Realkapital und Finanzkapital
Aus nix wird nix
Die "Rettungsmaßnahmen" für das Finanzsystem versuchen, einen Implosionsprozess mit allen (finanziellen) Mitteln aufzuhalten. Sie sollen Liquidität und Vertrauen schaffen, auf dass der Kreislauf des Kreditgelds wieder in Schwung komme. Die Maßnahmen sind notwendig, aber sie kurieren gleichzeitig nur die Symptome.
These 1: Die Finanzkrise stellt keinen (misslichen) Zustand dar, der durch "Entsorgung" von faulen Krediten und mehr Eigenkapital für die Banken überwunden werden kann, sondern einen dynamischen Prozess der simultanen Entwertung von Aktien, Immobilien und Rohstoffen. Dadurch werden jene fiktiven Vermögen vernichtet, welche in den vorangegangenen Boomphasen "geschaffen" worden waren. Durch das Tempo dieses Entwertungsprozesses wächst die Krise den Rettungsmaßnahmen gewissermaßen davon.
These 2: Die Vermögensentwertung wird die schwerste Wirtschaftskrise seit den 1930er-Jahren verursachen. Denn seit den 1980er-Jahren hat sich die Illusion "Lassen Sie Ihr Geld arbeiten!" immer weiter ausgebreitet: Die Haushalte in den USA überließen die Vorsorge für die Hochschulausbildung der Kinder ebenso wie für das eigene Alter den steigenden Aktienkursen, die Unternehmen (insbesondere in Deutschland) akkumulierten viel mehr Finanzkapital als Realkapital, die Politik in Europa beschränkte die sozialstaatliche und förderte die "finanzkapitalgedeckte" Altersvorsorge. Die Entwertung all dieser Finanzvermögen lässt die Nachfrage von Haushalten und Unternehmen schrumpfen, die USA und die Rohstoffexporteure werden ihre Importe einschränken und auf diese Weise die Krise in den exportabhängigen Ländern zusätzlich verschärfen.
These 3: Das Anwachsen der Finanzkrise zu einer globalen Wirtschaftskrise wird eine historische Wende einleiten, nämlich die Abkehr von jenem System, das die vergangenen drei Jahrzehnte prägte, der Finanzkapitalismus. Alle seine verschiedenen Komponenten - neoliberale Wirtschaftstheorie, Vorrang für den Geldwert, Liberalisierung der Finanzmärkte, Regulierung der Wirtschaftspolitik, Teilprivatisierung der Sozialversicherung, insbesondere des Rentensystems - stützen sich wechselseitig und bilden ein Ganzes. Es wird auch im Ganzen kollabieren (wie in den 1930er-Jahren). Der Übergang zu realkapitalistischen Rahmenbedingungen wird lang und mühevoll, allerdings nicht so lang und so katastrophal wie in der letzten Talsohle des "langen Zyklus", nämlich zwischen 1931 und 1948.
Ohne eine systemische Diagnose der Krisenursachen kann keine nachhaltige Therapie entwickelt werden. Wie also hat sich die große Illusion "Lassen Sie Ihr Geld arbeiten" verbreitet? Vereinfacht dargestellt in folgenden Etappen: Mit der Aufgabe fester Wechselkurse (1973), den nachfolgenden Ölpreisbooms und den exorbitant gestiegenen Zinsen (1981) entwickelten sich enorme Spekulationsmöglichkeiten, die schrittweise von den "Profis" gelernt wurden. In den 1980er-Jahren wurden daher immer mehr Instrumente geschaffen, die Spekulieren leichter machten (Finanzderivate).
Stephan Schulmeister ist Finanzmarktexperte am Institut für Wirtschaftsforschung in Wien.
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