Afghanistan-Code - MORD und TOTSCHLAG
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Bilder eines Konflikts. - Foto: REUTERS
92.000 geheime Dokumente des US-Militärs sind öffentlich geworden.
Unser Autor hat große Teile ausgewertet und sie dann mit seinen
Recherchen im Land am Hindukusch abgeglichen. Seine Analyse zeigt: Der
Konflikt wird mit jedem Tag schwieriger zu lösen
Die Schule ist eine der Errungenschaften im Dorf Ali Abod, so ziemlich
alles, was der Flecken seit dem Sturz der Taliban aufzuweisen hat.
Geschützt wird sie von zwei afghanischen Wachleuten. Ein langweiliger
Posten. Bisher gab es hier nur wenige Zwischenfälle, ganz anders als
im benachbarten Kundus. Denn die Provinz von Balkh steht unter der
Kontrolle des allmächtigen Tadschiken-Warlords und Gouverneurs
Mohammed Atta Nur, eines erklärten Feindes der Taliban. Solange er da
ist, herrschten wenigstens Ruhe und Ordnung, hört man von deutschen
Polizeiausbildern immer wieder.
An diesem 17. Oktober 2009 ist es mit der Ruhe vorbei. Vor der Schule
von Ali Abod taucht Mullah Rahmatullah auf – kein Unbekannter, einer
der prominentesten Taliban-Anführer des Landes. Zusammen mit zwei
seiner Gefolgsleute entwaffnet er die Wachen, erbeutet deren Gewehre,
eine Kalaschnikow und einen Karabiner. So jedenfalls hält es die Task
Force Warrior fest. Ihre Beobachtung ist jetzt an die Öffentlichkeit
gelangt, als Teil der gesammelten Einsatzberichte der US-Armee
zwischen 2004 und 2009. Wie viele der von der Nato geführten Teile der
internationalen Schutztruppe Isaf verfügt auch die TF Warrior über
lokale Spione und Zuträger. Der Informant der Amerikaner ist kein
Geringerer als ein Polizeichef, Lieutenant Colonel R. Gouverneur Atta,
sagt der aus, habe „die Leute aufgerufen zu tun, was immer sie wollen,
um die Unsicherheit in der Gegend zu fördern und dadurch zu zeigen,
dass die Regierung von Hamid Karsai unfähig ist, für Sicherheit zu
sorgen". Die Leute? Gemeint sein können nur Kriminelle. Oder die
Aufständischen.
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* Datenleck: Wikileaks düpiert USA mit geheimen Afghanistan-Akten
Dass Berichte wie der über Nord-Gouverneur Atta ans Licht gekommen
sind, liegt auch an zwei Männern: Julian Assange und Daniel Schmitt.
Schmitt, 32, mit kurz gestutztem Vollbart und runder Brille, wohnt in
einer Berliner WG, ein paar tausend Meter vom Verteidigungsministerium
im Bendlerblock. Dort, wo er gerade lebt, quellen Regale von Büchern
über, Kartons voll neuer Software stehen auf dem Boden, bedrucktes
Papier hat sich bis in die Küche ausgebreitet. Der einzige Luxus, den
er sich leistet, ist ein Pseudonym, „um es den Spähern etwas schwerer
zu machen". Andernfalls, meint er, würden Angehörige allzu sehr von
Anwälten und Detektiven derer bedrängt, die brisante
Veröffentlichungen verhindern möchten.
Der Computerfreak ist enger Mitarbeiter von Wikileaks-Herausgeber
Julian Assange. Ihre Informationsplattform macht durch immer neuen
Veröffentlichungen von sich reden, stellt geheimes Material ins Netz.
Dass die Absender anonym bleiben, hat seinen Grund: Vor kurzem ist in
den Vereinigten Staaten ein sogenannter Whistleblower, ein Informant,
verhaftet worden: Bradley Manning, der junge Soldat, der Wikileaks das
Video aus einem Apache-Hubschrauber im Irak zugespielt hatte. Zu sehen
ist darin, wie die Piloten 2007 in Bagdad, mit ihren Bordwaffen
Zivilisten niedermähten, unter ihnen auch einige irakische
Journalisten, kaltblütig und ohne angegriffen worden zu sein. Dem GI
Manning droht jetzt eine lange Haft. Wenn es um die Veröffentlichungen
von Informationen geht, die als geheim klassifiziert sind, versteht
die US-Regierung keinen Spaß. Assange, ein Australier, sah sich
kürzlich genötigt, vorsorglich für ein paar Tage unterzutauchen, aus
Furcht vor den Nachstellungen der US-Regierung.
Nachdem Wikileaks die Einsatzberichte zugespielt wurden, könnte es
jetzt wieder einen Grund zum Untertauchen geben. Sechs Jahre täglicher
Berichte der US-Armee ergeben ein schier unübersehbares Material.
Worin liegt die Bedeutung dieser Quellen? Daniel Schmitt ist ein eher
introvertierter Typ. Doch bei der Antwort auf die Frage zeigt er
Emotionen, redet sich in Schwung. Ihm geht es darum, eine Topografie
des Krieges zu erstellen, ein ungefiltertes Bild, in dem sich jeder
Tag, jede Stunde des Einsatzes widerspiegelt, ein Mitschnitt in
Minuten, ja Stunden Echtzeit, wie er weder vom Zweiten Weltkrieg noch
vom Koreakrieg oder aus Vietnam der Öffentlichkeit vorliegt. „Was hat
man zu welchem Zeitpunkt gewusst? Das ist eine ganz extrem wichtige
Frage in der Politik", sagt er, und: „Wer war zu welchem Zeitpunkt von
was informiert und wer hat trotzdem vielleicht eine bestimmte
Entscheidung getroffen – das ist ein Detailgrad, der enorm wichtig
werden wird."
Viel Routine steckt in den Quellen: ellenlange Berichte über
aufgespürte Straßenbomben, über afghanische Autofahrer, die Konvois
der Isaf zu nahe kommen und mit Warnschüssen verjagt werden.
Aufgezeichneter Militärfunk, Protokolle von Gefechten: so und so viele
Kugeln oder Granaten abgefeuert, so und so viele eigene Tote und
Verwundete, so und so viele bei den Aufständischen. Tag für Tag harte
Kämpfe im Süden, oft nur durch Luftunterstützung zu bestehen. Manchmal
gibt es „Kollateralschäden". Der vom deutschen Oberst Georg Klein
angeforderte Luftangriff von US-Bombern auf von Aufständischen
entführte Tanklaster in Kundus ist unter dem 4. September 2009
verzeichnet. Mit dem Vermerk: „Nachdem er versichert hatte, dass sich
keine Zivilisten in der Nähe befinden, autorisierte der Kommandeur des
PRT (Provinzwiederaufbauteams) Kundus einen Luftschlag."
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Fotos: Reuters; dpa; Tsp - Foto: dpa
Aufschlussreich sind vor allem die sogenannten Humints-Einschätzungen
– die Aussagen lokaler Informanten über einzelne politische Akteure,
Aufständische ebenso wie Provinzfürsten oder Regierungsmitglieder. So
finden sich darin Seiten über Seiten zu den Taten und Untaten der
grauen Eminenz, Usbeken-General Abdul Raschid Dostum: Demnach baute
Dostum am offiziellen Entwaffnungsprogramm vorbei eine Privatarmee von
70 000 Mann auf, samt Generalstab und Artillerie. Sein Geheimdienst
ist mit allen technischen Raffinessen ausgestattet, kann die
Mobiltelefone mutmaßlicher politischer Gegner und Rivalen abhören. Er
plant Demonstrationen, hetzt gegen die „Ausländer", um die Isaf unter
Druck zu setzten, organisiert Proteste gegen einen ihm unliebsamen
Gouverneur von Jawjzan, der auch prompt ausgewechselt wird, steht mit
Kidnappern und anderen Kriminellen in Verbindung.
Wo sind die Schicksale der Opfer, fragt sich der Reporter, der die
Provinz durchfahren hat. Ihre Antlitze zeichnen sich beim Lesen der
militärisch trockenen Reports wie im Vexierbild ab, Gesichter – wie
das von Assadullah Ishaqzai. Im Gästehaus eines Lehmdorfs in der
Nordprovinz von Sar-e-Pol hat der Chef einer paschtunischen Gemeinde
im Herbst 2009 Gerichtsurteile und Besitzurkunden auf der Matte vor
sich ausgebreitet. Unter den Usbeken und Tadschiken, die vor allem in
der Gegend wohnen, sind die Paschtunen eine Minderheit. Aber, so
wollte der Gemeindevorsteher belegen: Ihre Häuser und Grundstücke
besitzen sie zu Recht, seit vielen Jahren, mit Brief und Siegel. Mit
gedämpfter Stimme sprach er über die Enteignungen seiner Freunde und
Familienangehörige durch die Milizkommandanten des Usbeken- und
Nordallianzführers General Dostum, der in der Region das Sagen hat.
Während des afghanischen Bürgerkriegs der 90er Jahre, sagte Ishaqzai,
war dieser Teil Afghanistans Hochburg der Nordallianz. Erst spät
nahmen die mehrheitlich paschtunischen Taliban den Landstrich ein.
DIE ROLLE DER USBEKEN
Viele hielten sich damals an der Mehrheitsbevölkerung schadlos,
bestahlen, drangsalierten sie. Ende 2001, als General Dostum mit
Rückendeckung von US-Spezialkräften die Gegend wieder für die Usbeken
zurückeroberte, ging es wieder andersherum und die paschtunische
Minderheit hatte zu büßen: Misshandlungen, Vergewaltigungen, Mord und
Raub. Der Gemeindechef klagte über Abwanderungen und Flucht. Wenn man
zwischen Sar-e-Pol und Masar-i-Scharif entlangfahre, komme man
unweigerlich an all dem Land vorbei, „das die Usbekenkämpfer den
Paschtunen weggenommen haben", sagte der Gemeindevorsteher. Das Bild,
das er in dem Gespräch von Sar-e-Pol zeichnete, der Provinz, die die
Isaf-Karten als ruhig darstellen, als nicht von Taliban kontrolliert,
war desperat: kein Staat. Ethnisch motivierte Willkür. Sämtliche
Schlüsselpositionen mit Dostums usbekischen Unterkommandeuren und
deren Verwandten besetzt. Und die, sagte der Vorsteher damals zum
Reporter, hätten vor allem eines auf der Agenda: die Gegend von allen
Paschtunen zu säubern. Tausende Familien seien nach Pakistan oder in
den afghanischen Süden gezogen. „Unsere Gemeinde gehört zu den
letzten, die noch ausharren. Wir haben die UN um Hilfe gebeten, aber
die reagieren nicht. In der Nachbarprovinz Balkh gab es gezielte Morde
an Paschtunenführern. Viele Angehörige haben vor der UN-Vertretung
demonstriert, aber nichts geschah." Am Sitz der UN in Masar-i-Scharif
stellte der Pressesprecher Sayed Barez im Gespräch von vorneherein
eines klar: „Haben Sie Verständnis dafür, wenn wir uns zu den
Massengräbern nicht äußern." Gemeint waren General Dostums Killing
Fields, auf denen etwa 2000 Taliban-Kriegsgefangene liegen, die der
Usbekenführer 2001 ermorden ließ – unter den Augen von
US-Spezialkräften, wie zahlreiche Quellen belegen. Gab es ein Problem
mit der paschtunischen Minderheit im Norden, Demonstrationen gegen
Mord und Landraub? „Nein." Auf den Einwand, es gebe aber Ton- und
Filmaufnahmen von diesen Protesten, antwortet er: „Aha." Und: Selbst
wenn da vielleicht Proteste stattgefunden hätten, wer könne sagen,
dass es sich um größere Demonstrationen gehandelt habe? Jeden Tag
versammelten sich irgendwelche Leute. Und: „Wenn Sie mehr wissen,
teilen Sie es uns gern mit." Und: Nein, durch Dostum gebe es kein
Problem. Die Provinz sei viel ruhiger als der Süden. „Das muss doch
einfach jeder zugeben." Benachteiligungen von Paschtunen? Auch beim
deutschen Regionalkommando Nord zuckten die Presseoffiziere die
Achseln. „Ach, wissen Sie, was die Afghanen so erzählen ..."
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Wollten die UN lästigen Menschenrechtsfragen lieber aus dem Weg gehen?
Sah die Isaf in Leuten wie dem Usbeken-Warlord und seinen bis an die
Zähne bewaffneten Kriegern vor allem Partner? Dass mindestens die
Türkei sich immer wieder für Dostum ins Zeug gelegt hat, geht aus den
jetzt veröffentlichten Quellen eindeutig hervor. Am 1. Juni 2007
beschwert sich die Regierung in Ankara beim US-Botschafter in
Afghanistan darüber, dass die Zentralregierung gegen Dostum die
Polizei einsetze. Das sei „nicht angemessen". Das türkische
Außenministerium schlägt vor, den Warlord für eine Weile in die Türkei
einzuladen, so lange, bis die Wogen sich geglättet hätten.
Aus den Unterlagen lässt sich klar schließen, dass der US-Armee die
ethnisch motivierten Verfolgungen und Menschenrechtsverletzungen im
Regionalkommando Nord seit langem bekannt sind. Bereits im Jahre 2006
beobachtet sie demnach, wie Dostums usbekische Milizenführer die
paschtunische Minderheit im Norden drangsalieren. Die Berichte geben
eine brisante Einschätzung aus dem PRT Meymana wieder und weisen
darauf hin, was passieren könnte, wenn das nicht aufhört: „Das PRT
Meymana hat in den vergangenen Wochen die paschtunischen Gegenden
überwacht, um festzustellen, ob die durch Herrschaft der
Usbekenkommandeure sich angeblich verschlechterten Lebensumstände der
Paschtunen einen fruchtbaren Nährboden für den Radikalismus abgeben
könnten", heißt es im August 2008. Bisher sei das noch nicht
feststellbar. Aber, so warnen die Beobachter, das könne sich von heute
auf morgen ändern: „Zur gegebenen Zeit könnten sich die Paschtunen mit
terroristischen Elementen verbünden", prognostizierte der dortige
Nachrichtenoffizier. „Mögliche Selbstmordattentäter könnten während
der Vorbereitung ihrer Aktionen unter der paschtunischen Bevölkerung
Unterschlupf finden."
Bei einem Besuch drei Jahre später, im Herbst 2009, schienen sich die
Befürchtungen von damals bewahrheitet zu haben. In und um
Masar-i-Scharif war in den Gesprächen mit Vertretern der
paschtunischen Gemeinden immer wieder eins zu hören, eine Art
Leitmotiv: Man sei nicht grundsätzlich gegen ausländische Truppen, im
Gegenteil, die hätten ein guter Schutz gegen die Warlord-Willkür sein
können. Jetzt aber registrierten die Paschtunenvertreter im Norden,
dass Akteure wie Dostum gar nicht bestraft und aus dem Verkehr gezogen
wurden, im Gegenteil. Die neue US-Strategie der Aufstandsbekämpfung,
das belegen die Dokumente, setzte inzwischen explizit auf
Lokalmilizen. Sie sollten afghanischen Sicherheitskräften und Isaf als
dritte Macht zu Hilfe kommen. Lokalmilizen bedeutete im Norden: die
Verbände der alten Nordallianz-Warlords. Auf viele Paschtunen wirkte
das wie eine Parteinahme der Ausländer zugunsten derjenigen, die sie
seit langem drangsalierten. Und auf die Frage, ob es eine Option wäre,
sich mit den ebenfalls paschtunischen Taliban zu verbünden, hieß es
jetzt oft: „Klar. Wenn die uns helfen."
2006 WAR EIN WENDEPUNKT
Die in den Berichten dokumentierten Humints-Aussagen lassen erkennen:
Was in Afghanistan stattfindet, ist weniger ein Krieg gegen den
islamistischen Terror. Es ist vor allem ein Machtkampf unter den
Warlords um die ethnische Vorherrschaft im Land; eine von den
Nord-Ethnien dominierte Regierung mit einem Paschtunen an der Spitze.
Für eine kurze Zeit funktionierte die Balance. Doch bald mehrten sich
die Intrigen unter den Führern dieser unterschiedlichen
Bevölkerungsteile. Die Berichte ergeben eine Art Dramaturgie, in der
das Jahr 2006 offenbar ein Wendejahr ist. Das Jahr, von dem an die
Lage außer Kontrolle geriet. Das Jahr, in dem Karsai aufhörte, die
Galionsfigur der Nordallianz-Warlords und gleichzeitig ein „Mann des
Westens" zu sein. Am 12. Dezember melden die US-Spione: Usbekenführer
Dostum hat sich mit den bekanntesten Warlords der Nordallianz
verbündet, um einen Putsch gegen Präsident Karsai vorzubereiten.
Anwesend bei einem Treffen waren die wichtigsten Partner des Westens:
die Nordallianzler, die, dank der US-Armee, die Taliban aus
Afghanistan vertreiben konnten. Jetzt sind die Zeiten andere,
konstatieren auch die anderen: Marschall Mohammed Fahim und
Burhanuddin Rabbani, der Expräsident aus den Zeiten des Bürgerkrieges.
Die afghanische Bevölkerung ist unzufrieden, immer mehr Menschen
empören sich über Kollateralschäden durch westliches Militär. Die
alten Haudegen wittern eine Chance und beschließen, das Hindernis, den
Aushänge-Paschtunen Karsai, aus dem Weg zu räumen, ihren Gönnern von
einst den Rücken zu kehren, die Macht direkt zu ergreifen. Ihr Ziel
war, „das Land von den Fremdherrschern zu befreien, die derzeitige
Regierung auszuwechseln und eine neue Regierung aus Mudschaheddin zu
proklamieren". So heißt es im entsprechenden Report vom Dezember 2006.
Den Milizen und Parteiverbänden der einzelnen Führer sollen dafür
Waffen ausgeteilt werden. Zum ersten Mal in der Geschichte könne die
Dominanz der Paschtunen in Afghanistan gebrochen werden. „Geheim",
vermerkt der Protokollant des Armeereports, fügt aber lakonisch an:
„Kann an die afghanische Regierung weitergegeben werden." Was offenbar
geschehen ist. So jedenfalls ließe sich Karsais bislang nur schwer
nachvollziehbares, für Außenstehende oft widersprüchliches Verhalten
deuten. Es lässt den Schluss zu, dass sich seine Amtszeit in zwei
Perioden teilt: die Zeit vor und nach dem geheim gebliebenen
Putschversuch vom Dezember 2006. Um seine Haut zu retten, fängt der
Präsident Ende 2006 an, sich eine Lebensversicherung aufzubauen, eine
Hausmacht aus paschtunischen Fundamentalisten, die ihn notfalls gegen
die putschlüsternen Nordallianzler verteidigen kann.
DIE PAKISTAN-CONNECTION
Seiten über Seiten finden sich in den Dokumenten auch über die
Aktivitäten des pakistanischen Geheimdiensts ISI im Nachbarland
Afghanistan. Außer den Taliban setzt der ISI vor allem die Gruppe um
den Altfundamentalisten Gulbuddin Hekmatyar ein. Einst wichtigster
Verbündeter Pakistans und der USA im Kampf gegen die Sowjets in der
Region, ist der selbst ernannte Gotteskrieger abgetaucht und kämpft
mit seinen Leuten gegen die Isaf. Hekmatyar trifft sich den Berichten
zufolge mit dem ISI, erhält Instruktionen, trifft sich mit
afghanischen Gefolgsleuten, teilt ihnen Geld für Selbstmordattentate
aus. Einmal, im Oktober 2006, schaltet sich sogar ein pakistanischer
General namens Suaeb ein und gibt einer von Hekmatyar finanzierten
Gruppe Tipps, wie man am besten Raketen auf den Nato-Flughafen von
Bagram abschießt, nämlich an einer Stelle 20 Kilometer vom Flughafen
entfernt, und zwar unbedingt „von feuchtem Boden aus, damit kein Staub
aufwirbelt, der den Isaf-Truppen die Abschussstelle verraten könnte".
Auch bei dieser Lektüre stellen sich Assoziationen ein – an die Zeit
kurz nach den afghanischen Präsidentenwahlen. Im Oktober 2009 hatte in
einem der besseren Viertel Kabuls, dort, wo die sogenannten
„Drogenpaläste" der Provinzgewaltigen wie Pilze aus dem ungeteerten
Boden sprießen, Abdelhadi Arghandehwal dem Gast aus Deutschland auf
dem Teppich seines Büros seine Analyse der Situation präsentiert. Der
Alt-Mudschahed hat lange Jahre mit Hekmatyar gemeinsam gegen die
Sowjets gekämpft, war dessen Finanzminister. Mit seinem graumelierten
Bart und seiner randlosen Kappe sah er wie ein typischer Paschtune
aus, sprach sein Englisch allerdings mit texanischem Einschlag,
Reminiszenz an jene Tage, als der Islamismus im Allgemeinen und
Hekmatyars Gruppe im Besonderen noch aus Mitteln der CIA großzügig
gefördert wurde. Kurz vor den Wahlen war die alte Hekmatyar-Partei,
die Hizb Islami, ein Bündnis mit dem Präsidenten eingegangen. „Karsai
hat nur durch uns gewonnen", betonte Arghandehwal ebenso beiläufig wie
selbstbewusst. „Wir haben ihm Millionen Stimmen eingebracht." Für
seine Unterstützung hat der Präsident ihn mit dem Posten des
Wirtschaftsministers belohnt. Karsais Bedingung bestand darin, dass
Arghandehwal und seine Leute unmissverständlich Hekmatyar abschwören
und sich mit ihrer „Hizb Islami Light" der afghanischen Verfassung
unterordnen. Gesagt, getan. Die Erinnerung an Hekmatyar, den
US-Alliierten von damals und Taliban-Alliierten von heute, beteuerte
Arghandehwal, gehöre heute in seiner Partei nur noch zur
Traditionspflege, es gebe zu dem Mann keine politischen Verbindungen
mehr.
Gern vermittelte der Parteichef anschließend den Kontakt zu einer
Regionalgruppe der Hizb Islami in der Nordprovinz von Balkh. Deren
Versammlungsort befand sich unweit von Masar-i-Scharif, in einem
Flecken aus Lehmhäusern inmitten verdorrter Felder. Im Haus des
Hizb-Islami-Deputierten fiel ein ganz bestimmter Mann auf: Zabet
Khanjar, einer der bekanntesten lokalen Gefolgsleute Hekmatyars und
Mitglied in dessen militanter Hizb Islami. Über Khanjar finden sich in
den militärischen Geheimreports viele Zeilen. Demnach gehört er zur
militanten Hizb Islami Hekmatyars, hat sich mit Hekmatyar getroffen
und Geld für Terroranschläge im Norden erhalten, unter anderem auch
Sprengstoffattentate, die mithilfe Behinderter ausgeführt wurden. Eine
seiner letzten bekannt gewordenen Aktionen in der Region ist,
bestätigen lokale Journalisten, der Anschlag auf einen Isaf-Konvoi im
Spätherbst 2009. Die Verbindungen der „legalen" Hizb Islami und
Hekmatyar sind offenbar intakt.
Was diese Beobachtungen aber noch brisanter werden lässt, sind die
Berichte über die Verbindungen Hekmatyars zum pakistanischen
Geheimdienst. Wie ein roter Faden lassen sich die Aktionen des ISI von
2004 bis 2009 verfolgen und überdauern auch den Wechsel von der
Regierung Musharraf bis zur neuen Regierung in Islamabad. Einer der
jüngsten pakistanischen Terrorpläne, von dem in den Reports zu lesen
ist, stammt vom Ende des Berichtszeitraumes, aus dem Oktober 2009:
„Kari Nusrullah vom ISI", steht unter dem 1. Oktober 2009 zu lesen,
„soll jetzt in Kabul eingetroffen sein, um dort Selbstmordanschläge zu
organisieren. Er soll nur als Planer fungieren, während die
Ausführenden aus den Reihen der Taliban genommen werden sollen, die
sich bereits in der Stadt aufhalten." Zählt man eins und eins zusammen
– die Beziehungen Karsais zur „legalen" Hizb Islami, der sein
derzeitiger Wirtschaftsminister entstammt; die anhaltenden Beziehungen
der „legalen" Hizb Islami zur militanten Hizb Islami Hekmatyars;
Hekmatytars Beziehungen zum pakistanischen Geheimdienst – ergibt sich
die Schlussfolgerung: Der ISI sitzt in der Regierung Karsai sozusagen
mit am Kabinettstisch. Und es ergibt sich eine Frage: Wenn das alles
bekannt ist, die Isaf einerseits den paschtunischen Präsidenten Karsai
unterstützt und andererseits dessen Feinde, Nordallianzler wie Atta,
die weg von der Zentralregierung streben, wenn US-Spezialkommandos
deren Milizen aufrüsten und trainieren, wenn die Pakistan-Connection
so eindeutig belegbar ist und damit klar ist, wo sich bei den
Konflikten auch politisch ansetzen ließe – sie sich lösen ließen –,
weshalb setzt der Westen zunehmend auf militärische Lösungen? Warum
gibt es immer mehr gezielte Tötungen und Aktionen von Spezialkräften?
Handelt es sich um Parallelkrieg ohne Mandat? Eine mögliche Antwort
könnte lauten: weil nicht ein Krieg stattfindet, sondern zwei
unterschiedliche Kriege nebeneinander geführt werden.
GEHEIME SPEZIALEINSÄTZE
Mindestens ebenso interessant wie die Einsatzberichte ist das, was
aufgrund einer höheren Geheimhaltungsstufe oft ausgespart ist.
Offensiv-Aktionen, Spezialeinsätze, alles, was nicht unter „Secret",
sondern unter „Top Secret" fällt. Die Analyse der Dokumente vermittelt
den Eindruck, dass deshalb der eine Teil des Militärs vom anderen
nichts weiß. In dem umfangreichen Material finden sich manchmal Spuren
solcher Spezialeinsätze. Spuren, etwa im Fall der US-Task Force 373,
die am 17. Juni 2007 auf einen hohen Al-Qaida-Funktionär Jagd macht –
und dabei auch Opfer unter Zivilisten verursacht: Sechs Kinder starben
im Rahmen der Operation.
Viele Spezialoperationen bleiben unerwähnt. Etwa die von Imam Sahib,
einer Kleinstadt im deutschen Regionalkommando. Der dortige
Ortsvorsteher war über viele Monate wichtiger Ansprechpartner für
deutsche Aufbauprojekte. Entwicklungshelfer und Feldjäger der
Bundeswehr pflegten bei ihm zu übernachten. Anfang 2008 warnt die
US-Armee vor einem möglichen Attentat auf Distriktchef Sufi Manan. Er
sei, so heißt es, für die Isaf eine wichtige Schlüsselfigur. Er sei zu
schützen! Gut ein Jahr später, am 22. März 2009, das bestätigt der
Bundeswehrhauptmann Marc Lindemann, zu dieser Zeit Nachrichtenoffizier
in Kundus, landen US-Spezialkräfte auf dem deutschen Flugplatz in
Kundus, weisen die Bundeswehr an, die Maschinen aufzutanken, fliegen
zum Haus des Distriktchefs, töten fünf seiner Angestellten, unter
ihnen zwei geistig Behinderte. Sufi Manan entkommt dem Kugelhagel wie
durch ein Wunder. Die US-Soldaten nehmen vier Gefangene mit und
fliegen ohne Erklärung wieder ab. „Das war direkt vom Pentagon
angeordnet, an allen Mandaten vorbei", sagte Lindemann. Im
Hauptquartier Kabul war der damalige Isaf-Staabschef General Marco
Bertolini ahnungslos, immerhin der zweithöchste Nato-Militär in
Afghanistan und mit der Koordination der Isaf betraut. Im Gespräch gab
er zu, über die Aktion nicht informiert worden zu sein. „Es gibt
Dinge, in die ich grundsätzlich nicht einbezogen werde, weil man sie
auf noch höherer Ebene plant." Auf noch höherer Ebene? Der General
vollführte eine Kopfbewegung zum Nachbarbüro. Dort saß der Mann, der
in Personalunion die Isaf und die US-Armee befehligte, General Stanley
McChrystal. Heute gehört das Büro General David Petraeus.
Zwei Kriege, einer vom anderen hermetisch getrennt. Der eine unter
international beschlossenen Mandaten. Der andere von Schaltstellen im
Pentagon geführt. Sollten die „beiden Kriege", deren Aktionen oft
widersprüchlich scheinen, dennoch miteinander abgestimmt sein, ließe
das einen anderen Schluss zu: Die afghanischen Akteure werden in einem
klassischen Teile-und-herrsche-Szenario gegeneinander ausgespielt, um
den langfristigen militärischen Einfluss der Nato in der Region zu
sichern.
Doch vielleicht kommen wir bald auch den Strukturen des verborgenen
Krieges in Afghanistan ein Stückchen näher: In allernächster Zeit will
Wikileaks ein neues Dokument veröffentlichen: das Einsatzvideo von
einem US-Luftschlag in der afghanischen Ortschaft Garani. Mindestens
95 Zivilisten starben bei der Aktion. Mitarbeit: Harald Schumann
Der Autor (46) ist freier Journalist und in Afghanistan häufig im
Auftrag der ARD-Rundfunkanstalten unterwegs gewesen. Teilweise war er
bei verschiedenen Armeen „eingebettet", reiste aber auch, als einer
der wenigen westlichen Journalisten, unabhängig durchs Land. Für eine
Afghanistan-Reportage erhielt er 2009 den Otto-Brenner-Preis für
kritischen Journalismus. Im Frühjahr 2010 erschien sein Buch
„Afghanistan-Code. Eine Reportage über Krieg, Fundamentalismus und
Demokratie".
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