf der Veranstaltung. (Er fühlte sich genötigt, dem Auditorium
mitzuteilen, dass er ja noch andere Aufgaben habe).


Nach dem Prinzip, last not least, erschien dann der zweite Referent, Herr
Arvid Bell, auch schon kurz vor Ende des Vortrages der Frau Haydt.


Dieser sichtlich hyperaktive junge Mann berichtete nun vom Drama der Allianz
in Afghanistan. Er redete wie ein Maschinengewehr, aber leider so leise,
dass man ihn kaum verstehen konnte. Den Vortrag hatte er wohl schon vor
längerer Zeit vorgefertigt. Die Fakten der Wikileaks - Veröffentlichungen
tangierten ihn wenig.

http://i.ytimg.com/vi/aT0BewUPxk0/0.jpg

So beschwor er das Publikum, doch die Probleme beim Abzug der Westtruppen zu
verstehen. Afghanistan könne man nicht sich selbst überlassen. Es müsse dort
erst eine stabile Regierung installiert werden.

http://julia2004.de/wp-content/uploads/2007/11/arvid.png
arvid bell


Seine weiteren Argumente spare ich aus, schon, weil auch ich mir einen Teil
dieser Phrasen erspart habe, ersparen musste. Da mir in der Magengegend ganz
anders wurde, habe ich für ein Viertelstündchen frische Luft geatmet.

Einzig positiv war die Bemerkung der Frau Haydt in der Abschlussdiskussion,
die dann Maßnahmen und Proteste gegen den Krieg forderte.

http://obrag.org/wp-content/uploads/2009/12/Anti-Afghan-demo-12-02-001-sm-street.jpg

Fazit: Sehr traurig das Ganze, sehr traurig auch für einige Zuhörer, die
vehement echte Argumente vorbrachten und gemeinsame Proteste gegen den Krieg
forderten. Doch selbst das Argument, dass der Krieg mittlerweile 9 (neun)
Jahre andauert und es den „Alliierten" in der Zeit nicht möglich war, ein
funktionierendes System in Afghanistan zu implementieren, ließ den jungen
Bell kalt. Er wies auf Kollaborateure hin, die geschützt werden müssten. Die
unbeteiligten Zivilisten, die durch die weitere Gegenwart der Nato in
Afghanistan, durch das weitere Kriegsgeschehen, ihr Leben und ihre
Gesundheit verlieren werden, ließ er außer acht. Seiner Meinung nach ist es
möglich, bis zum festgesetzten Abzugstermin in 2014 das Land zu befrieden
und unter der Herrschaft des seiner Ansicht nach kompetenten Herrn Karsai
sodann zurückzulassen.

Wirklich schade, dass es attack nicht gelungen ist, Herrn Westerwelle, Herr
zu Guttenberg oder den Altrecken Joschka Fischer einzuladen. Diese Herren
hätten den Krieg und die Notwendigkeit des Verbleibes der Truppen in
Afghanistan ebenso erklärt wie der Herr Bell. Doch dann hätte ich am Ende
noch Spaß daran gehabt, die bis zum Rand gefüllte Spucktüte auf das Podium
zu werfen.

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Claudia Haydt

Claudia Haydt studied theology and sociology. Her work focuses on topics such as Israel/Palestine, European militarization, Isalm and peace and conflict studies in general.  She is a member of the directory board of IMI (Informationsstelle Militarisierung e.V.).





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Titel: Raus aus Afghanistan? oder was sonst?
Typ Diskussion
Kategorie 4 - System - Krisen und Alternativen: Krisenanalysen und Alternativen
ReferentIn ModeratorIn: Stephan Lindner; ReferentIn: Arvid Bell, Claudia Haydt
Ort Aula
Zeit Do 15.00 - 16.30

http://www.indymedia.org.uk/images/2007/12/387864.jpg


Beschreibung
Attac hat den Krieg in Afghanistan von Anfang an abgelehnt. Doch wie jetzt, nachdem dort seit Jahren gekämpft wird, ein Rückzug der ausländischen Truppen aussehen soll, ist umstritten. Die einen fordern einen sofortigen Abzug, die anderen vertreten eine Exit-Option. In der Kontroverse sollen beide Positionen aufeinander treffen.


ReferentInneninformationen

Stephan Lindner

ist Diplompolitologe und lebt in Berlin; er hat die bundesweite Attac EU-AG mitgegründet und ist Mitglied im bundesweiten Attac-Koordinierungskreis
Mitglied im Attac-Bundeskoordinierungskreis
Weserstr. 170 * 12045 Berlin; email: stlindner@ipn.de  Tel. (0176) 2434 2789

Arvid Bell

wissenschaftlicher Mitarbeiter der HSFK - Hessische Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung und ehemaliges Mitglied im bundesweiten Attac Koordinierungskreis; war erst vor kurzem direkt in Afghanistan

Claudia Haydt

Soziologin und Religionswissenschaftlerin und Mitglied im Vorstand der Informationsstelle Militarisierung (IMI)



30 Juli 2010

Afghanistan-Code - MORD und TOTSCHLAG

Protokolle eines Krieges
Bild vergrößern
Bilder eines Konflikts. - Foto: REUTERS

92.000 geheime Dokumente des US-Militärs sind öffentlich geworden.
Unser Autor hat große Teile ausgewertet und sie dann mit seinen
Recherchen im Land am Hindukusch abgeglichen. Seine Analyse zeigt: Der
Konflikt wird mit jedem Tag schwieriger zu lösen

Die Schule ist eine der Errungenschaften im Dorf Ali Abod, so ziemlich
alles, was der Flecken seit dem Sturz der Taliban aufzuweisen hat.
Geschützt wird sie von zwei afghanischen Wachleuten. Ein langweiliger
Posten. Bisher gab es hier nur wenige Zwischenfälle, ganz anders als
im benachbarten Kundus. Denn die Provinz von Balkh steht unter der
Kontrolle des allmächtigen Tadschiken-Warlords und Gouverneurs
Mohammed Atta Nur, eines erklärten Feindes der Taliban. Solange er da
ist, herrschten wenigstens Ruhe und Ordnung, hört man von deutschen
Polizeiausbildern immer wieder.

An diesem 17. Oktober 2009 ist es mit der Ruhe vorbei. Vor der Schule
von Ali Abod taucht Mullah Rahmatullah auf – kein Unbekannter, einer
der prominentesten Taliban-Anführer des Landes. Zusammen mit zwei
seiner Gefolgsleute entwaffnet er die Wachen, erbeutet deren Gewehre,
eine Kalaschnikow und einen Karabiner. So jedenfalls hält es die Task
Force Warrior fest. Ihre Beobachtung ist jetzt an die Öffentlichkeit
gelangt, als Teil der gesammelten Einsatzberichte der US-Armee
zwischen 2004 und 2009. Wie viele der von der Nato geführten Teile der
internationalen Schutztruppe Isaf verfügt auch die TF Warrior über
lokale Spione und Zuträger. Der Informant der Amerikaner ist kein
Geringerer als ein Polizeichef, Lieutenant Colonel R. Gouverneur Atta,
sagt der aus, habe „die Leute aufgerufen zu tun, was immer sie wollen,
um die Unsicherheit in der Gegend zu fördern und dadurch zu zeigen,
dass die Regierung von Hamid Karsai unfähig ist, für Sicherheit zu
sorgen". Die Leute? Gemeint sein können nur Kriminelle. Oder die
Aufständischen.
Mehr zum Thema

* Datenleck: Wikileaks düpiert USA mit geheimen Afghanistan-Akten

Dass Berichte wie der über Nord-Gouverneur Atta ans Licht gekommen
sind, liegt auch an zwei Männern: Julian Assange und Daniel Schmitt.
Schmitt, 32, mit kurz gestutztem Vollbart und runder Brille, wohnt in
einer Berliner WG, ein paar tausend Meter vom Verteidigungsministerium
im Bendlerblock. Dort, wo er gerade lebt, quellen Regale von Büchern
über, Kartons voll neuer Software stehen auf dem Boden, bedrucktes
Papier hat sich bis in die Küche ausgebreitet. Der einzige Luxus, den
er sich leistet, ist ein Pseudonym, „um es den Spähern etwas schwerer
zu machen". Andernfalls, meint er, würden Angehörige allzu sehr von
Anwälten und Detektiven derer bedrängt, die brisante
Veröffentlichungen verhindern möchten.

Der Computerfreak ist enger Mitarbeiter von Wikileaks-Herausgeber
Julian Assange. Ihre Informationsplattform macht durch immer neuen
Veröffentlichungen von sich reden, stellt geheimes Material ins Netz.
Dass die Absender anonym bleiben, hat seinen Grund: Vor kurzem ist in
den Vereinigten Staaten ein sogenannter Whistleblower, ein Informant,
verhaftet worden: Bradley Manning, der junge Soldat, der Wikileaks das
Video aus einem Apache-Hubschrauber im Irak zugespielt hatte. Zu sehen
ist darin, wie die Piloten 2007 in Bagdad, mit ihren Bordwaffen
Zivilisten niedermähten, unter ihnen auch einige irakische
Journalisten, kaltblütig und ohne angegriffen worden zu sein. Dem GI
Manning droht jetzt eine lange Haft. Wenn es um die Veröffentlichungen
von Informationen geht, die als geheim klassifiziert sind, versteht
die US-Regierung keinen Spaß. Assange, ein Australier, sah sich
kürzlich genötigt, vorsorglich für ein paar Tage unterzutauchen, aus
Furcht vor den Nachstellungen der US-Regierung.

Nachdem Wikileaks die Einsatzberichte zugespielt wurden, könnte es
jetzt wieder einen Grund zum Untertauchen geben. Sechs Jahre täglicher
Berichte der US-Armee ergeben ein schier unübersehbares Material.
Worin liegt die Bedeutung dieser Quellen? Daniel Schmitt ist ein eher
introvertierter Typ. Doch bei der Antwort auf die Frage zeigt er
Emotionen, redet sich in Schwung. Ihm geht es darum, eine Topografie
des Krieges zu erstellen, ein ungefiltertes Bild, in dem sich jeder
Tag, jede Stunde des Einsatzes widerspiegelt, ein Mitschnitt in
Minuten, ja Stunden Echtzeit, wie er weder vom Zweiten Weltkrieg noch
vom Koreakrieg oder aus Vietnam der Öffentlichkeit vorliegt. „Was hat
man zu welchem Zeitpunkt gewusst? Das ist eine ganz extrem wichtige
Frage in der Politik", sagt er, und: „Wer war zu welchem Zeitpunkt von
was informiert und wer hat trotzdem vielleicht eine bestimmte
Entscheidung getroffen – das ist ein Detailgrad, der enorm wichtig
werden wird."

Viel Routine steckt in den Quellen: ellenlange Berichte über
aufgespürte Straßenbomben, über afghanische Autofahrer, die Konvois
der Isaf zu nahe kommen und mit Warnschüssen verjagt werden.
Aufgezeichneter Militärfunk, Protokolle von Gefechten: so und so viele
Kugeln oder Granaten abgefeuert, so und so viele eigene Tote und
Verwundete, so und so viele bei den Aufständischen. Tag für Tag harte
Kämpfe im Süden, oft nur durch Luftunterstützung zu bestehen. Manchmal
gibt es „Kollateralschäden". Der vom deutschen Oberst Georg Klein
angeforderte Luftangriff von US-Bombern auf von Aufständischen
entführte Tanklaster in Kundus ist unter dem 4. September 2009
verzeichnet. Mit dem Vermerk: „Nachdem er versichert hatte, dass sich
keine Zivilisten in der Nähe befinden, autorisierte der Kommandeur des
PRT (Provinzwiederaufbauteams) Kundus einen Luftschlag."
Bild vergrößern
Fotos: Reuters; dpa; Tsp - Foto: dpa

Aufschlussreich sind vor allem die sogenannten Humints-Einschätzungen
– die Aussagen lokaler Informanten über einzelne politische Akteure,
Aufständische ebenso wie Provinzfürsten oder Regierungsmitglieder. So
finden sich darin Seiten über Seiten zu den Taten und Untaten der
grauen Eminenz, Usbeken-General Abdul Raschid Dostum: Demnach baute
Dostum am offiziellen Entwaffnungsprogramm vorbei eine Privatarmee von
70 000 Mann auf, samt Generalstab und Artillerie. Sein Geheimdienst
ist mit allen technischen Raffinessen ausgestattet, kann die
Mobiltelefone mutmaßlicher politischer Gegner und Rivalen abhören. Er
plant Demonstrationen, hetzt gegen die „Ausländer", um die Isaf unter
Druck zu setzten, organisiert Proteste gegen einen ihm unliebsamen
Gouverneur von Jawjzan, der auch prompt ausgewechselt wird, steht mit
Kidnappern und anderen Kriminellen in Verbindung.

Wo sind die Schicksale der Opfer, fragt sich der Reporter, der die
Provinz durchfahren hat. Ihre Antlitze zeichnen sich beim Lesen der
militärisch trockenen Reports wie im Vexierbild ab, Gesichter – wie
das von Assadullah Ishaqzai. Im Gästehaus eines Lehmdorfs in der
Nordprovinz von Sar-e-Pol hat der Chef einer paschtunischen Gemeinde
im Herbst 2009 Gerichtsurteile und Besitzurkunden auf der Matte vor
sich ausgebreitet. Unter den Usbeken und Tadschiken, die vor allem in
der Gegend wohnen, sind die Paschtunen eine Minderheit. Aber, so
wollte der Gemeindevorsteher belegen: Ihre Häuser und Grundstücke
besitzen sie zu Recht, seit vielen Jahren, mit Brief und Siegel. Mit
gedämpfter Stimme sprach er über die Enteignungen seiner Freunde und
Familienangehörige durch die Milizkommandanten des Usbeken- und
Nordallianzführers General Dostum, der in der Region das Sagen hat.
Während des afghanischen Bürgerkriegs der 90er Jahre, sagte Ishaqzai,
war dieser Teil Afghanistans Hochburg der Nordallianz. Erst spät
nahmen die mehrheitlich paschtunischen Taliban den Landstrich ein.

DIE ROLLE DER USBEKEN

Viele hielten sich damals an der Mehrheitsbevölkerung schadlos,
bestahlen, drangsalierten sie. Ende 2001, als General Dostum mit
Rückendeckung von US-Spezialkräften die Gegend wieder für die Usbeken
zurückeroberte, ging es wieder andersherum und die paschtunische
Minderheit hatte zu büßen: Misshandlungen, Vergewaltigungen, Mord und
Raub. Der Gemeindechef klagte über Abwanderungen und Flucht. Wenn man
zwischen Sar-e-Pol und Masar-i-Scharif entlangfahre, komme man
unweigerlich an all dem Land vorbei, „das die Usbekenkämpfer den
Paschtunen weggenommen haben", sagte der Gemeindevorsteher. Das Bild,
das er in dem Gespräch von Sar-e-Pol zeichnete, der Provinz, die die
Isaf-Karten als ruhig darstellen, als nicht von Taliban kontrolliert,
war desperat: kein Staat. Ethnisch motivierte Willkür. Sämtliche
Schlüsselpositionen mit Dostums usbekischen Unterkommandeuren und
deren Verwandten besetzt. Und die, sagte der Vorsteher damals zum
Reporter, hätten vor allem eines auf der Agenda: die Gegend von allen
Paschtunen zu säubern. Tausende Familien seien nach Pakistan oder in
den afghanischen Süden gezogen. „Unsere Gemeinde gehört zu den
letzten, die noch ausharren. Wir haben die UN um Hilfe gebeten, aber
die reagieren nicht. In der Nachbarprovinz Balkh gab es gezielte Morde
an Paschtunenführern. Viele Angehörige haben vor der UN-Vertretung
demonstriert, aber nichts geschah." Am Sitz der UN in Masar-i-Scharif
stellte der Pressesprecher Sayed Barez im Gespräch von vorneherein
eines klar: „Haben Sie Verständnis dafür, wenn wir uns zu den
Massengräbern nicht äußern." Gemeint waren General Dostums Killing
Fields, auf denen etwa 2000 Taliban-Kriegsgefangene liegen, die der
Usbekenführer 2001 ermorden ließ – unter den Augen von
US-Spezialkräften, wie zahlreiche Quellen belegen. Gab es ein Problem
mit der paschtunischen Minderheit im Norden, Demonstrationen gegen
Mord und Landraub? „Nein." Auf den Einwand, es gebe aber Ton- und
Filmaufnahmen von diesen Protesten, antwortet er: „Aha." Und: Selbst
wenn da vielleicht Proteste stattgefunden hätten, wer könne sagen,
dass es sich um größere Demonstrationen gehandelt habe? Jeden Tag
versammelten sich irgendwelche Leute. Und: „Wenn Sie mehr wissen,
teilen Sie es uns gern mit." Und: Nein, durch Dostum gebe es kein
Problem. Die Provinz sei viel ruhiger als der Süden. „Das muss doch
einfach jeder zugeben." Benachteiligungen von Paschtunen? Auch beim
deutschen Regionalkommando Nord zuckten die Presseoffiziere die
Achseln. „Ach, wissen Sie, was die Afghanen so erzählen ..."
Bild vergrößern


Wollten die UN lästigen Menschenrechtsfragen lieber aus dem Weg gehen?
Sah die Isaf in Leuten wie dem Usbeken-Warlord und seinen bis an die
Zähne bewaffneten Kriegern vor allem Partner? Dass mindestens die
Türkei sich immer wieder für Dostum ins Zeug gelegt hat, geht aus den
jetzt veröffentlichten Quellen eindeutig hervor. Am 1. Juni 2007
beschwert sich die Regierung in Ankara beim US-Botschafter in
Afghanistan darüber, dass die Zentralregierung gegen Dostum die
Polizei einsetze. Das sei „nicht angemessen". Das türkische
Außenministerium schlägt vor, den Warlord für eine Weile in die Türkei
einzuladen, so lange, bis die Wogen sich geglättet hätten.

Aus den Unterlagen lässt sich klar schließen, dass der US-Armee die
ethnisch motivierten Verfolgungen und Menschenrechtsverletzungen im
Regionalkommando Nord seit langem bekannt sind. Bereits im Jahre 2006
beobachtet sie demnach, wie Dostums usbekische Milizenführer die
paschtunische Minderheit im Norden drangsalieren. Die Berichte geben
eine brisante Einschätzung aus dem PRT Meymana wieder und weisen
darauf hin, was passieren könnte, wenn das nicht aufhört: „Das PRT
Meymana hat in den vergangenen Wochen die paschtunischen Gegenden
überwacht, um festzustellen, ob die durch Herrschaft der
Usbekenkommandeure sich angeblich verschlechterten Lebensumstände der
Paschtunen einen fruchtbaren Nährboden für den Radikalismus abgeben
könnten", heißt es im August 2008. Bisher sei das noch nicht
feststellbar. Aber, so warnen die Beobachter, das könne sich von heute
auf morgen ändern: „Zur gegebenen Zeit könnten sich die Paschtunen mit
terroristischen Elementen verbünden", prognostizierte der dortige
Nachrichtenoffizier. „Mögliche Selbstmordattentäter könnten während
der Vorbereitung ihrer Aktionen unter der paschtunischen Bevölkerung
Unterschlupf finden."

Bei einem Besuch drei Jahre später, im Herbst 2009, schienen sich die
Befürchtungen von damals bewahrheitet zu haben. In und um
Masar-i-Scharif war in den Gesprächen mit Vertretern der
paschtunischen Gemeinden immer wieder eins zu hören, eine Art
Leitmotiv: Man sei nicht grundsätzlich gegen ausländische Truppen, im
Gegenteil, die hätten ein guter Schutz gegen die Warlord-Willkür sein
können. Jetzt aber registrierten die Paschtunenvertreter im Norden,
dass Akteure wie Dostum gar nicht bestraft und aus dem Verkehr gezogen
wurden, im Gegenteil. Die neue US-Strategie der Aufstandsbekämpfung,
das belegen die Dokumente, setzte inzwischen explizit auf
Lokalmilizen. Sie sollten afghanischen Sicherheitskräften und Isaf als
dritte Macht zu Hilfe kommen. Lokalmilizen bedeutete im Norden: die
Verbände der alten Nordallianz-Warlords. Auf viele Paschtunen wirkte
das wie eine Parteinahme der Ausländer zugunsten derjenigen, die sie
seit langem drangsalierten. Und auf die Frage, ob es eine Option wäre,
sich mit den ebenfalls paschtunischen Taliban zu verbünden, hieß es
jetzt oft: „Klar. Wenn die uns helfen."

2006 WAR EIN WENDEPUNKT

Die in den Berichten dokumentierten Humints-Aussagen lassen erkennen:
Was in Afghanistan stattfindet, ist weniger ein Krieg gegen den
islamistischen Terror. Es ist vor allem ein Machtkampf unter den
Warlords um die ethnische Vorherrschaft im Land; eine von den
Nord-Ethnien dominierte Regierung mit einem Paschtunen an der Spitze.
Für eine kurze Zeit funktionierte die Balance. Doch bald mehrten sich
die Intrigen unter den Führern dieser unterschiedlichen
Bevölkerungsteile. Die Berichte ergeben eine Art Dramaturgie, in der
das Jahr 2006 offenbar ein Wendejahr ist. Das Jahr, von dem an die
Lage außer Kontrolle geriet. Das Jahr, in dem Karsai aufhörte, die
Galionsfigur der Nordallianz-Warlords und gleichzeitig ein „Mann des
Westens" zu sein. Am 12. Dezember melden die US-Spione: Usbekenführer
Dostum hat sich mit den bekanntesten Warlords der Nordallianz
verbündet, um einen Putsch gegen Präsident Karsai vorzubereiten.
Anwesend bei einem Treffen waren die wichtigsten Partner des Westens:
die Nordallianzler, die, dank der US-Armee, die Taliban aus
Afghanistan vertreiben konnten. Jetzt sind die Zeiten andere,
konstatieren auch die anderen: Marschall Mohammed Fahim und
Burhanuddin Rabbani, der Expräsident aus den Zeiten des Bürgerkrieges.
Die afghanische Bevölkerung ist unzufrieden, immer mehr Menschen
empören sich über Kollateralschäden durch westliches Militär. Die
alten Haudegen wittern eine Chance und beschließen, das Hindernis, den
Aushänge-Paschtunen Karsai, aus dem Weg zu räumen, ihren Gönnern von
einst den Rücken zu kehren, die Macht direkt zu ergreifen. Ihr Ziel
war, „das Land von den Fremdherrschern zu befreien, die derzeitige
Regierung auszuwechseln und eine neue Regierung aus Mudschaheddin zu
proklamieren". So heißt es im entsprechenden Report vom Dezember 2006.
Den Milizen und Parteiverbänden der einzelnen Führer sollen dafür
Waffen ausgeteilt werden. Zum ersten Mal in der Geschichte könne die
Dominanz der Paschtunen in Afghanistan gebrochen werden. „Geheim",
vermerkt der Protokollant des Armeereports, fügt aber lakonisch an:
„Kann an die afghanische Regierung weitergegeben werden." Was offenbar
geschehen ist. So jedenfalls ließe sich Karsais bislang nur schwer
nachvollziehbares, für Außenstehende oft widersprüchliches Verhalten
deuten. Es lässt den Schluss zu, dass sich seine Amtszeit in zwei
Perioden teilt: die Zeit vor und nach dem geheim gebliebenen
Putschversuch vom Dezember 2006. Um seine Haut zu retten, fängt der
Präsident Ende 2006 an, sich eine Lebensversicherung aufzubauen, eine
Hausmacht aus paschtunischen Fundamentalisten, die ihn notfalls gegen
die putschlüsternen Nordallianzler verteidigen kann.

DIE PAKISTAN-CONNECTION

Seiten über Seiten finden sich in den Dokumenten auch über die
Aktivitäten des pakistanischen Geheimdiensts ISI im Nachbarland
Afghanistan. Außer den Taliban setzt der ISI vor allem die Gruppe um
den Altfundamentalisten Gulbuddin Hekmatyar ein. Einst wichtigster
Verbündeter Pakistans und der USA im Kampf gegen die Sowjets in der
Region, ist der selbst ernannte Gotteskrieger abgetaucht und kämpft
mit seinen Leuten gegen die Isaf. Hekmatyar trifft sich den Berichten
zufolge mit dem ISI, erhält Instruktionen, trifft sich mit
afghanischen Gefolgsleuten, teilt ihnen Geld für Selbstmordattentate
aus. Einmal, im Oktober 2006, schaltet sich sogar ein pakistanischer
General namens Suaeb ein und gibt einer von Hekmatyar finanzierten
Gruppe Tipps, wie man am besten Raketen auf den Nato-Flughafen von
Bagram abschießt, nämlich an einer Stelle 20 Kilometer vom Flughafen
entfernt, und zwar unbedingt „von feuchtem Boden aus, damit kein Staub
aufwirbelt, der den Isaf-Truppen die Abschussstelle verraten könnte".
Auch bei dieser Lektüre stellen sich Assoziationen ein – an die Zeit
kurz nach den afghanischen Präsidentenwahlen. Im Oktober 2009 hatte in
einem der besseren Viertel Kabuls, dort, wo die sogenannten
„Drogenpaläste" der Provinzgewaltigen wie Pilze aus dem ungeteerten
Boden sprießen, Abdelhadi Arghandehwal dem Gast aus Deutschland auf
dem Teppich seines Büros seine Analyse der Situation präsentiert. Der
Alt-Mudschahed hat lange Jahre mit Hekmatyar gemeinsam gegen die
Sowjets gekämpft, war dessen Finanzminister. Mit seinem graumelierten
Bart und seiner randlosen Kappe sah er wie ein typischer Paschtune
aus, sprach sein Englisch allerdings mit texanischem Einschlag,
Reminiszenz an jene Tage, als der Islamismus im Allgemeinen und
Hekmatyars Gruppe im Besonderen noch aus Mitteln der CIA großzügig
gefördert wurde. Kurz vor den Wahlen war die alte Hekmatyar-Partei,
die Hizb Islami, ein Bündnis mit dem Präsidenten eingegangen. „Karsai
hat nur durch uns gewonnen", betonte Arghandehwal ebenso beiläufig wie
selbstbewusst. „Wir haben ihm Millionen Stimmen eingebracht." Für
seine Unterstützung hat der Präsident ihn mit dem Posten des
Wirtschaftsministers belohnt. Karsais Bedingung bestand darin, dass
Arghandehwal und seine Leute unmissverständlich Hekmatyar abschwören
und sich mit ihrer „Hizb Islami Light" der afghanischen Verfassung
unterordnen. Gesagt, getan. Die Erinnerung an Hekmatyar, den
US-Alliierten von damals und Taliban-Alliierten von heute, beteuerte
Arghandehwal, gehöre heute in seiner Partei nur noch zur
Traditionspflege, es gebe zu dem Mann keine politischen Verbindungen
mehr.

Gern vermittelte der Parteichef anschließend den Kontakt zu einer
Regionalgruppe der Hizb Islami in der Nordprovinz von Balkh. Deren
Versammlungsort befand sich unweit von Masar-i-Scharif, in einem
Flecken aus Lehmhäusern inmitten verdorrter Felder. Im Haus des
Hizb-Islami-Deputierten fiel ein ganz bestimmter Mann auf: Zabet
Khanjar, einer der bekanntesten lokalen Gefolgsleute Hekmatyars und
Mitglied in dessen militanter Hizb Islami. Über Khanjar finden sich in
den militärischen Geheimreports viele Zeilen. Demnach gehört er zur
militanten Hizb Islami Hekmatyars, hat sich mit Hekmatyar getroffen
und Geld für Terroranschläge im Norden erhalten, unter anderem auch
Sprengstoffattentate, die mithilfe Behinderter ausgeführt wurden. Eine
seiner letzten bekannt gewordenen Aktionen in der Region ist,
bestätigen lokale Journalisten, der Anschlag auf einen Isaf-Konvoi im
Spätherbst 2009. Die Verbindungen der „legalen" Hizb Islami und
Hekmatyar sind offenbar intakt.

Was diese Beobachtungen aber noch brisanter werden lässt, sind die
Berichte über die Verbindungen Hekmatyars zum pakistanischen
Geheimdienst. Wie ein roter Faden lassen sich die Aktionen des ISI von
2004 bis 2009 verfolgen und überdauern auch den Wechsel von der
Regierung Musharraf bis zur neuen Regierung in Islamabad. Einer der
jüngsten pakistanischen Terrorpläne, von dem in den Reports zu lesen
ist, stammt vom Ende des Berichtszeitraumes, aus dem Oktober 2009:
„Kari Nusrullah vom ISI", steht unter dem 1. Oktober 2009 zu lesen,
„soll jetzt in Kabul eingetroffen sein, um dort Selbstmordanschläge zu
organisieren. Er soll nur als Planer fungieren, während die
Ausführenden aus den Reihen der Taliban genommen werden sollen, die
sich bereits in der Stadt aufhalten." Zählt man eins und eins zusammen
– die Beziehungen Karsais zur „legalen" Hizb Islami, der sein
derzeitiger Wirtschaftsminister entstammt; die anhaltenden Beziehungen
der „legalen" Hizb Islami zur militanten Hizb Islami Hekmatyars;
Hekmatytars Beziehungen zum pakistanischen Geheimdienst – ergibt sich
die Schlussfolgerung: Der ISI sitzt in der Regierung Karsai sozusagen
mit am Kabinettstisch. Und es ergibt sich eine Frage: Wenn das alles
bekannt ist, die Isaf einerseits den paschtunischen Präsidenten Karsai
unterstützt und andererseits dessen Feinde, Nordallianzler wie Atta,
die weg von der Zentralregierung streben, wenn US-Spezialkommandos
deren Milizen aufrüsten und trainieren, wenn die Pakistan-Connection
so eindeutig belegbar ist und damit klar ist, wo sich bei den
Konflikten auch politisch ansetzen ließe – sie sich lösen ließen –,
weshalb setzt der Westen zunehmend auf militärische Lösungen? Warum
gibt es immer mehr gezielte Tötungen und Aktionen von Spezialkräften?
Handelt es sich um Parallelkrieg ohne Mandat? Eine mögliche Antwort
könnte lauten: weil nicht ein Krieg stattfindet, sondern zwei
unterschiedliche Kriege nebeneinander geführt werden.

GEHEIME SPEZIALEINSÄTZE

Mindestens ebenso interessant wie die Einsatzberichte ist das, was
aufgrund einer höheren Geheimhaltungsstufe oft ausgespart ist.
Offensiv-Aktionen, Spezialeinsätze, alles, was nicht unter „Secret",
sondern unter „Top Secret" fällt. Die Analyse der Dokumente vermittelt
den Eindruck, dass deshalb der eine Teil des Militärs vom anderen
nichts weiß. In dem umfangreichen Material finden sich manchmal Spuren
solcher Spezialeinsätze. Spuren, etwa im Fall der US-Task Force 373,
die am 17. Juni 2007 auf einen hohen Al-Qaida-Funktionär Jagd macht –
und dabei auch Opfer unter Zivilisten verursacht: Sechs Kinder starben
im Rahmen der Operation.

Viele Spezialoperationen bleiben unerwähnt. Etwa die von Imam Sahib,
einer Kleinstadt im deutschen Regionalkommando. Der dortige
Ortsvorsteher war über viele Monate wichtiger Ansprechpartner für
deutsche Aufbauprojekte. Entwicklungshelfer und Feldjäger der
Bundeswehr pflegten bei ihm zu übernachten. Anfang 2008 warnt die
US-Armee vor einem möglichen Attentat auf Distriktchef Sufi Manan. Er
sei, so heißt es, für die Isaf eine wichtige Schlüsselfigur. Er sei zu
schützen! Gut ein Jahr später, am 22. März 2009, das bestätigt der
Bundeswehrhauptmann Marc Lindemann, zu dieser Zeit Nachrichtenoffizier
in Kundus, landen US-Spezialkräfte auf dem deutschen Flugplatz in
Kundus, weisen die Bundeswehr an, die Maschinen aufzutanken, fliegen
zum Haus des Distriktchefs, töten fünf seiner Angestellten, unter
ihnen zwei geistig Behinderte. Sufi Manan entkommt dem Kugelhagel wie
durch ein Wunder. Die US-Soldaten nehmen vier Gefangene mit und
fliegen ohne Erklärung wieder ab. „Das war direkt vom Pentagon
angeordnet, an allen Mandaten vorbei", sagte Lindemann. Im
Hauptquartier Kabul war der damalige Isaf-Staabschef General Marco
Bertolini ahnungslos, immerhin der zweithöchste Nato-Militär in
Afghanistan und mit der Koordination der Isaf betraut. Im Gespräch gab
er zu, über die Aktion nicht informiert worden zu sein. „Es gibt
Dinge, in die ich grundsätzlich nicht einbezogen werde, weil man sie
auf noch höherer Ebene plant." Auf noch höherer Ebene? Der General
vollführte eine Kopfbewegung zum Nachbarbüro. Dort saß der Mann, der
in Personalunion die Isaf und die US-Armee befehligte, General Stanley
McChrystal. Heute gehört das Büro General David Petraeus.

Zwei Kriege, einer vom anderen hermetisch getrennt. Der eine unter
international beschlossenen Mandaten. Der andere von Schaltstellen im
Pentagon geführt. Sollten die „beiden Kriege", deren Aktionen oft
widersprüchlich scheinen, dennoch miteinander abgestimmt sein, ließe
das einen anderen Schluss zu: Die afghanischen Akteure werden in einem
klassischen Teile-und-herrsche-Szenario gegeneinander ausgespielt, um
den langfristigen militärischen Einfluss der Nato in der Region zu
sichern.

Doch vielleicht kommen wir bald auch den Strukturen des verborgenen
Krieges in Afghanistan ein Stückchen näher: In allernächster Zeit will
Wikileaks ein neues Dokument veröffentlichen: das Einsatzvideo von
einem US-Luftschlag in der afghanischen Ortschaft Garani. Mindestens
95 Zivilisten starben bei der Aktion. Mitarbeit: Harald Schumann

Der Autor (46) ist freier Journalist und in Afghanistan häufig im
Auftrag der ARD-Rundfunkanstalten unterwegs gewesen. Teilweise war er
bei verschiedenen Armeen „eingebettet", reiste aber auch, als einer
der wenigen westlichen Journalisten, unabhängig durchs Land. Für eine
Afghanistan-Reportage erhielt er 2009 den Otto-Brenner-Preis für
kritischen Journalismus. Im Frühjahr 2010 erschien sein Buch
„Afghanistan-Code. Eine Reportage über Krieg, Fundamentalismus und
Demokratie".

29 Juli 2010

Kirsten Heisig kein Selbstmord (CIA MOSSAD BND)

"Hilfe ist anzubieten, Hilfe ist aber auch anzunehmen"

Kirsten Heisig

Kirsten Heisig. Foto: Robert Strasser

Kirsten Heisig. Foto: Robert Strasser

Von Ruth Pauli

Die Berliner Jugendrichterin Kirsten Heisig konstatiert eine Zunahme der Gewaltkriminalität bei Jugendlichen aus Migrantenfamilien, und sie propagiert einen offensiven Umgang mit dem Problem der Ghettoisierung.

Wiener Zeitung: Sie arbeiten seit 1990 als Jugendrichterin in Berlin und sind derzeit für Neukölln-Nord zuständig, das eine besondere Migrationsproblematik hat.

http://www.deutschlandwoche.de/wp-content/uploads/2010/07/kirstenheisig.jpg

Kirsten Heisig: In Teilen Berlins, wo sich die migrantischen Communities ausgeweitet haben, hat sich eine Kriminalität entwickelt, derer wir mit rein justiziellen Mitteln nicht mehr Herr werden. Dazu gehört ganz vorrangig Neukölln-Nord: 300.000 Einwohner, davon 35.000 türkischstämmig und 10.000 staatenlose Palästinenser. In dem Bezirk leben 88.000 Menschen, die Arbeitslosengeld beziehen. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 23 Prozent, unter Migranten aber bei 60 Prozent. Das ist sozialer Sprengstoff per se. Die Hauptschulen werden überwiegend nur noch von migrantischen Kindern besucht – zu 95 Prozent, fast 100 Prozent. Fast alle ihre Eltern sind Arbeitslosengeldempfänger.

Und vor diesem Hintergrund hat sich eine neue Form der Jugendkriminalität entwickelt?

Sie ist von großer Gewalttätigkeit geprägt. Es wird nicht einfach nur etwas weggenommen, sondern der Sinn der Straftat besteht darin, Gewalt auszuüben. Früher hat eine Truppe migrantischer Jugendlicher eine oder zwei Personen umringt und gesagt: "Handy raus!" Das war's. Jetzt beginnt dann erst das wirklich Hässliche an der Tat. Mit dem Handy kann man ein hübsches Video drehen. Das Opfer wird zusammengeschlagen, manchmal werden ihm mit Eisenstangen die Zähne ausgeschlagen, und das wird gefilmt. Dann werden andere Jugendliche herbeitelephoniert, die sich das angucken können, das Video wird weiter versendet. Das Opfer wird auch verbal erniedrigt. Oft sagen die Opfer mir, das Schlimmste sei gewesen, am Boden zu liegen und als ungläubiger Schweinefleischfresser bezeichnet zu werden.

Wann hat das begonnen?

Mit fällt es seit fünf Jahren auf, dass die Erniedrigung und das massive körperliche Attackieren in den Vordergrund gerückt sind. Nach der Erklärung dafür suche ich noch. Es wird gesagt: Weil die soziale Lage der migrantischen Familien so desolat ist, begehen sie vermehrt Straftaten. Warum man aber ein Opfer zusätzlich zum materiellen Vorteil so extrem körperlich attackieren und auch in seiner Würde herabsetzen muss, kann mir keiner erklären.

Was ist Ihre Erklärung?

Es ist eine Ghettoisierung eingetreten. Alle haben, was sie brauchen: Es gibt den arabischen Metzger, den türkischen Bäcker, Rechtsanwalt und Arzt. Man braucht nicht mehr Teil der Aufnahmegesellschaft zu werden, um vernünftig existieren zu können. Nicht, dass die soziale Lage brillant wäre – die Aufnahmegesellschaft ist hier weiter gefragt – aber ich verspüre einen beidseitigen Rückzug, eine Abgrenzung – wir sind wir und ihr seid ihr. Daraus wird die Berechtigung abgeleitet, diese Abgrenzung in herabsetzende Worte zu kleiden.

0509Einterview

"Zufriedene Menschen arbeiten besser als unzufriedene" – Kirsten Heisig im Gespräch mit der "Wiener Zeitung"- Mitarbeiterin Ruth Pauli. Foto: Robert Strasser

Geht das mit einer Islamisierung Hand in Hand?

Das könnte man denken. Ich bin nicht kompetent genug, das abschließend beurteilen zu können. Aber die verbale Abgrenzung ist da. Zwischen Arabern und Deutschen, Arabern und Türken. Man sagt: Der Araber steht über dem Türken und über dem Deutschen erst recht. Aber meine Jugendlichen erzählen mir nicht: "Ich gehe in eine Moschee und deshalb weiß ich, das wir besser sind als ihr." Dieses Phänomen gibt es nicht.

Nun passiert eine Entwicklung wie in Neukölln-Nord ja nicht über Nacht. . .

Man hat sie geschehen lassen. Als die Schulen 75 oder 80 Prozent Migrantenkinder hatten, wurde das noch nicht thematisiert. Als wir bei 90 Prozent waren, stand dann in den Zeitungen: "Und was machen wir jetzt?" Da wurden dann so geniale Sachen vorgeschlagen wie Bussing . . .

. . . .also das Austauschen von Kindern aus verschiedenen Vierteln mit dem Schulbus.

Das ist nicht wirklich realistisch. Jetzt will man versuchen, die Schulen zu mischen, indem man bei den Gymnasien eine Quote einführt. 30 Prozent der Gymnasiumsplätze sollen unter denen verlost werden, die etwas benachteiligt sind. Die schickt man dann ins Gymnasium, ohne dass sie räumlich oder sozial in der Nähe sind. Auch das halte ich für fragwürdig.

Privatschulen haben dann wohl noch mehr Zulauf?

Die Privatschulen schießen aus dem Boden. Es zeichnet sich eine klare Spaltung ab. Dass man die Hauptschulen abschafft und Sekundarschulen einführt, wo Real- und Hauptschule zusammengelegt sind, halte ich für richtig. Weil sonst die Hauptschule ein reines Auffangbecken ist für die mirgrantischen Kinder und das verbleibende arbeitslose Prekariat. Das kann nicht integrativ wirken.

Lässt sich die Situation in Neukölln-Nord noch ändern?

Das weiß ich nicht, aber man sollte in anderen Bezirken vermeiden, dass sich eine ähnliche Entwicklung vollzieht. Dafür braucht man ein attraktives Schulangebot, interessant für migrantische wie für nicht-migrantische Familien. Denn wenn wir die Ethnien nicht gemischt bekommen – am besten schon im Kindergarten –, dann fährt man alles an die Wand. Es beginnt in den Elternhäusern, da bauen sich die Vorurteile auf. Die migrantischen Eltern äußern sich nicht ausschließlich positiv über die Aufnahmegesellschaft. Umgekehrt ist es genauso. So ist die Auseinanderentwicklung programmiert, die in den Eltenhäusern installiert wird.

Das stimmt wohl auch für das Frauenbild.

Die Kopftuchfrage fällt natürlich in die Religionsfreiheit. Aber wenn die Kinder damit aufwachsen und dann in der Kindertagesstätte und der Grundschule der blonden Erzieherin in Minirock und Latschen sagen: "Du hast mir gar nichts zu sagen, du trägst kein Kopftuch", dann ist für ein friedliches Miteinander schon viel Boden verloren. Wir müssen Geld in intelligente Erziehungskonzepte und nicht in einzelne über die Stadt verstreute Projekte investieren. Es geht um attraktive Kindergärten und Schulen. Gemischtethnisch, also 50 zu 50 muss der Standard sein, damit die Kinder miteinander umgehen lernen, bevor sich das Vorurteil ausgepägt hat. Das kostet natürlich Geld.

Sie gehen als Richterin einen neuen Weg: Sie setzen die Schulpflicht durch.

Als Jugendrichterin komme ich an die Eltern erst heran, wenn die Straftaten begangen worden sind, und das Jugendamt mir den Lebenslauf schildert. Dann sehe ich den sozialen Hintergrund, ob die Eltern arbeiten, wieviel Kinder vorhanden sind etc. Da sind wir häufig zu spät dran. Wenn einer im Alter von 15 Jahren massive Gewaltdelikte begeht, gar nicht oder sehr selten zur Schule gegangen ist, was soll ich da machen? Da ist die Schulpflicht schon durch. Man muss auf die Familien schauen, bevor das Schulversäumnis sich verfestigt hat. Und da habe ich festgestellt, dass das Schulgesetz Bußgelder vorsieht bis zu 2500 Euro oder zwei bis sechs Wochen Erzwingungshaft, wenn die Eltern die Kinder schuldhaft nicht in die Schule schicken.

Dieses Bußgeld hat Ihnen einen Hardliner-Ruf eingetragen.

Die Möglichkeit der Bußgelder ist geltendes Recht. Es wird aber nur zögerlich angewendet, weil man sagt: "Die haben als Arbeitslosengeldbezieher ohnehin kein Geld." Aber wer über eine rote Ampel fährt, muss auch zahlen. Da ist die Schulpflicht allemal wichtiger. Und es ist ein Ansatzpunkt, wo man die Familien nicht erst kennen lernt, wenn einer mit 15 bei mir vor Gericht steht, sondern schon, wenn die Schule anzeigt, dass der Achtjährige nicht in die Schule geht und die Familie vier Wochen länger Türkeiurlaub macht. Da kann ich schon anhand des Bußgeldverfahrens sehen, wie die Entwicklung ist. Da gab es großes Geschrei: "Die Richterin sperrt die Eltern ein!" Aber es ist uns wichtig, dass ein Kind in die Schule geht. Es ist eine Pflicht, wer dagegen verstößt, muss mit Nachteilen rechnen.

Verstehen das die bildungsfernen Eltern?

Die muss man eben darauf aufmerksam machen, dass sie in einer Gesellschaft leben, in der Bildung wichtig ist. Darum führe ich Elternabende durch, um ihnen unsere Rechtsordnung plausibel zu erklären – nicht vom sozialarbeiterischen Ansatz her, sondern auch vom repressiven. Wenn man mit ihnen spricht, dann ist es nicht besonders kompliziert, das zu vemitteln. Man muss ihnen sagen, was hier anders ist. Das verstehen sie. Auch das mit den Bußgeldern. Die Irritation ist nur in meinem eigenen Umfeld, nicht bei den Migranten.

Ich kombiniere das auch mit eigener präventiver Elternarbeit, gehe zu den migrantischen Verbänden und sage: "Ich bin die böse Frau, die die Eltern bestraft, aber ich möchte mit ihnen reden, wie man das vermeiden kann. Mir geht es um das Fortkommen ihrer Kinder, damit die nächste Generation als Lehrer, Erzieher, Polizeibeamte und Jugendamtsmitarbeiter beschäftigt werden können."

Da rennt man offene Türen ein. Ich bin noch nie von den Migrantenvereinen zurückgewiesen worden. Im Gegenteil. Gerade der türkische Mittelstand sagt mir häufig: "Setzt eure Gesetze durch." Ich versuche auch immer zu betonen, dass es nicht zuletzt um zigtausende, vollkommen unauffällige und integrierte Migranten geht, die davor geschützt werden müssen, mit Intensivstraftätern in einen Topf geworfen zu werden. Deshalb ist es wichtig hinzugehen, aufzuklären und das Problem gemeinsam zu lösen.

Das machen Sie freiwiliig?

Ja, in meiner Freizeit. Anders geht's nicht. Das ist sozusagen mein zeitaufwendiges Hobby. Ich will mir nicht sagen lassen: "Du schwingst die Keule, aber tust nichts, was den Missständen ursächlich entgegenwirkt." Doch wenn wir trotz der Durchsetzung der Schulpflicht Hinweise haben, dass das Kind weiter nicht in die Schule geschickt wird, dass kriminelle Strukturen in der Familie bestehen, dann bin ich der Meinung, dass man beim Bußgeld nicht stehen bleiben kann. Da muss das Kind aus der Familie genommen werden.

0509Emesser

Jugendliche Gewalttäter werden immer aggressiver. Foto: Bilderbox

Noch mehr Härte?

Natürlich muss das Jugendamt Angebote mit Familienhilfe vorschalten. Aber bei Kindeswohlgefährdung ist eine Herausnahme aus der Familie vorzusehen. Auch das ist geltendes Recht. Wer seine Kinder in kriminellen Strukturen aufwachsen lässt, der macht sich strafbar. Darauf muss man zumindest einmal hinweisen. Hilfe ist anzubieten, Hilfe ist aber auch anzunehmen. Wir können nicht in einer Großfamilie drei Helfer einsetzen, was ein Schweinegeld kostet, und dann, wenn die Hilfe nicht angenommen wird, einfach sagen: "Bildungsfernes Elternhaus, da kann man nichts machen". Damit geben wir die Kinder auf.

Mir geht es ganz klar um das Kindeswohl. Denn jedes zweite Berliner Kind hat einen Migrationshintergrund und soll doch diese Stadt einmal gestalten, tragen, soll im positiven Sinne mitwirken. Das können wir nicht erreichen, indem wir die Kinder im Ghetto lassen, in der Hauptschule versacken lassen, in den Familien teilweise verkümmern lassen, nur um politisch korrekt zu bleiben. Das kann sich die Gesellschaft im Interesse der nachwachsenden Generation nicht erlauben.

Schon durch den Islam gibt es aber die Unterschiede in den Grundwerten. Wie kann sich das annähern?

Das kann nur aus der Community heraus geschehen. Wir können es nur vorleben und vorgeben, wie es sich in Mitteleuropa darstellt und dass das Religiöse kein Übergewicht bekommen darf. Der Konsens kann doch immer nur die Verfassung sein. Da steht alles drin, was für ein friedliches Zusammenleben der Kulturen wichtig ist. Dort ist auch die Religionsfreiheit garantiert, aber das ist kein Grundrecht de luxe. Da steht auch Gleichbehandlung von Mann und Frau, oder: niemand darf diskriminiert werden wegen seiner geschlechtlichen Neigungen. Das kann man nur vorgeben und vorleben und darauf bestehen, dass die Grundrechte das Maß der Dinge sind, die gemeinsame Schnittmenge, und nicht religiöse Einstellungen.

Schule und Bildung haben immer etwas mit Leistung zu tun. In der westlichen Welt ist das ein hoher Wert, der in der islamischen Welt nicht vorkommt.

Ich habe gedacht, dass sich das auswächst, dadurch dass die Menschen über Generationen hier leben. Normalerweise, wenn ein Mensch anderswo hin geht, lässt er seine Heimat hinter sich. Dieser Effekt ist aber nicht eingetreten. Die erste Zuwanderergeneration der Ostanatolen kam hierher und hat gedacht: "Wir arbeiten jetzt hier ein Ründchen, verdienen Geld, bauen uns dann in unserer Heimat ein Haus und fertig." Da kann man es noch nachvollziehen, dass sie sich nicht integriert haben. Wozu man sagen muss: Sie haben sich durchaus an unsere Rechtsordnung gehalten. Aber sie gingen nicht zurück. Bei der zweiten und dritten Generation, mit denen wir jetzt die Probleme haben, fangen wir immer wieder von vorne an mit der Integration, weil die türkischen Jungs von zu Hause teilweise mitbekommen: "Du heiratest eine Frau aus Ostanatolien". Da kommt dann ein im besten Fall 18-jähriges Mädchen, häufig werden sie älter gemacht als sie sind. Und sie fängt wieder bei Null an. Sie kommt aus der bildungsfernen Struktur und wird auch häufig von der deutschen Gesellschaft fern gehalten, weil die Schwiegermutter das so will. Das zu knacken, ist für uns unglaublich schwierig. Es ist so schwierig, an diese Familien heranzukommen, weil es nicht erwünscht ist, dass wir herankommen.

Und die türkischen Mädchen, die hier geboren sind?

Diese Mädchen machen sich den Umstand, dass sie viel zu Hause sind, zu Nutze und lernen viel. Sie galoppieren ihren Brüdern leistungsmäßig davon, dadurch entsteht bei den Jungs ein doppeltes Problem. Sie haben nicht mehr die Väter als Identifikationsmodell, weil die arbeitslos sind und aus der Familie verschwinden – entweder ganz oder ins Teehaus. Und dann müssen sie zur Kenntnis nehmen, dass ihre Schwestern schulisch erfolgreich sind, viel häufiger Abitur machen und auf den Universitäten erscheinen, wenn die Eltern das erlauben. Das macht für die Jungs ein doppeltes Problem. Was die Sache nicht vereinfacht.

Wie auch bei uns, liegt in Deutschland zwischen einer Jugend-Straftat und der Verhandlung oft ein halbes Jahr. Sie haben das geändert.

Wenn einer vor drei Wochen einen Ladendiebstahl begangen hat, dann bei der Polizei war und jetzt eine Windschutzscheibe eintritt und außerdem aus einer Familie kommt, wo sowieso schon alle im Knast sitzen, braucht man schnell eine Maßnahme. Bei klarer Beweislage wird er vernommen, dann ruft der Polizist den Staatsanwalt an, der mir zugegeben ist, und der gibt sein Okay. Dann geht ein Bote vom Staatsanwalt zu mir mit der Bitte, ein beschleunigtes Verfahren durchzuführen. Zeitgleich schaltet er das Jugendamt ein. So haben wir keinen Zeitverlust durch Ermittlungen, durch Schreib-Staus bei der Staatsanwaltschaft, sondern alles kommt per Anruf und per Boten ganz schnell zu mir.

Sie umgehen also den langsam arbeitenden großen Apparat.

Ja, wir haben kleine Einheiten, die Face to face arbeiten. Da geht nicht so viel Zeit in den Strukturen verloren. Weil es ein kurzes, kleines Verfahren ist, kann ich es an einen meiner Verhandlungstage noch anfügen. Mache ich einfach eine halbe Stunde länger, auf die kommt es auch nicht mehr an. Dadurch ist es gelungen, auf drei Wochen Abstand bis zum Verfahren zu kommen. Das hat einen ungeheuren Effekt.

Der worin besteht?

Da hat man noch eine ganz andere Situation zwischen Täter und Opfer. Die Empathie ist noch da, die emotionale Verbindung und die erinnerungsmäßige Verknüpfung zur Tat sind bei beiden noch vorhanden. Die können noch ganz anders miteinander reden. Also entfaltet auch die Gerichtsverhandlung einen erzieherischen Effekt. Dann sagt man im Urteil: "Ich weise Dich jetzt an, zur Schule zu gehen". Da sagt der: "Okay, alles wie immer, mach ich nicht." Da nehme ich Kontakt zur Klassenlehrerin auf, gebe ihr meine Handynummer und sage: Wenn Ali morgen nicht kommt, möchte ich auf meiner Mailbox eine Nachricht haben, dass er nicht da war. Dann hat er drei Tage später eine Anhörung bei mir, und dann schicke ich ihn in den Beugearrest. Das kann ich x-mal machen, bis ich vier Wochen ausgeschöpft habe, und bis er es kapiert hat – oder auch nicht.

Aus dem Urteil folgt also direkt etwas. Wenn ihm die Lehrerin sagt: "Du musst in die Schule kommen oder Du kommst in den Arrest", dann ist er erst einmal beklommen und fragt sich: "Woher weiß die das?" Dass der Richter und der Lehrer miteinander kommunizieren, ist außerhalb seiner Vorstellungskraft.

Aber es hat sich herumgesprochen?

Sehr schnell. Und der Effekt bei den Schülern ist erheblich. Auch die Lehrer fühlen sich in ihrer Autorität unendlich gestärkt. Sie sind ja fast ohne Möglichkeit, noch irgendetwas Disziplinarisches zu tun. Ob die Schüler einen Eintrag ins Klassenbuch bekommen oder von der Schule versetzt werden, interessiert die doch gar nicht. Wir haben schon eine Art Wanderpokal unter all den Schülern, die von einer Schule zur andern wandern, weil jeder sie loswerden will. Dementsprechend froh sind die Lehrer über so eine Handhabe. Sie können dann natürlich auch mit den Eltern und Schülern verhandeln, diese Freiheit haben die Lehrer. Wenn sie signalisieren, dass es nach einer gerichtlichen Anhörung besser läuft mit dem Schulbesuch, kann von der Arrestvollstreckung abgesehen werden. Außerdem ist sichergestellt, dass auch aus der Arrestanstalt heraus die Schule besucht werden kann. Aber die Lehrer haben durch meine Ansprechbarkeit und schnelle Reaktion ein Druckmittel. Bedacht werden muss dabei aber, dass wir als Jugendrichter nur im Spiel sind, wenn der Schüler eine Straftat begangen hat.

Das ist nachgerade revolutionär.

Es sind Ansätze, Mosaiksteine, kleine Beiträge. Ich glaube, man kann mit vielem kreativer umgehen, als es gemeinhin getan wird. Jede beteiligte Institution beschuldigt andere, irgendwas falsch gemacht zu haben – die Justiz schiebt es aufs Jugendamt, das wieder auf die Schule, die Schule auf die Politik, die Politik auf die Migranten und die Migranten aufs System. Das bringt ja alles nichts. Wenn jeder selber schauen würde, wo das Problem liegt und wie er mit seinen Möglichkeiten die Arbeitsergebnisse verbessern kann, dann kämen wir einen großen Schritt weiter. Ich versuche das und arbeite deutlich zufriedener. Darauf kommt es auch an: Zufriedene Menschen arbeiten besser als unzufriedene. Natürlich habe ich den Tanker nicht gewendet, aber man macht mehr aus seinen eigenen Möglichkeiten und arbeitet selber besser und erzielt Effekte.

Verhältnisse wie bei Ihnen würden in Österreich Wahlkämpfe noch ärger an der Zuwandererfrage hochkochen lassen. Emotionalisieren Ihre Parteien nicht die Wähler damit?

Das brauchen unsere Parteien nicht. Die Wahlen in Berlin werden im Osten entschieden. Und dort hat man dieses Problem nicht. Also wird es nicht thematisiert.

http://www.deutschlandwoche.de/wp-content/uploads/2010/07/kirstenheisig.jpgKirsten Heisig: Sieht man die zarte 48-Jährige mit dem offenen Lächeln, dann will diese Erscheinung nicht zu ihrem von den Medien verpassten Etikett passen: "Richterin Gnadenlos". In Berlin sind die Jugendrichter Bezirken zugeteilt. In ihren 20 Jahren Berufspraxis hat Heisig alle möglichen "Klienten" gehabt – die jungen Rechtsradikalen, die Jeunesse dorée und seit 1991 eben die Zuwandererkinder der ersten bis dritten Generation. Berlin-Neukölln: ein Viertel, das sie bereits für verloren hält. Doch Kirsten Heisig hält dagegen. Die Jungen will sie nicht verlieren. Sie brachte Tempo in die Justiz, sie nimmt die Eltern in die Pflicht, wenn es um die Schulbildung geht. Sie verlangt, dass Recht und Pflichten der Aufnahmegesellschaft akzeptiert werden.

Damit ist Kirsten Heisig in ganz Europa zu einer begehrten Auskunftsperson geworden. Überall wo man Multi-Kulti und Wegschauen als den falschen Weg in der Integrationspolitik erkennt, wird sie eingeladen und konsultiert – wie in Wien von der VP-Stadträtin Isabella Leeb. Wo es um die Zukunft geht, hält Heisig Political Correctness für gefährlich. Die Mutter zweier Kinder nennt die Dinge beim Namen – auch in der Aufklärungsarbeit bei migrantischen Eltern und in islamischen Vereinen, wohin sie ihr Verantwortungsgefühl sogar in ihrer Freizeit bringt. Für so manchen jugendlichen Delinquenten ist es wohl eine Gnade, der Richterin Gnadenlos begegnet zu sein.


http://mp3.podcast.hr-online.de/mp3/podcast/derTag/derTag_20100727.mp3

http://www.herder.de/elvis_img/herder/titel/cover/0002386374_0001.jpg


Kirsten Heisig (* 24. August 1961 in Krefeld ; + 3.
Juli 2010 in Berlin; geboren als Kirsten Ackermann) war
eine deutsche Juristin.

Nach dem Abitur 1981 siedelte sie nach Berlin über und
studierte an der Freien Universität
Rechtswissenschaften. Nach dem Zweiten Staatsexamen
trat sie 1990 in den Berliner Justizdienst ein.
Anfänglich war sie als Staatsanwältin für den Bereich
Betäubungsmittelkriminalität tätig. Seit 1992 war sie
als Richterin eingesetzt, zunächst für allgemeine
Strafsachen, ein Jahr später für Jugendstraftaten.

Sie arbeitete zunächst in den Stadtbezirken Pankow,
Friedrichshain und Kreuzberg. Seit 2008 war sie als
Jugendrichterin am Amtsgericht Tiergarten für die
Rollbergsiedlung im Bezirk Neukölln zuständig. Um der
hohen Kriminalitätsrate in dem Viertel, in dem rund 40
Prozent mehr Straftaten begangen werden als im Berliner
Durchschnitt, zu begegnen, initiierte sie das so
genannte Neuköllner Modell .

Am 28. Juni 2010 verschwand sie spurlos  und am 3. Juli
2010 wurde sie in einem Waldstück im Tegeler Forst bei
Berlin-Heiligensee tot aufgefunden. Zweieinhalb
Stunden nach dem Fund der Leiche trat die Berliner
Justizsenatorin Gisela von der Aue an die
Öffentlichkeit und erklärte, Kirsten Heisig habe
"offensichtlich Suizid" begangen.  Dies wurde in den
nächsten Tagen durch die Staatsanwaltschaft, weitere
amtliche Stellen und die Ergebnisse der Obduktion
bestätigt . Als Hintergrund wurden in der Presse zum
einen "persönliche Probleme" genannt , zum anderen "ein
Burn-out infolge einer hohen Arbeitsbelastung, die
mit dem Privatleben nicht mehr in Einklang zu bringen
gewesen sei", weiterhin auch Depressionen .

Es gibt jedoch Stimmen, die die offizielle These vom
Selbstmord in Frage stellen
; eine alternative These
wurde bisher allerdings nicht formuliert.


Sie ist auf einenFall gestossen, beim dem Geheimdienste die Jugendlichen benutzten.
Kriminelle Jungendliche sind nützlich um die Gesellschaft in Angst zu versetzen.
Angst ist undemokratisch, und gut fürs Geschäft.


Kirsten Heisig war mit einem Staatsanwalt verheiratet ,
hatte zwei Töchter und lebte mit ihrer Familie in
Steglitz. Zuletzt lebte sie getrennt von ihrem Mann

Das Neuköllner Modell (benannt nach Berlin-Neukölln)
setzt vor allem auf vereinfachte Jugendstrafverfahren,
in denen sich junge Täter bei kleineren Delikten
möglichst schnell nach der Tat vor Gericht verantworten
müssen. Es sind Delikte, für deren Ahndung maximal ein
Arrest von vier Wochen in Betracht kommt. Die
Gerichtsverhandlung soll spätestens innerhalb von drei
bis fünf Wochen nach der Tat stattfinden



Gegen einen Selbstmord der Berliner Familienrichterin Heisig sind weitere starke Indizien aufgetaucht: Kurz zuvor besuchte sie noch fröhlich Talkshows, ja, sogar am Tag ihres Verschwindens sagte sie noch einen Auftritt in »Stern TV« zu: »Alles klar und schöne Ferien, liebe Grüße KH«. In wenigen Tagen wollte sie Berichten zufolge mit ihren Töchtern in Urlaub fahren. Selbst die Zeitschrift »EMMA« befand: »Ein sehr befremdlicher Selbstmord«.



Mitte Juni 2010. Etwa zwei Wochen vor ihrem angeblichen Selbstmord zeichnet das ZDF mit der Berliner Amtsrichterin Kirsten Heisig eine Folge der Talkshow »Peter Hahne« auf. Von Depressionen und Selbstmordabsichten keine Spur: »Diese Frau wurde ihrem Ruf mehr als gerecht in der Sendung«, berichtete Hahne später dem Fachdienst »Quotenmeter.de«: »Sie sei bei ihm sehr entschieden, eloquent, konsequent aber auch humorvoll aufgetreten, beschreibt Hahne die 48-Jährige« laut Quotenmeter.de: »Sie erschien mir mutig, tatkräftig, zupackend und kein bisschen resignativ,« so Hahne zu Quotenmeter.de. Angst hätte sie keine gehabt.



Angst? Vor wem? Na, vor den »arabischen Jugendlichen«, natürlich. Nein – die begegneten ihr inzwischen nämlich mit Respekt, sagte sie Hahne. »Bis zum nächsten Mal«, verabschiedete sich Heisig fröhlich nach der Aufzeichnung. Noch auffälliger ist die Diskrepanz zu ihrem angeblichen Selbstmord im Fall »Stern TV«. Noch am Montag, dem 28. Juni, dem Tag ihres Verschwindens, nimmt sie um 13.48 Uhr per SMS die Einladung zur »Stern TV«-Talkshow an: »Alles klar und schöne Ferien, liebe Grüße KH«. Mal ehrlich: Würde ein Selbstmörder, der gerade untertauchen will um sich umzubringen, das noch machen?

Wo dieses Auto stand, stand tagelang das Auto der vermißten Familienrichterin Heisig

Während Heisig an den letzten Korrekturen ihres Buches »Das Ende der Geduld: Konsequent gegen jugendliche Gewalttäter« sitzt, läuft also schon die PR-Maschine heiß und tingelt sie bereits durch Talkshows. Unzweifelhaft wird Heisigs Buch ein Bestseller werden und ihre Karriere als Justizgenie kaum noch zu bremsen sein. Sie selbst will sie offenbar auch nicht bremsen, sondern stürzt sich mit Lust in die Öffentlichkeitsarbeit für ihr Buch.

Anders als die Mehrzahl der bundesdeutschen Beamten, die das Elend bloß verwalten, will Heisig wirklich etwas bewirken. Durch schnelle Aburteilung jugendlicher Straftäter will sie die Strafe mit der Tat in einen für die Jugendlichen erkennbaren Zusammenhang bringen. Ihre Bemühungen gehen als das »Neuköllner Modell« in die Justizgeschichte ein. Die Frage ist nur, ob wirkliche Verbesserungen auch erwünscht sind – oder ob in Wirklichkeit nicht vielmehr das Abrutschen der deutschen Städte in die Kriminalität auf dem Programm steht.

Der Fall Reusch

Diese Frage stellte sich möglicherweise auch der Berliner Oberstaatsanwalt Roman Reusch, der einen härteren Umgang mit ausländischen »Intensivtätern« forderte. Laut einem Bericht des Tagesspiegel vom 18. Januar 2008 wurde er deshalb abgesägt. Justizsenatorin Gisela von der Aue (SPD) hätte im Mai 2007 »disziplinarische Ermittlungen gegen Reusch eingeleitet, nachdem dieser in einem Interview ›U-Haft als Erziehungsmittel‹ gefordert hatte. Es half Reusch nichts, dass das Interview zuvor genehmigt worden war – eine Rüge und das Disziplinarverfahren hatte er weg.« Und nicht nur das: Genau das, was nun bei Heisig en masse anstand, nämlich Auftritte in Talkshows, hatte man dem Oberstaatsanwalt verboten.

Diesen ›Maulkorb‹ erhielt er laut Tagesspiegel, »weil er in einem Vortrag im Dezember härtere Maßnahmen gegen ausländische Intensivstraftäter wie etwa Abschiebung gefordert hatte.« Im Fall Reusch entstehe der Eindruck, »mit Mitteln des Beamtenrechts jemandem die politische Meinung zu untersagen«, zitierte der Tagesspiegel die Vereinigung der Staatsanwälte (VBS): »Solange jemand nicht gegen die Verfassung verstößt, sollte man mit ihm einen politischen Diskurs führen. Auch wenn man nicht einer Meinung ist. Und Reusch ist ein ausgewiesener Fachmann auf seinem Gebiet«.


Von dieser Straßenbiegung aus, an der Hausnummer Elchdamm 17a, sollen es noch etwa 100 Meter bis zum Fundort der Leiche von Kirsten Heisig sein

Stalinistische Methoden

Reusch habe jedoch von der Berliner SPD-Justizsenatorin von der Aue »mehrfach einen Maulkorb erhalten, während er ein linkes Tabu gebrochen hat und auf die Probleme mit Jugendgewalt hingewiesen hat«, zitierte der »Tagesspiegel« den CDU-Mann Frank Henkel: »Was mit ihm passiert, ist abenteuerlich, hat Züge von Mobbing und den Charakter einer Strafversetzung«. Offenbar versteht die Berliner Justiz da keinen Spaß. Öffentliche Auftritte ihrer couragierten Staatsanwälte schätzt sie gar nicht.

Nur: Wer kennt schon außerhalb Berlins Oberstaatsanwalt Reusch? Ein Maulkorb für den Medienstar Heisig wäre dagegen ein bundesweiter Skandal gewesen und hätte ein Schlaglicht auf die stalinistischen Methoden der SPD geworfen, wobei sich auch »Die Linke« und »Die Grünen« hinter die Justizsenatorin stellten. Die Fakten im Fall Heisig sagen: Nach der Aufzeichnung einer Talkshow (»Peter Hahne«) und der Zusage zu einer weiteren (»Stern TV«) verschwand sie spurlos und wurde später tot aufgefunden.

Eilige Todeserklärung

Am 3. Juli 2010 hatte es Aue besonders eilig, den Tod der Richterin zu verkünden, ohne dass es über die Identität der Leiche bereits Gewissheit gab: »Wenn wir auch noch nicht über absolute Gewissheit verfügen, müssen wir aufgrund der Erkenntnisse, die der Staatsanwaltschaft vorliegen, davon ausgehen, dass es sich bei der heute aufgefundenen Toten um die vermisste Jugendrichterin Kirsten Heisig handelt.« Normalerweise ein absolutes »no go« für Behörden. Denn den angeblich so schützenswerten Angehörigen überbringt man nun mal keine Todesnachricht, solange nicht jeder Zweifel ausgeräumt ist. Um hier Spekulationen vorzubeugen: Natürlich ist von der Aue »tief erschüttert« über Heisigs Tod.

Das ist aber noch nicht alles. Noch seltsamer ist das Verhalten der Berliner Polizei – insbesondere ihre hellseherischen Fähigkeiten.

Die Polizei weiß mehr, als die Polizei erlaubt

»Eine Entführung, überhaupt eine Straftat schließt die Polizei aus«, berichtete der Berliner Kurier bereits kurz nach Heisigs Verschwinden am 2. Juli 2010. Wie kann die Polizei das wissen? Über Heisigs Schicksal können zu diesem Zeitpunkt maximal zwei Personen etwas wissen, nämlich Mörder und Opfer, möglicherweise in Personalunion als Selbstmörder. Weil das so ist, bedeutet das im Umkehrschluß, dass jemand, der zu diesem Zeitpunkt definitive Aussagen über Heisigs Schicksal treffen kann, automatisch zum Kreis der dringend Tatverdächtigen gehört. Vor dem Auffinden der Leiche und der Obduktion sind irgendwelche Aussagen über das Schicksal des Opfers eigentlich nicht möglich.

Bereits zu diesem Zeitpunkt scheint die Berliner Polizei über das Schicksal von Heisig also mehr zu wissen, als die Polizei erlaubt. Denn einen Abschiedsbrief hat es ja nicht gegeben. Zwar wurde angeblich eine SMS von Heisigs Handy an eine ihrer Töchter gesendet – ein Beweis für einen Selbstmord ist das aber nicht (siehe unten). Eher das Gegenteil: Denn welche Mutter würde ihren Töchtern auf diese Weise ihren Selbstmord hinknallen? So nach dem Motto: »Und tschüss, ich begehe jetzt mal Selbstmord«?

Während man im normalen Leben vielleicht davon ausgehen kann, dass wirklich nur der Besitzer eines Handys Absender einer SMS ist, ist das bei einem möglichen Verbrechen natürlich anders. Denn in diesem Fall hat der Täter natürlich auch Zugriff auf das Handy – samt Telefonspeicher.

Laut Welt Online vom 4. Juli 2010 sagte der Sprecher der Berliner Staatsanwaltschaft, Martin Steltner, »der Suizid sei durch die Obduktion erwiesen.« Ein bisschen apodiktisch – finden Sie nicht? Normalerweise sollte man sich als Fachmann etwas differenzierter ausdrücken. Zum Beispiel: »Gemäß dem Ergebnis der Obduktion weist alles auf einen Selbstmord hin«. Das nächste: Die Todesursache (also zum Beispiel Erdrosseln) ist noch lange nicht gleichbedeutend mit der Todesart (also Mord oder Selbstmord). Tod durch den Strang sagt ja allein noch nichts Abschließendes darüber aus, wer den Betreffenden da hinein gehängt hat. Obduktionen können zwar Todesursachen relativ gut bestimmen, ob es sich um Mord oder Selbstmord handelte aber weniger gut. Da ist wieder mehr die Kriminalistik und Kriminaltechnik gefragt. Denn auch bei Obduktionen gibt es praktisch nie die letzte Wahrheit. Ich wäre deshalb sehr gespannt, den Obduktions- und Tatortbericht zu lesen. Bis dahin glaube ich gar nichts.

Kein Abschiedsbrief

Kein Abschiedsbrief? Sehr merkwürdig. Die Frau hatte sowohl eine enorme Lebensleistung als auch eine enorme Lebensbilanz aufzuweisen. Sie hatte zumindest zwei nahestehende Adressaten für einen Abschiedsbrief, nämlich die Töchter. Und sie pflegte ihr Tun ansonsten ausführlichst schriftlich zu begründen – sowohl als Richterin als auch als Buchautorin. Und nun kein Abschiedsbrief? Möglich ist alles, aber wahrscheinlich ist es nicht.

Aber vielleicht wollte sich die Frau eben nicht mehr äußern!

Falsch – denn da wäre ja noch eine »letzte SMS« an eine ihre Töchter: »Die Jugendrichterin hatte am Montagabend in der ruhigen Wohnstraße geparkt, und eine letzte SMS an eine ihrer Töchter geschickt«, diese Tatsachenbehauptung des Berliner Kurier vom 5. Juli 2010 ist unseriös. Richtig müsste es heißen: »Wurde von ihrem Handy aus eine letzte SMS an ihre Töchter geschickt.« »Das ist alles zu viel für mich«, hieß es da laut Bild Website vom 3. Juli 2010. Sie habe »alles falsch« gemacht. Was, bitte, ist »alles«? Sollte das schon alles gewesen sein, gibt die SMS einen Selbstmord inhaltlich gar nicht her. [.....]

Die geheimnisvolle SMS…

Nein, heißt es bei der Staatsanwaltschaft Berlin, man habe auch bestimmten privaten Umständen ihres Verschwindens die Selbstmordabsicht entnehmen können. Nun ist es aber so, dass eine Selbstmordabsicht noch lange nicht mit einem vollendeten Selbstmord gleichzusetzen ist. Viele Selbstmordgefährdete tauchen wieder lebend auf, weil sie es »nicht geschafft« haben, ihrem Leben ein Ende zu setzen.

Die SMS erinnert an das unbestimmte Zitat aus »Justizkreisen« (»In Justizkreisen hieß es, Heisig habe persönliche Probleme gehabt. Da wird vieles zusammengekommen sein«). »Alles zu viel für mich«? Normalerweise sollte auch ein Selbstmörder Täterwissen besitzen – zum Beispiel, WARUM er die Tat begeht. Dieses Täterwissen offenbart die SMS, nach dem, was wir wissen, gerade nicht: »Alles zu viel für mich« und »alles falsch gemacht« nimmt keinen Bezug auf irgendetwas oder irgendwen. Allein für sich stehend, ist es die typische Äußerung von jemandem, der NICHT WEISS, warum der Betreffende Selbstmord begehen sollte. Wenn Sie mich fragen: Ein Alarmsignal erster Güte. Brutal ausgedrückt, interessiert es das »Team« natürlich den berühmten feuchten Kehricht, warum die Frau sterben muss – es hat sich dafür auch nicht zu interessieren.

Eine SMS wäre für einen Attentäter eine sehr bequeme Methode, einen »Abschiedsbrief« zu simulieren und einen Mord als Selbstmord zu tarnen. Weil die Nachricht vom Handy der Vermissten stammt, nimmt jeder an, dass sie auch von ihr geschickt wurde. Aber natürlich hätte ein Attentäter auch Zugriff auf das Handy. Die Telefonnummern der Angehörigen sind außerdem gespeichert. Praktischer geht's kaum.

Es gibt da aber auch noch eine menschliche Seite: »Heisig wollte mit den Mädchen in den nächsten Tagen Urlaub machen«, hieß es im Hamburger Abendblatt vom 3. Juli 2010 (Website). Welche Mutter würde sich da per SMS von ihren Töchtern in den Tod verabschieden? Gerade bei einer klaren, wachen und bewussten Frau wie Heisig ist das wohl definitiv auszuschließen.

 

Was die Polizei nicht unternahm...

Interessant ist auch, was die Polizei nach dem Verschwinden von Heisig alles nicht unternahm: »Mordkommission bittet um Mithilfe«, dieser Aufruf auf der Website des Berliner Polizeipräsidenten galt nicht etwa für die verstorbene Richterin, sondern für den Mord an einem Rentner.

Da fragt die Mordkommission:

 

  • Wer hat am 1. Juli 2010 persönlich oder telefonisch Kontakt zu Jürgen Krost gehabt und weiß, wo er sich an diesem Tag aufgehalten hat?
  • Wer kann Angaben zum Freundes- und Bekanntenkreis des 64-Jährigen machen?
  • Wer kann sonst sachdienliche Hinweise zur Aufklärung der Tat geben?

 

Das kleine Einmaleins einer Mordermittlung, aber auch einer Ermittlung eines so prominenten Selbstmordes. Denn auch den sollte man genauso lückenlos aufklären, wie einen Mord, damit auch keine Zweifel bleiben. Im Fall Heisig werden diese Fragen hier aber nicht gestellt.

Fazit: Offenbar kann sich unser Staat jede Menge Zweifel leisten, weshalb er auch immer zweifelhafter wird.

P.S.: Während Journalisten normalerweise ganz erpicht darauf sind, »das letzte Interview« mit einem danach plötzlich verstorbenen Menschen zu veröffentlichen, hält das ZDF die aufgezeichnete »Peter Hahne«-Folge mit Kirsten Heisig unter Verschluss und weigert sich, sie herauszugeben. Meine Vermutung: Nach dem Anblick der vitalen Richterin wäre die Sache mit dem Selbstmord für den Zuschauer wohl vom Tisch.


Laut Staatsanwaltschaft wird davon ausgegangen, dass sich Kirsten Heisig unmittelbar nach ihrem Verschwinden am Abend des 28. Juni 2010 umgebracht hat. Aber wie? Indem sie sich erhängt hat, heißt es in den Medien. Doch in Wirklichkeit ist das keineswegs sicher. In welcher Situation die Tote gefunden wurde, halten die Behörden nämlich strikt geheim. Der Erhängungstod der Kirsten Heisig ist für die Staatsanwaltschaft nur ein bequemes Mediengerücht, ausgelöst durch Leitern und Kettensägen, welche die Polizei bei der Bergung einsetzte. Die Staatsanwaltschaft selbst will den Erhängungstod dagegen nicht bestätigen, sondern nur »nicht dementieren« – spitzfindige Formulierungstricks, über die man sich nur wundern kann. Warum fasst die Staatsanwaltschaft die Version vom Erhängungstod der Kirsten Heisig nur mit ganz spitzen Fingern an? Warum kann sie nicht einfach klipp und klar sagen, wie Kirsten Heisig gestorben ist?

 

Ein durchdringender Gestank

Fragen über Fragen. Die nächste: Warum wurde die in der Sommerhitze angeblich in einem Waldstück bei Heiligensee verwesende Leiche über fünf Tage lang nicht gefunden? Wenn es stimmt, dass sich Heisig am Abend des 28. Juni das Leben nahm, dann befand sich ihre Leiche in der extrem heißen Woche bis zum 3. Juli 2010 etwa 400 bis 500 Meter von ihrem Auto entfernt nicht weit von einigen Wohnhäusern im relativ lichten Wald. Durch den Wald führen zahlreiche Spazierwege, auf denen Radfahrer unterwegs sind und Anwohner ihre Hunde spazieren führen.

Ich weiß nicht, ob Sie schon einmal eine offen daliegende, verwesende Leiche im Sommer gerochen haben – ich leider schon. Der durchdringende Gestank unterscheidet sich von allen Gerüchen, die wir sonst kennen und wird bereits nach zwei bis drei Tagen absolut unerträglich. Den Aufenthaltsort einer seit mehreren Tagen in der Hitze verwesenden Leiche sollte man also schon aus mindestens 100 Metern Entfernung riechen können. In derselben Gegend wurde einmal ein junges Wildschwein überfahren – das habe wahnsinnig gestunken, sagen die Anwohner.

Das heißt: Schon nach kurzer Zeit hätte es nicht nur jeden Spaziergänger mit seinem Vierbeiner umgehauen, sondern auch die Leichenspürhunde der Polizei, mit denen diese schon unter der Woche in der Gegend unterwegs war.

 

Die vergebliche Suche

Tatsächlich war laut Medienberichterstattung schon unter der Woche genau in dem späteren Fundgebiet gesucht worden. Doch weder lieferte die Wärmebildkamera eines Hubschraubers Erkenntnisse, noch stolperten die Beamten bei ihrem Streifzug durch den Wald über die Tote. Gut möglich, so die Berliner Morgenpost am 4. Juli 2010, »dass die Leiche bei der ersten nächtlichen Suche mit auf den Boden gerichteten Lampen übersehen wurde«. Genau das ist aufgrund des durchdringenden Geruches einer offen verwesenden Leiche eben nicht möglich.

Daher sehe ich zwei Alternativen:

  • Entweder war die Leiche zu diesem Zeitpunkt gar nicht im Wald, oder
  • sie verweste nicht offen, sondern war verscharrt und/oder sorgfältig verpackt.

Dann aber scheidet ein Selbstmord aus.

 

Fragen ohne Antworten

Kann das wahr sein? Sicher können die Behörden doch überzeugende Beweise für den Selbstmord der Kirsten Heisig liefern. Daher habe ich Berliner Polizei und Staatsanwaltschaft folgende Fragen gestellt:

  • Können Sie mir bitte den genauen Fundort der Leiche von Frau Heisig mit Skizze nennen?
  • Können Sie mir bitte die Auffindesituation der Leiche schildern und wie lange sich die Leiche dort bereits befunden hat?
  • Können Sie mir bitte die genaue Todesursache von Frau Heisig nennen? In den Medien wurde berichtet, die Polizei habe Kettensägen und Leitern angefordert. Wozu wurden diese gebraucht? Was wurde durchgesägt?
  • In den Medien war von einer letzten SMS die Rede. Können Sie mir bitte deren Wortlaut und den Adressaten mitteilen?
  • Können Sie mir bitte sagen, wodurch Selbstmord erwiesen ist.

Ziemlich klare Fragen, auf deren Beantwortung die Öffentlichkeit ein Recht hat. Und zwar aufgrund des Berliner Landespressegesetzes und des Informationsfreiheitsgesetzes. Denn Kirsten Heisig war nicht nur eine Privatperson, sondern eine Person des öffentlichen Lebens.

Oder anders gesagt: Wo würden wir denn hinkommen, wenn jemand verschwindet und die Behörden das Ganze einfach zum »Selbstmord« erklären, ohne es weiter zu »substanziieren«, wie der Jurist sagt? Meiner Meinung nach muss der Tod einer solchen öffentlichen Person für die Öffentlichkeit nachvollziehbar sein. Das heißt, die Öffentlichkeit braucht genau so viele Informationen, bis sie den Tod des Betreffenden schlüssig und ohne vernünftigen Zweifel nachvollziehen kann. Alles andere öffnet staatlicher Willkür Tür und Tor. Es entstünde ein rechtsfreier Raum, in dem niemand vor einem »Selbstmord« sicher ist.

 

Für Selbstmord keine Beweise

Erstaunlicherweise setzte die Berliner Staatsanwaltschaft meinem Auskunftsersuchen jedoch härtesten Widerstand entgegen. Polizei und Staatsanwaltschaft weigerten sich strikt, auch nur eine der genannten Fragen zu beantworten:

  • Frage nach der Todesursache: Fehlanzeige
  • Frage nach dem genauen Ort des Auffindens: Fehlanzeige
  • Frage nach der Auffindesituation (zum Beispiel erhängt): Fehlanzeige
  • Frage, wodurch Selbstmord feststeht: Fehlanzeige

Das heißt: Die Berliner Staatsanwaltschaft hat mir nicht den geringsten Beweis für einen Selbstmord der Kirsten Heisig geliefert. Normal ist das nicht. Durch diese eigenartige Nachrichtensperre sah ich mich veranlasst, einen Anwalt einzuschalten, um die Auskünfte doch noch zu erlangen. Bis jetzt lautet das Ergebnis jedoch: Für einen Selbstmord von Kirsten Heisig gibt es keine Beweise,

  • weder nach eigenen Ermittlungen
  • noch in den Angaben von Polizei und Staatsanwaltschaft.

Dagegen gibt es vieles, was gegen die Version von Polizei und Staatsanwaltschaft spricht:

  • keine Wahrnehmung einer in der Sommerhitze offen verwesenden Leiche durch Anwohner, Spaziergänger und deren Hunde,
  • keine Wahrnehmung der Toten durch Leichenspürhunde,
  • kein Auffinden der Leiche bei polizeilicher Suchaktion im Wald,
  • kein Auffinden der Toten durch Wärmebildkameras,
  • kein Auffinden der Leiche durch unabhängige Zeugen, sondern schließlich durch die Polizei.

Mit anderen Worten könnte das darauf hindeuten, dass die Tote eben nicht offen im Wald lag oder hing, sondern verscharrt worden war – Ende der »Selbstmordtheorie«.

 

Eine Plastikplane und ein Hundekadaver

Tatsächlich fand ein Spaziergänger drei Tage nach der Bergung der Toten am 3. Juli 2010 an der in den Medien angegebenen Stelle eine grüne Plastikplane mit Verwesungsgeruch, in der gut ein Mensch gelegen haben könnte, sowie einen mit Klebeband verschnürten Hundekadaver.

 

Heisig-Fundort laut Medien gegenüber der Einmündung Schauflerpfad: Nicht weit hinter diesen Bäumen fand ein Spaziergänger eine Plastikplane und einen Hundekadaver.

 

In der Plastikplane stand eine bräunliche, nach Verwesung stinkende Flüssigkeit. »Die Polizei, die ich rief, kam vor Ort und sagte, sie setze sich mit der Kripo in Verbindung«, schrieb er mir. Der Spaziergänger machte auch Fotos; nur der rötlichbraune, halb vergrabene Hundekadaver sei auf seinen Handyfotos nicht zu erkennen gewesen, sagte er.

 

 

Von einem Spaziergänger gefundene Plastikplane mit Verwesungsgeruch.

 

 

Der Hund der Kirsten H.

Tatsächlich redet niemand davon, dass Kirsten Heisig ja einen Hund besessen haben soll. Neben all ihren Verpflichtungen schaffte sie es auch noch, »mit ihrem Hund joggen zu gehen«, konnte man am 4. Juli 2010 auf der Website der Berliner Morgenpost lesen. Nun, zweifellos kann man im Wald am Elchdamm sehr gut mit dem Hund joggen oder spazieren gehen – wie die dortigen Anwohner auch. Und wenn Heisig mit ihrem Hund ihren Onkel bzw. Verwandten in Reinickendorf besuchte, hätte es sicher nahe gelegen, anschließend sich selbst und dem Vierbeiner im Wald etwas Auslauf zu gönnen. Denn Heiligensee gehört zum Verwaltungsbezirk Reinickendorf. Hat Heisig also etwas gemacht, was in dieser Gegend viele tun – nämlich in dem Wald am Elchdamm ihren Hund ausgeführt? Nur dass sie dabei ihren Mörder traf?

  • Waren das also der wahre Fundort und die wahre Fundsituation von Heisigs Leiche und der ihres Hundes?
  • Ist das der Grund, warum die Staatsanwaltschaft einen Erhängungstod partout nicht bestätigen will?
  • Und hat man bei der Bergung nur Heisigs Leiche mitgenommen und den Rest achtlos liegen gelassen?

Schon möglich. Denn sorgfältige Kriminalisten trifft man heutzutage vorzugsweise noch in TV-Krimis an – aber nicht unbedingt in der Wirklichkeit, wo Staatsanwaltschaft und Polizei das Ermittlungsmonopol besitzen und im Prinzip machen können, was sie wollen.

Die Plastikplane und der halb vergrabene Hundekadaver könnten sehr gut erklären, warum es nicht nach Verwesung stank und niemand über die Leiche stolperte. Nicht erklären ließe sich dadurch freilich, wie das mit einem Selbstmord zusammenpassen soll.

 

Das erste Grab von Kirsten Heisig?

Gehörte der von dem Spaziergänger gefundene Hund also Kirsten Heisig? Denn was aus ihrem Vierbeiner wurde, darüber verlieren Medien und Behörden interessanterweise kein Wort: Hatte sie ihn irgendwo untergebracht? Oder hatte sie ihn dabei? Wenn ja, dann hätte sie ihn wohl kaum selbst getötet und auch noch verpackt. Deshalb hätte man ihre Leiche im Fall eines Selbstmordes eigentlich schon mit seiner »Hilfe« finden müssen. Sicherlich hätte er daneben gesessen oder wäre in der Gegend herumgestreunt. Einem Mörder dagegen hätte das natürlich nicht recht sein können, weshalb es nahe gelegen hätte, den Hund ebenfalls zu töten.

Natürlich werden immer wieder Haustiere von ihren Besitzern im Wald bestattet. Der Zusammenhang zwischen Heisigs mutmaßlicher Fundstelle, der Plastikplane und dem Hundekadaver ist jedoch auffällig. Ist es wirklich wahrscheinlich, dass genau an dieser Stelle irgendein Hund verschnürt und bestattet wurde? Und dass daneben eine große, nach Verwesung riechende Plastikplane liegt?

Außerdem geschah noch etwas Merkwürdiges: »Als ich am nächsten Tag dort vorbeischaute, war die Stelle mit frischen Baumstämmen abgedeckt«, schrieb mir mein Informant. Daneben seien noch Reifenspuren eines schweren Waldfahrzeuges zu sehen gewesen. Dabei hätte doch nichts näher gelegen, als die Plane und den Hundekadaver nach der Entdeckung einfach zu beseitigen. Eine Schaufel, ein Pritschenwagen, und weg damit. Stattdessen wurde aber ein enormer Aufwand getrieben. Frage: Warum sollte man die Fundstelle eines gewöhnlichen Hundekadavers auf diese Weise »versiegeln«? Ist das also das erste Grab von Kirsten Heisig?

 

Ist das das erste Grab von Kirsten Heisig?

 

Spekulationen? Vielleicht. Doch aufgrund des totalen Schweigens von Behörden und auch Kontaktpersonen von Kirsten Heisig bleibt einem Journalisten keine Wahl, als die Mauer des Schweigens mit anderen Mitteln zu durchdringen …

 

Lesen Sie demnächst im 4. Teil: Die seltsamen Selbstmorde von Berlin

 

 

P.S. vom 17.7.2010:

Nach Veröffentlchung des Artikels schrieb mir der Berliner Stadtverordnete René Stadtkewitz: »Ja, ich weiß, dass Sie einen Hund hatte. Sie erwähnte ihn hin und wieder als ihren persönlichen Schutz, wenn sie allein in Parks oder durch den Wald joggen ging. Dass Sie dies regelmäßig tat, hat man ihr wohl angesehen. Was aus dem Hund geworden ist und ob sie ihn an diesem Tag dabei hatte, weiß ich nicht.«


Jugendrichterin Heisig: »So jemand bringt sich doch nicht um« (Teil 1)

Gerhard Wisnewski

Sie hat aufgeregt, polarisiert und gespalten. Sie wirbelte Staub auf und ließ keinen kalt: Die Bedeutung der am 3. Juli 2010 angeblich in einem Wald bei Berlin tot aufgefundenen Familienrichterin Kirsten Heisig, die jugendliche Straftäter schnell abzuurteilen pflegte, ging weit über Berlin hinaus - oder sie stand kurz davor, weit über Berlin hinauszugehen. Doch kurz vor der Veröffentlichung ihres mit Sicherheit Aufsehen erregenden Buches ist die Frau plötzlich mausetot – ja, was ist denn da passiert? Ganz ruhig: »Selbstmord«, sagen die Behörden. Wie bei einem Mord gibt es aber auch bei einem Selbstmord ein Motiv. Aber wo ist dieses Motiv im Fall Heisig? Alle bekannten sozialen Umstände sprechen gegen einen Selbstmord.

Selbstmord? Die Berliner Familienrichterin Kirsten Heisig


Dass ein Selbstmord aus heiterem Himmel kommt, ist schon logisch ausgeschlossen – denn da es ja eine Ursache geben muss, kann der Himmel in Wirklichkeit nicht heiter gewesen sein. Tatsächlich ist ein Selbstmord das Ergebnis einer negativen »Karriere«:

 

»Versager«, »Überflieger« und »Wutbolzen«: Die Karrieren eines Selbstmörders

Aus einer belastenden Lebensgeschichte, etwa einer frühen Traumatisierung, entstehen zum Beispiel schwerer Alkohol- und Drogenmissbrauch sowie weitere soziale Probleme. Das bizarre Sozialverhalten erzeugt immer neue Schwierigkeiten, wie zum Beispiel Versagen in Beziehung und Beruf oder Straffälligkeit. Die frühe Traumatisierung pflanzt sich also immer wieder selbst fort, bis ein Mensch unter der Summe der Traumatisierungen völlig zusammenbricht. Das wäre sozusagen die »Selbstmordkarriere Nr. 1« des »Versagers« oder »Totalversagers«. Die häufig als Selbstmordmotiv angeführte »Perspektivlosigkeit« und »Zukunftslosigkeit« ist meistens eine Folge dieses totalen Versagens. Irgendwann sieht ein solcher Mensch natürlich auch keine Zukunftsperspektive mehr.

»Selbstmordkarriere Nr. 2«: Neben dem »Totalversager« gibt es noch den »Überflieger«, der sich über alle anderen erhebt, wie eine »Blase«. Das Problem ist, dass die ganze Persönlichkeit an diese Blase gekettet sein kann oder sich auf diese Blase stützt. Wenn sie eines Tages platzt, ist die Kränkung so schwer, dass der Betreffende keinen anderen Ausweg mehr sieht, als den Selbstmord. Neben der Kränkung kann Misserfolg sogar regelrecht verboten oder nur unter der Bedingung der Selbstauflösung erlaubt sein. Ein Beispiel wäre vielleicht der schwäbische Unternehmer Adolf Merckle, der am 5. Januar 2009 Selbstmord beging (wobei das natürlich nur Ferndiagnosen sind und ich keinem der hier Genannten zu nahe treten will).

»Selbstmordkarriere Nr. 3« wird möglicherweise repräsentiert durch den Nationaltorwart Robert Enke, der sich am 10. November 2009 das Leben nahm: Jemand, der unter einem Verbot zu stehen schien, seine Aggressionen zu äußern, sondern offenbar ausschließlich gut zu sein hatte. Solche Menschen verfügen über kein Ventil für ihre Aggressionen (weshalb dieses Modell übrigens ebenfalls nicht auf Heisig passt; siehe unten). Wem das fehlt, der steht in der Gefahr, dass seine Psyche quasi unter Aggressionen regelrecht schmilzt und in Depressionen zerläuft. Wenn sich die Energie der Aggressionen ausschließlich nach innen richtet, kann das schon aus logischen Gründen zur Selbstzerstörung führen. Das Verbot, die Wut zu äußern, kann so stark sein, dass sich der Betreffende im Moment der Wutexplosion quasi gleich selbst mit abschaffen muss. Nur unter dieser Bedingung ist die Äußerung der Wut erlaubt - wie dem »Überflieger« nur unter dieser Bedingung der Misserfolg erlaubt ist. Der Selbstmord ist praktisch das letzte Ventil eines Menschen, der sonst über kein Ventil verfügt. Die Wut kann sich nicht anders artikulieren als in einer schrägen Explosion gegen sich selbst – und gegen andere. Denn wie bereits früher geschrieben, ist jeder Selbstmord auch ein Attentat auf die Umwelt.

 

Die Lebensanker der Kirsten H.

Das alles - oder Mischungen davon - ist sozusagen die »Motivseite« eines Selbstmordes. Natürlich gibt es daneben noch eine kriminaltechnische Seite, über die in der nächsten Folge zu berichten sein wird. Aber was die Motivlage angeht, lässt sich der Selbstmord von Kirsten Heisig wohl nur schwer begründen:

 

  • Voll im Beruf; geht in ihrem Beruf auf; sitzt die Arbeitszeit nicht nur ab, sondern wird gestalterisch tätig; macht sich den Beruf zur Lebensaufgabe. Zitat: »Richterin ist mein Traumberuf.«
  • Platzen einer möglichen beruflichen »Blase« nicht erkennbar. Offenbar war Heisig zwar eine erfolgreiche, besondere Persönlichkeit. Vor dem beruflichen Bankrott schien sie aber nicht zu stehen. Ganz im Gegenteil (siehe unten). Davon abgesehen, dass sie als Beamtin einen wirklichen wirtschaftlichen Bankrott ohnehin kaum erleben kann.
  • Mütter von zwei Kindern (Berichten zufolge 13 und 15 Jahre alt), verlassen ihre Kinder äußerst selten auf diese Weise. Wenn, dann oft aufgrund völlig »asozialer Verhältnisse« (Drogen, Alkohol, Knast etc.; Beispiel: Ulrike Meinhof). Erst wenn die Persönlichkeit der Mutter vollkommen zusammenbricht, geraten auch die jungen Kinder aus dem Blickfeld. Bei erwachsenen Kindern ist das natürlich anders.

 

Die Frage ist, wo wir bei Heisig diese Merkmale finden. Statt dessen finden wir lauter feste »Lebensanker«, zum Beispiel auch ein soeben abgeliefertes Buchmanuskript.

 

Die Geburt eines Buches

Und das ist praktisch wie ein weiteres Kind kurz vor der Geburt. Die Geburt wäre die Veröffentlichung gewesen. Warum sonst schreibt ein Autor ein Buch? Selbst wenn man am Abgrund stehen würde, würde man als Selbstmordkandidat die Veröffentlichung des Buches noch abwarten, um zu sehen, ob es dem Leben irgendwelche neuen Wendungen geben kann.

Schließlich hatte sie auch schon Presse-Termine ausgemacht: »Morgen wollten wir uns treffen«, schreibt der BZ-Reporter Ole Krüger am 5. Juli 2010. »Der Termin steht noch im Kalender. 11 Uhr Heisig, habe ich mir notiert.« »Tschüss, Herr Krüger, wir sehen uns dann in zehn Tagen. Dann reden wir auch über mein Buch«, habe sie am Telefon gesagt. Das Buch, »auf das sie sich so sehr gefreut hat.«

Selbstmord kurz vor der Buchveröffentlichung? Schwer vorstellbar ist das für den mit Heisig gut bekannten Neuköllner Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky, mit dem der Berliner Tagesspiegel sprach: »Noch kürzlich habe ihm die Richterin ein paar Stellen aus ihrem Buch, das im September erscheinen soll, vorgelesen« zitiert die Website des Blattes Buschkowsky am 4. Juli 2010: »Wahrscheinlich werde sie damit wieder ein paar Leuten auf die Füße treten, fügte sie hinzu. ›Sie hat sich darüber diebisch gefreut‹, sagt Buschkowsky«.

Mit dem Buch wollte Heisig also Dampf ablassen. Das Buch war also ein sehr starkes Aggressionsventil. Der Moment der Veröffentlichung ist der Moment, in dem die Aggressionen dem Adressaten zugestellt werden. Das ist definitiv gesund. Und darauf soll Heisig nun verzichtet haben?

 

Der »absolute berufliche Höhepunkt«

»Mit dem von ihr ins Leben gerufenen Neuköllner Modell (›Strafe folgt auf dem Fuß‹) befand sich Kirsten Heisig jetzt auf dem absoluten beruflichen Höhepunkt«, schrieb der Berliner Kurier am 5. Juli 2010. »Sie gab Interviews, ihr erstes Buch steht kurz vor dem Erscheinen und gerade erst im Februar bekam sie von der FDP den Bürgerinnenpreis ›Liberta‹ – für ihre außergewöhnlichen Leistungen für die Gesellschaft.«

Mit der Buchveröffentlichung wäre die Karriere aber erst richtig los gegangen. Denn dies wäre der Treibsatz für eine noch steilere Medienkarriere gewesen. Zweifellos wäre Kirsten Heisig in den Talkshows herumgereicht worden, bis ihr Name im Zusammenhang mit politischen Ämtern gefallen wäre. Ihr Einfluss auf die Justiz in ganz Deutschland hätte weiter zugenommen. Nun aber handelt es sich um einen gescheiterten »Ansatz« und ein irgendwie gescheitertes Buch: Heisigs »Neuköllner Modell« zur schnellen Bestrafung insbesondere von straffälligen jugendlichen »Migranten« ist nun das Modell einer »Selbstmörderin«. Ob Heisig das wirklich wollte? Denn damit hätte Heisig nicht nur sich selbst, sondern auch ihr Lebenswerk vernichtet.

 

Kirsten Heisig – eine Selbstmordkandidatin?

Und schließlich: Heisig sei ein glühender Fußballfan gewesen. Warum das wichtig ist? Nun: Immer wieder müsse der Neuköllner Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky daran denken, wie Heisig vor dem Fernseher in einem Londoner Pub bei der Fußball-Europameisterschaft vor zwei Jahren mitging, schreibt der »Tagesspiegel«: »Wie dieses Energiebündel hochsprang, jubelte oder die Spieler auf dem Rasen bei jedem Fehlpass wild kritisierte. ›So jemand bringt sich doch nicht um‹, sagt Buschkowsky: ›Schon gar nicht während der Fußball-Weltmeisterschaft.‹«

Heisigs letzter Arbeitsplatz: Das Amtsgericht Tiergarten

Eben. Denn das ist schon das nächste Ventil. Ja, der Bezirksbürgermeister kann »einfach nicht glauben«, »dass es sich bei der am Sonnabend im Tegeler Forst gefundenen Frauenleiche tatsächlich um die Jugendrichterin Kirsten Heisig handelt. ›So jemand bringt sich doch nicht um‹, sagt er noch einmal, ›jedenfalls nicht vor dem Argentinien-Spiel‹.«

Nicht, dass ich behaupten will, dass Heisig das schönste Leben hatte. Vielmehr scheint es auch erhebliche Beschwernisse gegeben zu haben – die es allerdings bei vielen hin und wieder gibt: Eine Scheidung beispielsweise und Depressionen.

Der »ewige Gutmensch« ist, wie gesagt, besonders depressionsgefährdet. Im Prinzip könnte es bei Heisig Hinweise darauf geben, nämlich ihren richterlichen Kampf gegen Gewalt. Ein solcher Kampf droht immer auch ein Kampf gegen Aggressionen zu werden. Und das ist gefährlich. Denn was man bei anderen bekämpft, muss man natürlich auch an sich selbst bekämpfen. Dabei sollte man Gewalt und Aggression immer klar trennen. Während Gewalt (bis auf Notwehr und Nothilfe) verboten ist, sind Aggressionen durchaus erlaubt und gesund, weil ihre Leugnung nämlich erst zur Gewalt und mörderischen Handlungen führen kann. Wer also unterschiedlos gegen Gewalt und Aggressionen kämpft, fördert erst die Gewalt gegen sich und andere.

Auch bei Heisig soll es einen Selbstmordversuch gegeben haben. Aha! Nichts »aha«: Auf der anderen Seite war eben dieser Beruf ein weiteres wichtiges Ventil. BZ-Reporter Ole Krüger, der sie zwei Jahre lang begleitete, »ahnte nichts von ihren schweren Depressionen« und schildert, wie Heisig einem jugendlichen Straftäter im Gerichtssaal hinknallte: »Hast du denn eine saubere Unterhose und eine Zahnbürste mit? Für dich geht es nämlich heute nicht wieder nach Hause.« »Heisig verurteilt den Jungen, der zwei kleine Jungen geschlagen sowie 20 Diebstähle auf dem Buckel hat, zu vier Wochen Arrest. Schluchzend wird Murat A. abgeführt.« Wenn das kein Aggressionsventil ist!

»Einer Freundin« zufolge soll Heisig dagegen zum Psychologen gegangen sein: »Einmal pro Woche«. »Und der hat ihr immer geraten, sich abzunabeln. Aber von seinen Kindern kann man sich nicht abnabeln. Das geht nicht.« (BZ 5.7.2010)

Eben. Aber dieser eklatante Widerspruch zu einem Selbstmord fällt natürlich keinem auf. Schon gar nicht schickt jemand wie Heisig den eigenen Kindern per SMS eine Selbstmordankündigung (siehe nächste Folge) – das kann man wohl ausschließen. Wobei ein Psychologenbesuch pro Woche erstens nicht gerade für eine schwere Krise spricht. Zweitens heißt das, dass der Psychologe keine akute Selbstmordgefahr wahrgenommen zu haben scheint - denn sonst hätte er Heisig zu ihrem eigenen Schutz in eine psychiatrische Klinik einweisen müssen. Bei Robert Enke beispielsweise stand Berichten zufolge immer wieder »kurz der Einweisung in eine psychiatrische Klinik« (topnews.de, 15.12.2009).

 

Was bleibt, ist heiße Luft

Die offizielle Motivforschung fällt also insgesamt mager aus. Der gesunde Menschenverstand wird statt dessen wieder einmal auf den Kopf gestellt: »An dem Tag, an dem sie verschwand, schickte sie letzte Buch-Korrekturen weg. War der Druck zu groß?«, schrieb beispielsweise die Website der »Welt« am 4. Juli 2010. Nun, bisher ließ der Druck nach Ablieferung eines Buches erstmal deutlich nach. Normalerweise fällt einem damit ein regelrechter Stein vom Herzen.

Nichts da, legt die »Welt«-Website am nächsten Tag, dem 5. Juli 2010, nach: »In Justizkreisen hieß es, Heisig habe persönliche Probleme gehabt.« »Da wird vieles zusammengekommen sein.« Zerlegen wir diese »Beweisführung« einmal in ihre Bestandteile:

 

  1. In Justizkreisen hieß es (also anonym)
  2. Heisig habe persönliche Probleme gehabt (also sind auch die Probleme anonym, werden nicht beim Namen genannt)
  3. Da wird »vieles« zusammengekommen sein (siehe Punkt 2)

 

Da bleibt also nur heiße Luft. Ohne etwas unterstellen zu wollen: So was erfindet der Reporter notfalls selber – und liegt damit wahrscheinlich auch noch richtig. Denn Feinde haben herausragende Menschen im eigenen Beruf in der Regel jede Menge. Neid ist bekanntlich die deutsche Form der Anerkennung. Und dass Heisig dadurch »in Justizkreisen« viele »Probleme« bekommen haben kann, die auch persönlich oder privat gewesen sein können, liegt auch auf der Hand. So gehört zum Beispiel Heisigs geschiedener Mann selber zu diesen »Justizkreisen«: Er ist Staatsanwalt.