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15 September 2008

Kommumen DRUCKT GELD gegen Privatisierungen

Wer kein Geld hat, druckt sich welches: Im Ersten Weltkrieg taten das viele deutsche Städte und Gemeinden, selbst Firmen bezahlten ihre Belegschaft mit selbstgemachten Scheinen. Der Staat sah ohnmächtig zu - und eine Druckerei in Goslar hatte eine geniale Idee. Von Michael Heim

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In den "Farbwerken vorm. Meister Lucius & Brüning, Hoechst" drohte die Lage außer Kontrolle zu geraten. Alarmiert und in äußerster Eile telegrafierte die Geschäftsführung in die Reichshauptstadt, direkt an das Finanzministerium.

Reichsbank ohne Barmittel Punkt Löhnung unserer fünfzehntausend Arbeiter und Angestellten in Frage gestellt Punkt Bitten angesichts Notgeldgesetz vom siebzehnten Juli um schwere Unruhen zu vermeiden um Erlaubnis kurzfristige Gutscheine ausgeben zu dürfen Punkt Dringende Drahtantwort schnellstens erbeten

Ein solches Telegramm musste jeden Banker, jeden Finanzbeamten erschauern lassen. Das Management der Farbwerke, der späteren Hoechst AG, hatte zum Zahltag nicht genug Bares in der Kasse. Und wollte deshalb selbstgemachtes Ersatzgeld benutzen.

Es hatte viel geschehen müssen, bis zu diesem Tag im Herbst 1922, dass eine Anfrage wie diese nicht rundweg absurd erschien. Doch die Idee, mit hausgemachtem Geld statt offizieller Reichsmark zu zahlen, hatte zu diesem Zeitpunkt bereits Tradition. Die ersten Vorstöße in diese Richtung waren noch ganz vorsichtig verlaufen – acht Jahre zuvor, in den ersten Tagen des beginnenden Weltkrieges.

"Im festen Glauben an den Sieg!"

Die Stimmung war euphorisch gewesen, im August 1914. Die Nation bejubelte den Aufbruch in den Krieg, am raschen Sieg gab es keinen Zweifel. Welcher Kleingeist wollte da an Bunkern, an Hamstern, an Horten denken?


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Einige wollten: diejenigen, die dem Krieg am nächsten waren. In den frontnahen Gebieten, im Elsass und in Ost- und Westpreußen, brachte man sein Geld vor dem nahen Feind in Sicherheit. Damit Handel und der alltägliche Einkauf überhaupt noch möglich waren, gaben Gemeinden und große Arbeitgeber Ersatzgeld aus - als Akt der Selbsthilfe, ohne Genehmigung aus der Hauptstadt. Deshalb nannte man das Kind auch lieber nicht beim Namen und druckte "Gutschein", "Anweisung", "Spareinlage" auf die Scheine. Keinesfalls sollten Zweifel an der patriotischen Gesinnung aufkommen, nur weil man seine Schäfchen ins Trockene brachte. Der Magistrat im ostpreußischen Bischofswerder versah sein Notgeld daher entschlossen mit dem Zusatz: "Im festen Glauben an den Sieg!"



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Der Notgeld-Druck zu Kriegsbeginn blieb zunächst eine kurzlebige Episode. Im Verlauf des ersten Kriegsjahres wurde wieder mit Mark und Pfennig gezahlt. Doch das sollte nicht lange so bleiben - und als das Notgeld zurückkehrte, kam es mit Macht. Denn diesmal waren die Kräfte der Kriegswirtschaft am Werk, und die erfassten das ganze Land.

Den Deutschen geht das Kleingeld aus

Der schnelle Sieg, an den man 1914 felsenfest geglaubt hatte, war zwei Jahre später in weite Ferne gerückt. Regierung und Reichsbank mussten nun einen lang anhaltenden Krieg finanzieren, und sie griffen dazu auf ein Mittel zurück, dessen sich schon die römischen Kaiser gerne bedient hatten: das Münzrecht des Staates. Während jedoch die Römer das Silber in den Münzen strecken mussten, um bei leeren Kassen neues Geld zu prägen, brauchte man in der modernen Welt den Silbergehalt der Markstücke nicht anzutasten. Denn Münzen waren nur Peanuts. Wer einen Krieg bezahlen wollte, musste im großen Stil tätig werden - und setzte die Druckerpresse in Gang.

Die Inflation stieg und das Geld verlor durch seine Vermehrung an Wert, bis es 1916 schließlich soweit war: Das Silber in einem Markstück war mehr wert als die Mark, zu der es geprägt war. Wer mit dieser Münze ganz normal bezahlte, gab sie unter Wert aus der Hand. Rasch verschwand das Silbergeld deshalb in den Schatullen und war an der Kasse nicht mehr zu sehen. Die Pfennige ereilte ein ähnliches Schicksal: Denn Fünfer und Zehner enthielten Nickel, in Ein- und Zweipfennigstücken steckte Kupfer. Beides war begehrt, denn es wurde in der Rüstungsproduktion dringend gebraucht. Und so verschwanden auch die Pfennige.

Den Deutschen ging das Kleingeld aus. Von einem "ernsten Notstand" berichtete im März 1917 die Herzoglich Anhaltinische Finanzdirektion: "Die hiesige Reichsbanknebenstelle erklärt sich außerstande, dem dringendsten Bedürfnis nach Kleingeld abzuhelfen." Wer nicht passend zahlte, ging immer öfter leer aus. Die Auszahlung der Löhne geriet in Gefahr. Selbst Rentenempfänger mussten das Wechselgeld selbst zum Schalter mitbringen.


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Schöne Scheine

Die Kommunen hatten keine Wahl: Sie mussten Abhilfe schaffen, brachten Notgeld heraus, und diesmal nannte man es auch so. Angesichts der dramatischen Situation hatte sich die Reichsbank dazu durchringen müssen, die Aushöhlung ihres Monopols bei der Notenausgabe zähneknirschend zu dulden. Noch 1918 versuchte sie jedoch, mit Appellen an die Bevölkerung die Lage unter Kontrolle zu bekommen: "Wer sein Kleingeld sinnlos zurückhält", verlautbarten die Finanzbürokraten mit drohendem Unterton, "bringt Handel und Wandel ins Stocken und bewirkt letzten Endes Stockungen in der Herstellung von Rüstung und Munition, schwächt die Front und hilft dem Feind zum Siegen. Kleingeldhamsterei ist Landesverrat." Genützt hat es nichts.



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Immer wieder zwang die pure Not Gemeinden und Händler zu schmucklosen Kleingeldausgaben, auch nachdem der Krieg längst zu Ende war. Als 1920 die Inflation den Kupferpreis erneut nach oben trieb, verschwanden wieder einmal die Pfennige. Diesmal waren es nicht die Gemeinden, sondern vor allem zahllose kleine Händler, die ihren Wechselgeldbedarf in Eigenregie deckten. Schon der Name verriet, wo der Bedarf am größten war: "Bäckerpfennige" und "Gastwirtpfennige" nannte man die Zettel und Kartonstückchen. Allein in München gab es mehr als 400 Ausgabestellen dieses Do-it-yourself-Geldes. Selbst die Kantine des Telegrafenamtes fühlte sich berufen, ihr eigenes Geld in Umlauf zu bringen.

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Doch jenseits der blanken Notwendigkeit begann sich etwas Neues abzuzeichnen - ein stiller Trend zunächst, den aufmerksame Geschäftsleute jedoch schon zu Zeiten des Krieges erkannt hatten. "Das Papiergeld müsste ferner ein geschmackvolles, künstlerisches Gepräge erhalten", empfahl bereits 1917 die Druckerei Flemming den Stadtvätern in Goslar und warb für ihr Notgeld-Design. Denn je attraktiver das Notgeld, "desto mehr geht es zu Gunsten der Gemeinde und Kasse in Sammler Hände über." Die Drucker hatten recht: Wer Notgeld in Umlauf brachte, also die Empfänger damit bezahlte, der konnte sich freuen, wenn es später nicht mehr zu ihm zurück kam und gegen richtige Mark eingelöst werden musste. Sammler von Notgeld waren deshalb die perfekte Zielgruppe. Die Scheine wurden schön.

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Die Mark im freien Fall

Und weil allem Sammeln das Streben nach Vollständigkeit innewohnt, begannen Städte und Gemeinden, ganze Serien von aufwendig gestalteten Scheinen zu entwerfen, nur für die Liebhaber und ihr vorzügliches Hobby. Ganz bequem konnte der Interessent die "Serienscheine", wie man sie nannte, gleich im Komplettpaket erwerben. Die Strategie ging auf: Sammler trafen sich zu Notgeld-Ausstellungen, Zeitschriften wurden gegründet, Fachgeschäfte eröffnet. Zu Beginn der zwanziger Jahre erlagen mehr und mehr Menschen der Sammelleidenschaft, es wurde getauscht, gehandelt und zunehmend auch spekuliert. Im politischen Chaos und der Tristesse dieser Jahre barg das Notgeld-Sammeln für viele die Hoffnung, dass all die bunten Scheine vielleicht einmal sehr wertvoll werden würden – und ihre Besitzer ein bisschen reich.

Die Wirklichkeit meldete sich jedoch schnell zurück. Der Staatshaushalt geriet immer mehr aus den Fugen, und plötzlich ging es Schlag auf Schlag: Frankreich besetzte im Januar 1923 das Ruhrgebiet, als Pfand für die deutschen Reparationszahlungen. Regierung und Gewerkschaften riefen zum passiven Widerstand auf. Der Fiskus, seiner Einnahmen aus dem wichtigsten deutschen Industriegebiet beraubt, sollte den Widerstand finanzieren. Seitdem stand die Druckerpresse der Reichsbank nicht mehr still. Der Wert der Mark befand sich im freien Fall: Die Hyperinflation war gekommen.

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Das vor kurzem noch gediegene Notgeld kehrte nun in die Welt des Mangels zurück. Die Preise stiegen schneller, als die Reichsbank Scheine herstellen konnte - deshalb halfen alle mit: Banken, Firmen und Städte druckten, was die Presse hergab. Manche verlegten sich darauf, ihre Eigenwährung nicht mit Reichsmark zu decken, sondern mit Naturalien: Die Oldenburgische Staatsbank brachte Gutscheine in Umlauf, die dem Überbringer 150 Kilogramm Roggen zusicherten. Die Idee erwies sich als ausbaufähig. Nachahmer bezogen ihre Scheine nun auf Feingold, Speck oder den Kubikmeter Gas.


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Die Einführung der Rentenmark machte dem Spuk ein Ende. Am 15. Oktober 1923 galt im ganzen Reich wieder eine Währung mit stabilem Wert. Das Notgeld wurde nur noch nach Gewicht als Altpapier verramscht. Es verschwand für immer aus dem Alltag und fiel dem Vergessen anheim. Die Mark hatte sich ihr Monopol zurückerobert - nur bei den Sammlern nicht.


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Zeit ist Geld

Galoppierende Preise, heiß laufende Gelddruckereien: Vor 85 Jahren war fast jeder Deutsche Millionär - und verfluchte seinen Reichtum bitterlich. Die Hyperinflation von 1923 war eines der dramatischsten Wirtschaftsdesaster der deutschen Geschichte. Von Katja Iken


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Es war nicht die Sehnsucht nach ihren Männern, die die Frauen schon am frühen Morgen in die Fabriken trieb. Auch nicht die Gier. Es war die blanke Not. Mit Wäschekörben und Koffern behängt, drangen sie in die Betriebe, um ihren Ehegatten den Lohn direkt nach der täglichen Auszahlung aus den Händen zu reißen. Zeit ist Geld - selten war diese Parole so wörtlich zu nehmen. Schwer bepackt eilten die Frauen, allesamt Millionärinnen, in die Geschäfte, um dort die Geldscheine abzuladen und beizeiten das Nötigste zu ergattern. Bevor ihnen das Geld zwischen den Fingern zerrann - und schon wieder wertlos wurde.

Doch so sehr sich die Frauen auch beeilten: Den Wettlauf gegen die galoppierende Inflation konnten sie nicht gewinnen. Vor 85 Jahren geriet das Deutsche Reich in den Strudel der turbulentesten Geldentwertung, die das Land bislang je erlebt hat. Ausgangspunkt: der Erste Weltkrieg, ein Krieg, den sich die Deutschen nicht leisten konnten.

Am Ende kapitulierte die Regierung - und stand nicht nur bei den Gegnern, sondern auch bei der eigenen Bevölkerung tief in der Kreide. Mit sogenannten Kriegsanleihen hatten die deutschen Bürger ihrem Staat die Kriegskosten vorgestreckt. Um die Schulden zu begleichen, kurbelte der Staat die Notenpresse an - und die Mark verlor rapide an Wert. Denn für die immer größeren Geldmengen im Umlauf gab es keine materiellen Gegenwerte im Land.

Eine Fahrkarte für 150 Milliarden Mark

Mit dem Mord an Walther Rathenau im Juni 1922, der das Vertrauen in die Stabilität der jungen Weimarer Republik im In- und Ausland tief erschütterte, verschärfte sich die Geldentwertung weiter. Als die Franzosen Anfang 1923 wegen ausstehender Reparationszahlungen das Ruhrgebiet besetzten, eskalierte die Situation vollends: Um die streikende Bevölkerung finanziell unterstützen zu können, kurbelte die Regierung die Geldproduktion abermals an - mit der Folge, dass die krisengeschüttelte Wirtschaft endgültig zusammenbrach.

Immer rasanter drehte sich die Inflationsspirale: Kostete ein Roggenbrot im Oktober 1922 noch 23 Mark, musste man im Juli darauf bereits 2000 Mark und im Herbst sogar 260 Millionen Mark dafür hinblättern. Wer die öffentlichen Verkehrsmittel nehmen wollte, musste das Geld für die Fahrkarte in einer Schubkarre mitführen. Betrug der Preis für eine Berliner Straßenbahnfahrt Anfang 1923 noch 50 Mark, so waren dies im Juli 1000 und Mitte November 150 Milliarden Mark. Unvorstellbare Summen, deren Produktion einen enormen Aufwand darstellte.

Auf dem Höhepunkt der Hyperinflation waren rund 30.000 Menschen mit der Herstellung der Geldscheine beschäftigt. Rund um die Uhr arbeiteten im Herbst 1923 bis zu 133 Fremdfirmen mit knapp 1800 Druckmaschinen für die Reichsdruckerei. 30 Papierfabriken produzierten das hierzu notwendige Banknotenpapier - eine Entwicklung, die Hans Fallada in seinem 1937 erschienen Inflations-Roman "Wolf unter Wölfen" aufgegriffen hat: "Irgendwo in dieser Stadt stand eine Maschine und erbrach Tag und Nacht Papier über der Stadt. 'Geld' nannten sie es. Sie druckten Zahlen darauf, wunderbare, glatte Zahlen mit vielen Nullen, die immer runder wurden. Und wenn du gearbeitet hast, wenn du dir etwas erspart hast auf deine alten Tage - es ist alles wertlos geworden; Papier, Papier und Dreck."

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Wäschekorb für die Kollekte

Wie von Fallada beschrieben, gehörten insbesondere ältere Menschen, deren Erspartes zum Teufel ging, zu den Verlierern der Inflation - die Selbstmordrate bei Senioren stieg in dieser Zeit sprunghaft an. Doch auch kleine Gewerbetreibende, Arbeiter, Kriegerwitwen und Kriegsinvaliden traf die rasante Geldentwertung besonders schlimm. Während die Arbeitslosigkeit stieg, fielen die Reallöhne ins Bodenlose, mit fatalen Folgen: Verarmung und Verelendung griffen um sich, Plünderungen und Krawalle gehörten zur Tagesordnung, Einbrecher wurden immer dreister. Hatten sie es in vergangenen Zeiten auf Geld abgesehen, griffen sie nun lieber nach Wertsachen und gingen sogar soweit, ihren Opfern die Goldzähne auszureißen.

Die Währung verkam zum Spielgeld, im wörtlichen Sinne: Mit den wertlosen Bündeln bauten die Kinder hohe Türme auf der Straße; lastwagenweise karrte die Müllabfuhr die Scheine zur Verbrennung. Lohnverhandlungen fanden wöchentlich statt, Bankbeamte durften ihren Arbeitsplatz nicht vor Geschäftsschluss verlassen - schließlich kannten sie die aktuellen Wechselkurse. Und in der Kirche hielten die Pfarrer den Gläubigen einen Wäschekorb für die Kollekte hin.

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Wer irgendwie konnte, versuchte die Situation zu seinen Gunsten zu nutzen. Unternehmer wie etwa Hugo Stinnes nahmen Schulden auf, die am nächsten Tag leicht zu begleichen waren und vergrößerten so ihr Wirtschaftsimperium. Doch auch das Spekulantentum explodierte, Tag um Tag zog die neugegründete Wucherpolizei über die Märkte, um Preisbetrüger zu stellen - meist vergeblich. Da das Geld trotz der Nachtschichten in den Papierfabriken und Druckereien nicht reichte, gingen mehr als 5800 Städte, Gemeinden und Firmen dazu über, eigene Notgeldscheine herauszugeben.


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"Oha, wat is dat för 'ne Welt"

Regional trieb dies zum Teil bizarre Blüten, da viele ihre Scheine mit eigenen Sprüchen bedrucken ließen. Der Hamburger Hagenbecks Tierpark etwa mahnte die Bevölkerung ironisch: "Mensch, schimp nich op de slechte Tied - wi hebbt hüt mehr Geld noch als Schiet". Auf anderen Scheinen der Hansestadt war zu lesen: "Oha, wat is dat för 'ne Welt, so so'n Lappen 'n Markstück gellt!" Am Ende kursierten mehr als 2800 verschiedene Geldscheinsorten in Deutschland.


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Als der US-Dollar schließlich bei knapp 4,2 Billionen Mark stand und die Inflationsrate sich auf geschätzte 750 Milliarden Prozent belief, musste die Regierung handeln. Nachdem Reichskanzler Gustav Stresemann zunächst die Notenpresse stilllegen ließ und das offizielle Ende des Ruhrkampfs verkündete, beendete er den monetären Spuk am 15. November 1923 mit der Währungsreform und der Einführung der Rentenmark.

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gold pfennig 1923



Weil das Deutsche Reich zur Deckung des Grundkapitals der neugegründeten Rentenbank nicht die nötigen Goldvorräte aufweisen konnte, wurde der Grundbesitz von Landwirtschaft, Industrie und Gewerbe mit einer Hypothek von 3,2 Milliarden Rentenmark belastet. Für eine Billion Papiermark erhielten die Menschen nun eine Rentenmark - die dem Wert von 15,4 Pfennigen des Jahres 1914 entsprach. Ab dem 30. August 1924 wurde schließlich die Reichsmark zur offiziellen Währung - und Geld war wieder etwas wert.

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provisorisches geld auf bierdeckeln ausgestellt



Knöllchen* für die Spekulanten!

* Das „Knöllchen“ ist die rheinländische Form des Strafzettels.

Mit ihm wird man gemahnt, zu unterlassen, was der Allgemeinheit
schadet.


Immer mehr Menschen stoßen bei ihren Bemühungen, gesellschaftliche
Widersprüche zu begreifen, auf die Konzeption der Natürlichen Wirtschaftsordnung.
Die Analyse und die daraus resultierenden Forderungen nach einem gegen Null
tendierenden Zinsniveau leuchten schnell ein. Die Last von über 1.000 Millionen
Euro, die täglich in Form von Zinsen von den Arbeitenden zu den Besitzenden
fließen, ist eine unübersehbare Mahnung. Ein verteilungsneutrales Geld ist die
Voraussetzung für eine soziale und ökologische Gesellschaft.

Dauerhaft niedrige Zinssätze mit einem Geld, das den Menschen und Märkten tatsächlich
dient, statt sie zu beherrschen, bieten die Grundlage für viele positive gesellschaftliche
Entwicklungen. Eine funktionierende Währung muß gewährleisten, dass bei gesättigten
Märkten und bei ausreichender Geldversorgung das Zinsniveau langfristiger Anlagen gegen
Null tendiert.

Eine Geldumlaufgebühr, wie sie die INWO fordert, garantiert einen stetigen Geldumlauf
und ermöglicht daher der Europäischen Zentralbank (EZB), die Bargeldmenge aktiv zu
regulieren. Dies ist eine Voraussetzung für eine inflationsfreie Währung. Gleichzeitig setzt
diese Umlaufgebühr das Geldkapital unter Angebotsdruck. Das bietet Gewähr dafür, dass
der Markt immer - auch bei niedrigsten Zinssätzen - ausreichend mit langfristigem Finanz-
kapital versorgt wird.

Wie wirkt eine Umlaufgebühr und wie oft muß sie angewendet werden?

Eine konstruktive Umlaufsicherung in Form einer Geldgebühr ist dann notwendig und
sinnvoll, wenn die beiden anderen umlaufsichernden Mechanismen (der Zins und die
Inflation) ihren Dienst versagen. Dies geschieht immer dann, wenn die Inflationsrate sinkt,wodurch der Wertverlust bei Bargeldhaltung bedeutungslos wird, sowie wenn die Zinssätze
fallen. Bei niedrigen Zinssätzen halten Anleger überproportional viel Finanzkapital liquide.
Sie verweilen gerne in kurzfristigen Anlageformen und vermehren ihre Bargeldbestände,
um bei günstigen Gelegenheiten rasch zugreifen zu können. Dieses Verhalten aber zwingt
die Zentralbank, mehr Geld herauszugeben, als es für den realen Zuwachs beim Bruttoso-
zialprodukt notwendig und wünschenswert ist. Steigen die Zinsen wieder an und wird in
Folge die Geldzurückhaltung wieder aufgegeben, kann dieses überschüssige Geld inflati-
onsfördernd wirken.

Folgenschwer ist, dass der Hang zur Liquidität ein Defizit an langfristigen Geldanlagen
verursacht. Dieses Defizit vergrößert sich mit sinkenden Zins- und Inflationsraten, so
wünschenswert und entlastend diese auch für die Wirtschaft sind. Bei einem allzu starken
Absinken der Zinssätze kann es sogar zu deflationären Wirschafts-lagen kommen. Sowohl
die Kreditverknappung als auch die Deflationsgefahr können mit einer konstruktiven
Umlaufsicherung vermieden werden:

Registriert die EZB eine überproportionale Zunahme der Bargeldmenge, kann sie einzelne
Stückelungen, also 50 EURO -, 200 EURO -, oder 500 EURO -Scheine zum Umtausch aufrufen.

Um die Geldhalter schon im Voraus zur Freigabe der gehorteten Bestände zu motivieren, erhebt
sie eine Umtauschgebühr. Die Höhe der Gebühr und die Häufigkeit der Aktion kann sie
flexibel regeln. Wichtig ist, dass beide Faktoren mäßig eingesetzt werden, um das Vertrauen
in die Währung nicht zu gefährden. Möglicherweise genügt schon die Ankündigung einer
gebührenpflichtigen Umtauschaktion, um die Bargeldnachfrage auf das gewünschte Maß
zu beschränken und eine regelmäßige Weitergabe zu gewährleisten. Der eintretende Effekt
muss so groß sein, dass die nachgefragte Geldmenge dem aktuell berechneten Bedarf - also
der Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts entspricht. Um ihre Liquidität zu behalten,
gleichzeitig aber der Umtauschgebühr zu entgehen, könnten die Geldhalter jetzt noch auf
Girobestände ausweichen. Eine ergänzende Gebühr auf die Bestände der Girokonten sorgt
für den notwendigen Anreiz, überschüssige Guthaben längerfristig auszuleihen.

Wie verändert sich das Zinsniveau?

Die Unterschiede zwischen verschiedenen Laufzeiten und den diversen Kreditkriterien
bleiben in den unterschiedlichen Zinshöhen erhalten. Das Niveau der Zinstreppe wird letztlich
nur nach unten verlagert. Daraus ergibt sich, dass es sich für Anleger rechnet, selbst bei
niedrigen Zinssätzen langfristige Anlageformen zu akzeptieren. Es wird somit auch bei
niedrigsten Zinssätzen ein ausreichendes Kreditangebot zur Verfügung stehen. Durch die
Gebühren gerät das Geldvermögen unter Angebotsdruck.

Es ist leicht zu erkennen, dass ein solcher Mechanismus das überschüssige Spekulationskapital
dazu zwingt, sich gegenseitig im Preis zu unterbieten.

Wer anderen gern das Geld entzieht . . .
. . . zahlt selber drauf.

Die Umlaufgebühr wird eingesetzt wie Strafzettel für falsches Parken. Beeinträchtigen
Falschparker die Sicherheit im Straßenverkehr oder den Verkehrsfluss, werden sie durch
kostspielige Strafzettel zur Unterlassung ihres Verhaltens ermahnt. Im Interesse aller werden
jene zur Kasse gebeten, die zum eigenen Vorteil eine Störung der Übrigen in Kauf nehmen.
Schmerzlich sind diese „Knöllchen“ nur für notorische Verkehrssünder. Im Bereich des Geldes
trifft die Gebühr vor allem die Spekulanten und jene, die auf hohe Zinsen warten.
Wer aus spekulativen Gründen viel Bargeld hält, wird sich bei einer anstehenden Umtausch-
aktion überlegen müssen, ob der zu erwartende Gewinn die anfallenden Kosten erbringen
wird. Gegebenenfalls wird er seinen Bargeldbestand reduzieren - zum Vorteil für die
Allgemeinheit. Durch die Umtauschgebühr begrenzt sich die Nachfrage nach Bargeld, und
so wird die umlaufende Geldmenge konkret, und nicht wie heute nur indirekt, steuerbar.Welche Kosten verursacht dieses verteilungsneutrale Geld beim Verbraucher?

Für den durchschnittlichen Verbraucher sind die Gebühren für den Bargeldumtausch
verschwindend gering. Geht man davon aus, dass sich die Banknoten bis zu einem Wert
von 50 EURO kaum zur spekulativen Hortung eignen, wird ein Umtausch dieser Noten nur sehr
selten notwendig sein. Doch selbst wenn der Umtausch aller Banknoten innerhalb eines
Jahres ratsam erschiene, bliebe die Belastung gering.

Bei einer durchschnittlichen Bargeldhaltung von 500 EURO und einer Umtauschgebühr von 6%
p.a. würde ein Haushalt hierfür gerade mal mit 30 EURO im Jahr zur Kasse gebeten. Die Belastung auf den Girokonten würde bei einem durchschnittlichen Guthaben von 1.000 EURO und einer angenommenen Gebühr von 5% p.a. nochmals 50 EURO ausmachen.

Langfristig angelegte Sparguthaben bleiben ohnehin unbelastet, behalten aber durch die Preisstabilität ihren realen Wert. Wer nach Abzug von Miete und Fixkosten nur noch geringfügige Beträge auf dem Girokonto behält, braucht entsprechend weniger zu zahlen.

Firmen, die üblicherweise mit größeren Geldmengen und Kontobeständen arbeiten, müssten ihre Zahlungsgewohnheiten den veränderten Gegebenheiten anpassen, um nicht übermäßig
belastet zu werden.

Bedenkt man, dass allein die Zinsen für die Konsumentenschulden jeden Haushalt im Durchschnitt mit jährlich ca. 400 EURO belasten und die Zinszahlungen der öffentlichen Haushalte pro Erwerbstätigen über 2.000 EURO ausmachen, wird deutlich, dass eine Entlastung durch sinkende Zinssätze die anfallende Umtauschgebühr um ein Vielfaches kompensiert.
Verteilt man die Last der gesamten Bankzinserträge von 382 Mrd. EURO (2001) auf alle Haushalte, ergibt sich ein Anteil von rund 10.600 Euro. Diese Kosten sind vermeidbar.
Welche Voraussetzungen müssen gegeben sein, um eine stabile und verteilungsneutrale Währung einführen zu können?

Um das Geld den Menschen dienstbar zu machen, braucht es keine revolutionären Veränderungen. Auch braucht niemand zu fürchten, dass er enteignet werden soll. Man muss
auch nicht darauf warten, dass alle Menschen gut und einsichtig werden, um die Vorteile
einer funktionierenden Geldordnung nutzen zu können.

Genau genommen ist lediglich ausreichend öffentlicher Druck nötig, um die Notwendigkeit
und den Willen zur Durchsetzung eines verteilungsneutralen Geldes zu dokumentieren.
Auf der politischen Ebene muss durchgesetzt werden, dass die Chancen und Risiken einer
gebührengestützten Umlauf-sicherung wissenschaftlich geprüft und breit diskutiert werden.
Wenn die Kriterien dieses Steuerungsmechanismus ausreichend untersucht und etwaige
Risiken abgewogen wurden, werden selbst die maßgeblichen Herren der Deutschen Bundes-
bank und der EZB ihren Widerstand gegen eine Geldreform nur schwer aufrecht erhalten
können.

Die umlaufende Geldmenge gegen Gebühr zum Umtausch aufzurufen, wäre der EZB auch
ohne Gesetzesänderungen schon heute möglich, da es ihrem Auftrag der Geldmengensteue-
rung dient. Die Gratwanderung zwischen hohen Zinsen und Inflation wäre damit überwunden.
Welche Vorteile ergeben sich aus der vorgeschlagenen Geldreform?
Die Belastungen durch die Zinsforderungen sind schier unvorstellbar. Die Summe der Zinsen,
die Produzenten und Händler an die Endverbraucher weitergeben müssen, macht mittlerweile
im Durchschnitt ein Drittel der Preise aus. In den Wohnungsmieten sind über 70 Prozent der
Kosten reine Zinszahlungen.

Niedrige bzw. fallende Zinssätze haben positive Auswirkungen auf Wirtschaft und Gesellschaft:

• Sie erhöhen die Kaufkraft der arbeitenden Menschen.
• Sie bremsen die Vermögenszunahme der Reichen.
• Sie verringern die Schuldenlast der öffentlichen Haushalte.
• Sie führen zur Bildung neuer Arbeitsplätze und ermöglichen Vollbeschäftigung.
• Sie machen ökologisch sinnvolle Projekte rentabel.
• Sie senken die Baufinanzierungskosten und damit die Wohnkosten.

In Verbindung mit einer Umlaufgebühr ergeben sich diese Effekte, wenn Zins- und Inflationsraten gegen Null tendieren.

Die INWO setzt sich für eine funktionierende und gerechte Wirtschaftsordnung als Grundlage
einer wirklich sozialen Marktwirtschaft ein. Sie stützt sich dabei u. a. auf die Werke des
Sozialreformers Silvio Gesell und die Erkenntnisse des Wirtschaftsanalytikers Helmut Creutz.
Unterstützen Sie unsere Ziele mit einer Spende oder fördern Sie die Arbeit der INWO durch
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Scheine aus Freital: Auch die Stadt Freital druckte in den Zwanzigern ihr eigenes Notgeld, wie in einer sonderausstellung zum Thema Geld im Februar 2003 zu sehen war. Die Scheine bestanden nicht immer nur aus Papier, teilweise wurden auch Holz, Stoff und Aluminium bedruckt und zu Notgeldscheinen umfunktioniert.



Marktwirtschaft ohne Kapitalismus

Eine Übersicht über die Grundgedanken, die ideengeschichtliche Herkunft und den derzeitigen Entwicklungsstand, über Organisationen und weiterführende Literatur

Von Werner Onken

Geld: Vom Beherrscher der Märkte ...

1891 veröffentlichte der deutsch-argentinische Kaufmann Silvio Gesell (*1862 in St. Vith bei Eupen/Malmedy, + 1930 in der bodenreformerischen Genossenschaftssiedlung Eden-Oranienburg) in Buenos Aires seine erste Broschüre "Die Reformation im Münzwesen als Brücke zum sozialen Staat". Sie bildete den Grundstein für ein umfangreiches Werk über die Frage nach den Ursachen der sozialen Frage und nach Wegen zu ihrer Lösung. Praktische Erfahrungen, die Gesell während einer Wirtschaftskrise im damaligen Argentinien gesammelt hatte, führten ihn zu einer Sichtweise, die dem Marxismus widersprach: die Ausbeutung der menschlichen Arbeit habe ihre Wurzel nicht im privaten Eigentum an den Produktionsmitteln, sondern in strukturellen Fehlern des Geldwesens. Wie schon der antike Philosoph Aristoteles erkannte er die widersprüchliche Doppelrolle des Geldes als ein dem Markt dienendes Tauschmittel und als ein den Markt zugleich beherrschendes Machtmittel.

Gesells Ausgangsfrage lautete: Wie läßt sich die Eigenschaft des Geldes als wucherndes Machtmittel überwinden, ohne es dabei als neutrales Tauschmittel zu beseitigen? Die Macht des Geldes über die Märkte führte er auf zwei Ursachen zurück: Erstens ist das herkömmliche Geld als Nachfragemittel anders als die menschliche Arbeitskraft oder die Güter und Dienste auf der Angebotsseite der Wirtschaft hortbar - ohne nennenswerten Schaden für seinen Besitzer kann es aus spekulativen Gründen vorübergehend von den Märkten zurückgehalten werden. Zweitens hat das Geld den Vorteil, daß es sehr viel flüssiger ist als Waren und Dienstleistungen; wie der Joker im Kartenspiel ist es zu jeder Zeit und an jedem Ort einsetzbar. Diese beiden Eigenschaften verleihen dem Geld - vor allem den Besitzern größerer Summen - ein besonderes Privileg: Sie können den Kreislauf von Käufen und Verkäufen, Sparen und Investieren unterbrechen oder von den Produzenten und Konsumenten einen Zins als besondere Prämie dafür verlangen, daß sie auf die spekulative Kassenhaltung verzichten und das Geld in den wirtschaftlichen Kreislauf weitergeben.

Die strukturelle Macht des Geldes beruht nicht allein auf seiner tatsächlichen Hortung, sondern es genügt bereits die Möglichkeit von Kreislaufunterbrechungen, um den wirtschaftlichen Stoffwechsel im sozialen Organismus an die Bedingung zu knüpfen, daß dabei zuerst das Geld mit einem Zins bedient werde. Die Rentabilität erhält den Vorrang vor der Wirtschaftichkeit, die Produktion wird mehr am Zins des Geldes als an den Bedürfnissen der Menschen ausgerichtet. Dauerhaft positive Zinssätze stören die für eine dezentrale Selbstordnung der Märkte notwendige Balance von Gewinnen und Verlusten. Gesell zufolge führen sie zu einer Erkrankung des sozialen Organismus mit einer sehr komplexen Symptomatik: Das zinstragende und darum nicht-neutrale Geld bewirkt eine leistungswidrige, ungerechte Einkommensverteilung, welche ihrerseits zu einer Konzentration von Geld- und Sachkapital,und damit zu einer Monopolisierung der Wirtschaft führt. Da die Geldbesitzer Herren über Bewegung oder Stillstand des Geldes sind, kann das Geld nicht 'von selbst' durch den sozialen Organismus fließen wie das Blut durch den menschlichen Körper. Deshalb sind eine gesellschaftliche Kontrolle des Geldumlaufs und eine richtige Dosierung der Geldmenge nicht möglich; deflationäre und inflationäre Schwankungen des allgemeinen Preisniveaus lassen sich nicht vermeiden. Und wenn sich im Auf und Ab der Konjunkturen größere Geldsummen wegen eines zeitweise sinkenden Zinsniveaus solange von den Märkten zurückziehen, bis die Aussichten auf rentable Anlagen wieder besser werden, ergeben sich Absatzstockungen und Arbeitslosigkeit.

... zum neutralen Diener der Märkte

Als Weg zur Entmachtung des Geldes dachte Gesell nicht an einen Rückgriff auf das kanonische Zinsverbot der mittelalterlichen Scholastik oder gar an die Beseitigung von sogenannten 'jüdischen Wucherern'. Vielmehr stellte er sich eine institutionelle Änderung des Geldwesens in der Weise vor, daß die Kassenhaltung des Geldes mit Kosten verbunden wird, welche die Vorteile der Hortbarkeit und Liquidität neutralisieren. Sobald das Geld mit einer Gebühr auf Kassenhaltung belegt wird - vergleichbar dem Standgeld für Güterwaggons im Verkehrswesen -, verliert es seine Überlegenheit über die Märkte und erfüllt dann nur noch seine dienende Funktion als Tauschmittel. Sobald seine Zirkulation nicht mehr von Spekulationsmanövern gestört werden kann, wird es möglich, die Menge des zirkulierenden Geldes fortlaufend so an das Gütervolumen anzupassen, daß die Kaufkraft der Währung über lange Zeiträume genau so stabil wird wie die Maße und Gewichte.

In seinen Frühschriften sprach Gesell ausdrücklich von "rostenden Banknoten" als Mittel zu einer "organischen Reform des Geldwesens". Durch sie werde das Geld, das bislang ein "toter Fremdkörper" sowohl im sozialen Organismus als auch in der gesamten Natur war, in das ewige Stirb und Werde allen Lebens integriert; es werde gleichsam vergänglich und verliere seine Eigenschaft, sich durch den Zins und Zinseszins bis ins Unendliche zu vermehren. Eine solche Reform des Geldwesens wäre eine ganzheitliche Regulationstherapie, welche die Blockaden im Geldfluß auflöst und dem kranken Sozialorganismus eine Hilfe zur allmählichen Selbstheilung von den vielfältigen konjunkturellen und strukturellen Krisensymptomen gibt, so daß er sich in seinem Gleichgewicht stabilisieren und sich in die harmonische Gesamtordnung der Natur einfügen könnte.

In seinem 1916 in Berlin und Bern erschienenen Hauptwerk "Die Natürliche Wirtschaftsordnung durch Freiland und Freigeld" legte Gesell ausführlich dar, wie sich bei einer störungsfreien Geldzirkulation Kapitalangebot und -nachfrage ausgleichen, so daß das Zinsniveau unter seine bisherige Untergrenze von real drei Prozent absinken kann. Der "Urzins", der Tribut der arbeitenden Menschen an die Macht des Geldes, verschwindet aus dem Zins, welcher nun nur noch aus der Risikoprämie und der Bankvermittlungsgebühr besteht. Die Schwankungen der Marktzinssätze um diesen neuen Gleichgewichtszins sorgen für eine dezentrale Lenkung der Ersparnisse in bedarfsgerechte Investitionen. Sie heben sich aber gegenseitig auf. "Freigeld" als ein vom " Urzins" befreites Geld wird verteilungsneutral und kann auch keinen gegen die Interessen von Anbietern und Nachfragern verstoßenden Einfluß auf Art und Umfang der Produktion mehr ausüben. Der volle Arbeitsertrag werde, so Gesells Erwartung, breite Bevölkerungsschichten in die Lage versetzen, lohn- und gehaltsabhängige Beschäftigungsverhältnisse aufzugeben und sich in privaten und genossenschaftlichen Betriebsformen selbständig zu machen.

Boden: Treuhänderische Lebensgrundlage statt Handelsware und Spekulationsobjekt

Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert erweiterte Gesell seine Konzeption einer Reform des Geldwesens um die Forderung nach einer Reform des Bodenrechts. Die Anregung hierzu erhielt er durch die Lektüre der Werke des nordamerikanischen Bodenreformers Henry George ( 1839 - 1897 ), dessen Gedanken in Deutschland durch Michael Flürscheim ( 1844 - 1912 ) und Adolf Damaschke ( 1865 - 1935 ) weitergetragen wurden. Im Gegensatz zu Damaschkes Bestreben, bei Fortbestand des privaten Bodeneigentums lediglich den Wertzuwachs zugunsten der Allgemeinheit zu besteuern, folgte Gesell dem Vorschlag Flürscheims, den Boden gegen eine Entschädigung der bisherigen privaten Eigentümer in die Hände des Staates zu überführen und zur privaten Nutzung an Meistbietende zu verpachten. Solange der Boden eine private Handelsware und ein Spekulationsobjekt bleibe, werde die organische Verbindung des Menschen mit der Erde gestört. Anders als völkischen Ideologen ging es Gesell nicht um eine Verbindung von Blut und Boden. Als Weltbürger betrachtete er die ganze Erde als ein Organ jedes einzelnen Menschen. Alle Menschen sollten unbehindert über die Erde wandern und sich unabhängig von ihrer Herkunft, Hautfarbe und Religion überall ansiedeln können.

Wirtschaftliche Gleichstellung von Frauen und Männern

Zunächst dachte Gesell wie andere Bodenreformer, daß der Staat durch die Einnahmen aus der Verpachtung des Bodens in die Lage versetzt würde, seine Aufgaben zu finanzieren, ohne dafür noch weitere Steuern zu erheben ( Single - Tax ). Doch führte ihn die Frage, wem die Pachteinnahmen nach dem Verursacherprinzip wirklich zustehen, zu der Überlegung, daß die Höhe der Pachteinnahmen von der Bevölkerungsdichte abhängt, letztlich also von der Bereitschaft der Frauen, Kinder zur Welt zu bringen und aufzuziehen. Deshalb wollte Gesell die Pachteinnahmen als Entgelt für Erziehungsleistungen an die Mütter nach der Zahl ihrer minderjährigen Kinder in Monatsbeträgen auszahlen - auch an die Mütter nichtehelicher Kinder und an die in Deutschland lebenden Ausländerinnen. Alle Mütter sollten aus der ökonomischen Abhängigkeit von den erwerbstätigen Vätern befreit werden. Das Verhältnis zwischen den Geschlechtern sollte dadurch auf die Grundlage einer von Machteinflüssen freien Liebe gestellt werden. In einem Vortrag "Der Aufstieg des Abendlandes" gab Gesell seiner Hoffnung Ausdruck, daß die vom Kapitalismus körperlich, seelisch und geistig krank gemachte Menschheit in einer von Privilegien und Monopolen freien, natürlichen Wettbewerbsordnung allmählich wieder gesund werden und zu einer neuen Kulturblüte aufsteigen könne.

Weitere Wegbereiter einer Marktwirtschaft ohne Kapitalismus

Die Freiland - Freigeld - Theorie war eine Reaktion sowohl auf das Laissez - faire - Prinzip des klassischen Liberalismus, als auch auf planwirtschaftliche Vorstellungen des Marxismus. Sie ist kein dritter Weg zwischen Kapitalismus und Kommunismus im Sinne späterer Konvergenztheorien oder sogenannter 'mixed economies', d. h. vom Staat global gesteuerter kapitalistischer Marktwirtschaften, sondern eine Alternative jenseits der bislang verwirklichten Wirtschaftssysteme. Ordnungspolitisch läßt sie sich als eine "Marktwirtschaft ohne Kapitalismus" charakterisieren. Eigenständig weitergedacht hat Gesell damit die Überlegungen des französischen Sozialreformers Pierre Joseph Proudhon ( 1809 - 1865 ), der schon um die Mitte des 19. Jahrhunderts die private Aneignung des Bodens und die Macht des zinstragenden Geldes dafür verantwontlich gemacht hatte, daß nach dem Ende des Feudalabsolutismus keine herrschaftsfreie Gesellschaft entstanden war. Die private Bodenrente hatte Proudhon als Raub und den Geldzins als krebsartigen Wucher verurteilt. Diese ausbeuterischen Einkommensarten führten zur Entstehung des Großbürgertums als neue herrschende Klasse, die sowohl den Staat als auch die Kirchen zu Instrumenten ihrer Herrschaft über das Kleinbürgertum und die Arbeiterschaft machen konnte. Verwandt ist Gesells ökonomisches Alternativmodell auch mit dem ebenfalls von Proudhon angeregten libertären Sozialismus des Kulturphilosophen Gustav Landauer (1870 - 1919 ), der seinerseits Martin Buber ( 1878 - 1965 ) stark beeinflußte. Gedankliche Parallelen gibt es auch zum Liberalsozialismus des Arztes und Soziologen Franz Oppenheimer ( 1861-1943 ) und zur Sozialen Dreigliederung des Begründers der Anthroposophie, Rudolf Steiner ( 1861 - 1925 ).

Erste Organisationen in Deutschland und in der Schweiz während des Ersten Weltkriegs

Gesells erster Mitarbeiter Georg Blumenthal ( 1879 - 1929 ) verband die Bodenrechts- und Geldreform mit der Idee einer "natürlichen Ordnung" der Gesellschaft, mit der Francois Quesnay ( 1694 - 1774 ) und andere Physiokraten zur Zeit der französischen Aufklärung dem Feudalabsolutismus entgegengetreten waren. 1909 gründete er die Physiokratische Vereinigung als erste Organisation der Anhänger Gesells, die in Berlin und Hamburg aus den Reihen der Bodenreformer, Individualanarchisten und Syndikalisten kamen. Als die Zeitschrift "Der Physiokrat" während des ersten Weltkriegs der Zensur zum Opfer fiel, siedelte Gesell in die Schweiz über, wo er aus den Kreisen der dortigen Bodenreformer, Reformpädagogen und Lebensreformer Anhänger fand. Sie schlossen sich im Schweizer Freiland-Freigeld-Bund zusammen. In zwei Vorträgen "Gold und Frieden?" und "Freiland, die eherne Forderung des Friedens" arbeitete Gesell die Bedeutung seiner Reformvorschläge als Weg zur sozialen Gerechtigkeit und zum Völkerfrieden heraus.

Zwischen den beiden Weltkriegen

Nach dem Ende des ersten Weltkriegs und der deutschen Novemberrevolution führte Gesells Verbindung mit Landauer zu seiner kurzzeitigen Mitwirkung als Volksbeauftragter für das Finanzwesen in der ersten bayrischen Räteregierung. Nach deren Sturz wurde er zunächst des Hochverrats angeklagt, von dieser Anklage aber wieder freigesprochen. Sodann zog er in die Nähe von Berlin, wo er die Entwicklung der Weimarer Republik beobachtete und in zahlreichen Broschüren und Aufsätzen kommentierte. Mit einer gestaffelten, bis zu 75%igen Vermögensabgabe wollte Gesell den Großgrundbesitz und das Großkapital zur Tilgung der Kriegsfolgen heranziehen und zugleich mit seiner Boden- und Geldreform eine inländische Kapitalbildung einleiten, die Deutschland in die Lage versetzen sollte, die Reparationsforderungen der Siegermächte zu erfüllen. Unermüdlich protestierte Gesell dagegen, daß die rasch wechselnden Regierungen stattdessen die mittleren und unteren Bevölkerungsschichten durch eine große Inflation noch mehr zugunsten der Wohlhabenden ausraubten, daß sie die Reparationszahlungen verschleppten, Deutschland vom Zufluß ausländischen Kapitals abhängig machten und daß sie die stabile Rentenmark durch die krisenträchtige Goldwährung ersetzten.

Frühzeitig distanzierte sich Gesell von rassistischen und antisemitischen Ideologien. Obgleich er stark von Darwins Evolutionslehre beeinflußt war, widersprach er sozialdarwinistischem Denken. Einem übersteigerten Nationalismus entgegentretend, setzte er sich für eine Verständigung mit den westlichen und östlichen Nachbarn Deutschlands ein. Die Expansionspolitik der Nationalstaaten sollte durch eine machtfreie Föderation europäischer Staaten abgelöst werden. Darüber hinaus entwickelte Gesell auch Ansätze für eine nachkapitalistische Weltwährungsordnung. Er trat für einen offenen Weltmarkt ohne kapitalistische Monopole und ohne Zollgrenzen, ohne nationalen Handelsprotektionismus und ohne koloniale Eroberungen ein. Im Gegensatz zu den späteren Institutionen IWF und Weltbank, die innerhalb bestehender Unrechtsstrukturen die Interessen der Mächtigen vertreten, und auch im Gegensatz zu den gegenwärtigen Vorbereitungen einer europäischen Währungsintegration wollte Gesell eine "Internationale Valuta-Assoziation" einrichten, die ein über allen Landeswährungen stehendes neutrales Weltgeld ausgibt und so verwaltet, daß es einen Ausgleich der freien Weltbandelsbeziehungen herbeiführt.

Die große Inflation der frühen Nachkriegsjahre begünstigte ein rasches Anschwellen von Gesells Anhängerschaft auf schätzungsweise 15.000 Personen. Sie zerfiel jedoch 1924 in den gemäßigten liberalen Freiwirtschaftsbund und in den radikalen individualanarchistischen Fysiokratischen Kampfbund. Zu dieser Spaltung trug eine harte Kontroverse bei, die sich an Gesells weitreichenden Vorstellungen über einen "Abbau des Staates" entzündet hatte. Innere Flügelkämpfe schwächten die Anhängerschaft. Da es ihr nicht gelang, zu einer Massenbewegung zu werden, unternahm sie während der gesamten Weimarer Zeit vielfaltige Annäherungsversuche an die Sozialdemokratie und an die Gewerkschaftsbewegung sowie an die damaligen Friedens-, Jugend- und Frauenbewegungen. Während der großen Weltwirtschaftskrise richtete der Freiwirtschaftsbund Denkschriften an sämtliche im deutschen Reichstag vertretenen Parteien, in denen er vor den verheerenden Folgen der damaligen Deflationspolitik warnte und Vorschläge zur Überwindung der Krise unterbreitete. Diese Denkschriften blieben ohne Resonanz. Als praktische Experimente des Fysiokratischen Kampfbundes mit Freigeld öffentliches Aufsehen erregten, wurden sie 1931 im Zuge der Brüningschen Notverordnungen vom deutschen Reichsfinanzministerium verboten. Bei den Reichstagswahlen 1932 blieb eine Freiwirtschaftliche Partei ohne Erfolg. Nach der Machtergreifung durch den Nationalsozialismus verdrängten schließlich viele Anhänger Gesells ihre Einsichten in den wahren Charakter der NS-Ideologie und gaben sich trügerischen Hoffnungen hin, daß Hitler und Gottfried Feder eine 'Brechung der Zinsknechtschaft' vielleicht doch ernsthaft anstreben könnten. Sie versuchten deshalb, die NSDAP von innen durch eine Beeinflussung von Spitzenfunktionären wirtschaftspolitisch umzusteuern. Trotz bedenklicher taktischer Anpassungen an das Regime wurden die freiwirtschaftlichen Organisationen und ihre Medien im Frühjahr 1934 verboten bzw. sie lösten sich selbst auf. Zu ihrer anfänglichen Fehleinschätzung des totalitären Regimes dürften nicht nur die schmerzlichen Zurückweisungen durch die Weimarer Parteien beigetragen haben, sondern vor allem auch die Unklarheit über einen geeigneten Weg zur Realisierung der Boden- und Geldreform. In Österreich (bis 1938) und in der Schweiz bestanden Freiwirtschaftsbünde fort. Von Gesells Hauptwerk erschienen auch englische, französische und spanische Übersetzungen. Einführende Broschüren entstanden außerdem in den niederländischen, portugiesischen, tschechischen, rumänischen und serbokroatischen Sprachen sowie in Esperanto. Dementsprechend gab es kleinere Gruppen in England, Frankreich, Holland, Belgien, in der Tschechoslowakei, Rumänien und Jugoslawien. In Nord- und Südamerika, Australien und Neuseeland gingen solche Gründungen von deutschen Auswanderern aus.

Nach 1945: Neuanfang, Vergessenwerden und Wiederaufleben seit dem Ende der 70er Jahre

In allen damaligen Besatzungszonen Deutschlands kam es zur Neugründung freiwirtschaftlicher Organisationen. In der SBZ wurden sie 1948 aufgelöst; die dortigen Machthaber betrachteten Gesell entweder als einen 'Apologeten der Monopolbourgeoisie' oder wie Marx' Gegenspieler Proudhon als einen 'kleinbürgerlichen Sozialisten', dessen Ziele mit dem 'wissenschaftlichen Sozialismus' unvereinbar waren. In Westdeutschland entschied sich die Mehrzahl der noch verbliebenen Anhänger Gesells aufgrund ihrer Erfahrungen mit den Weimarer Parteien für ein eigenes parteipolitisches Engagement. Sie bildete eine Radikalsoziale Freiheitspartei, die 1949 bei den Wahlen zum Deutschen Bundestag knapp 1 % der Stimmen bekam. Danach benannte sie sich in Freisoziale Union um und erzielte bei weiteren Wahlen nur noch minimale Stimmenergebnisse. Als Tagungsstätte bestand jedoch ein Silvio-Gesell-Heim auf dem Asbruch zwischen Wuppertal und Neviges fort.

Das westdeutsche Wirtschaftswunder brachte während der 50er und 60er Jahre das öffentliche Interesse an wirtschaftspolitischen Systemalternativen zum Erliegen, obwohl namhafte Nationalökonomen wie Irving Fisher und John Maynard Keynes die Bedeutung Silvio Gesells anerkannt hatten. Erst seit dem Ende der 70er Jahre führten die Massenarbeitslosigkeit, die Umweltzerstörung und die internationale Schuldenkrise zu einem Wiederanstieg des Interesses an Gesells fast vergessenem Modell einer alternativen Ökonomie. Dadurch wurde auch ein Generationenwechsel innerhalb seiner Anhängerschaft möglich.

Im Schweizerischen Wirtschaftsarchiv in Basel gibt es eine Schweizerische Freiwirtschaftliche Bibliothek. In Deutschland hat die Stiftung für persönliche Freiheit und soziale Sicherheit 1983 mit dem Aufbau einer Freiwirtschaftlichen Bibliothek begonnen. Als Grundstein für eine wissenschaftliche Forschung über Silvio Gesells Theorien gibt sie seit 1988 eine auf 18 Bände angelegte Gesamtausgabe seiner Werke heraus. Hierauf baut eine Buchreihe mit dem Titel "Studien zur natürlichen Wirtschaftsordnung" auf, die mit einer Gesamtübersicht über die einhundertjährige Geschichte der NWO-Bewegung und mit einer Auswahl aus den Werken von Gesells bedeutendstem Schüler Karl Walker begann. Die Stiftung fördert auch andere Buchpublikationen zu Fragen des Bodenrechts und der Geldordnung und gibt gemeinsam mit der Sozialwissenschaftlichen Gesellschaft eine " Zeitschrift für Sozialökonomie" heraus. Außerdem hat sie 1988 und 1995 einen "Karl-Walker-Preis" für wissenschaftliche Arbeiten über die Verselbständigung der Finanzmärkte gegenüber der Realwirtschaft sowie über Wege zur Überwindung der Arbeitslosigkeit verliehen. Das Seminar für freiheitliche Ordnung publiziert die Schriftenreihe "Fragen der Freiheit". Daneben gibt es eine Initiative für Natürliche Wirtschaftsordnung, die sich zusammen mit befreundeten Organisationen in der Schweiz und in Österreich um eine Popularisierung von Gesells Gedanken bemüht. Eine Vereinigung Christen für Gerechte Wirtschaftsordnung verbindet den Denkansatz der Boden- und Geldreform mit der jüdisch christlich - moslemischen Kritik an der Bodenspekulation und am Zinsnehmen. Margrit Kennedy, Helmut Creutz und andere AutorInnen arbeiten an einer Aktualisierung von Gesells Denkansatz. Dabei geht es unter anderem um die Frage nach dem Zusammenhang des exponentiellen Wachstums der Geldvermögen und Schulden mit dem die Umwelt zerstörenden Wachstum der realen Wirtschaft, um eine Überwindung des Wachstumszwangs und um eine Verbindung der Boden- und Geldreform mit einem ökologischen Steuersystem. Einen Überblick über den derzeitigen Stand der Theorieentwicklung gibt das Buch "Gerechtes Geld - Gerechte Welt". Es enthält die Beiträge zu einer 1991 in Konstanz veranstalteten Tagung "100 Jahre Gedanken zu einer Natürlichen Wirtschaftsordnung - Auswege aus Wachstumszwang und Schuldenkatastrophe ".

Der Zusammenbruch des Staatssozialismus in Mittel- und Osteuropa brachte einen vorläufigen Triumph des westlichen Kapitalismus im Wettkampf der Systeme. Solange jedoch die Gegensätze zwischen Armut und Reichtum und als Folge davon Krisen und Kriege fortbestehen, solange die Umwelt durch exponentielles Wirtschaftswachstum zerstört wird und solange der industrialisierte Norden den Süden rücksichtslos ausplündert, bleibt es notwendig, nach Alternativen zu den herkömmlichen Wirtschaftssystemen zu suchen. Darin könnte eine Zukunftsperspektive auch für Silvio Gesells Freiland - Freigeld - Modell liegen.