Der Süddeutschen wird das Internet zuviel
Florian Rötzer 12.12.2007
Zuerst ließ man einen Redakteur eine Breitseite gegen den Internetpöbel feuern, dann schließt man das Forum über Nacht und am Wochenende vor den Barbaren aus der Tiefe des virtuellen Raums
Am Wochenende veröffentliche die Süddeutsche Zeitung einen leidenschaftlichen Verriss des Internet. Bernd Graff blickte unter dem Titel Web 0.0 aus dem Printmedium herab auf die Tiefen des Internet, in dem die Amateure, Bürgerreporter und das Volk sich tummeln, unter aller Qualität selbstverständlich. "Das Internet", so Graff, "verkommt zu einem Debattierklub von Anonymen, Ahnungslosen und Denunzianten."
Irgendwie scheinen die alten Vertreter der Printmedien, die bislang zurückgezogen, höchstens ereilt von wenigen Leserbriefen und ansonsten fern der ungeliebten Öffentlichkeit lebten, bislang nicht gewusst zu haben, was "da draußen" in der unreglementierten Öffentlichkeit und damit auch der herrschenden Wirklichkeit vor sich geht. Früher ließ sich das als Stammtischgerede verleugnen, mit dem Internet stehen die sich gerne im elitären Elfenbeinturm Wähnenden nun plötzlich nicht mehr als belehrende Wissensvermittler und Kommentatoren über und neben den Massen, sondern finden sich auf gleicher Höhe mit diesen.
Graff solidarisiert sich gegenüber all der Dummheit und Rüpelhaftigkeit, früher hätte man gesagt: gegenüber den Proleten, mit FAZ-Mitherausgeber Frank Schirrmacher. Dieser hatte jüngst in seiner auch in der SZ veröffentlichten Dankesrede für den Preis der Deutschen Sprache den "seelischen Extremismus" beschworen, mit dem die Kinder durch das Internet programmiert würden. Er sprach von "ikonographischem Extremismus" . eigentlich nur ein anderes Wort für Terrorismus -, dem die Kinder durch das Internet . offenbar nicht durch Fernsehen und Kino . ausgesetzt seien. Dem Angriff auf die Gehirne können nach Schirrmacher nur die Tageszeitungen mit ihrem Qualitätsjournalismus . also neben FAZ auch Bild und Co. . Paroli bieten. "Fast alles, was im Netz auf Dauer ernst genommen wird", so lobt Schirrmacher sich und seine Branche, "hat seine Urquelle in den Zeitungen." Besonders wichtig sei sie deswegen, weil sie ein "verzögerndes Moment in der gesellschaftlichen Komunikation" darstelle und "eine Haltbarkeit von mindestens 24 Stunden" biete . "und in ihren Kommentaren, Rezensionen und Kritiken will sie sogar vor der Nachwelt bestehen".
Graff . und Schirrmacher vor ihm . erregte sich über die Erregung, die nach dem Selbstlob des Zeitungsherausgebers und Zeitungsautors über die eigene Zunft und Branche hereinbrach. Hal Faber legte das Seine auf heise.de auch noch dazu und sprach von einem "grobmotorischen Angriff" des SZ-Autors oder von dessen "Blähungen". Das ist nicht fein und würde von Graff womöglich, obgleich von einem journalistischen, obzwar keiner Tageszeitung angehörende Kollegen stammend, dem alles überwuchernden "Loser Generated Content" zugeordnet werden. Hal Faber hat aber auch auf den Zusammenhang zwischen der rhetorisch hochgeschraubten, argumentativ allerdings nicht gerade besonders herausragenden Polemik der Süddeutschen gegen die Niederungen des Internetpöbels hingewiesen.
Als nämlich Graffs Artikel erschien, veröffentlichte die Süddeutsche Zeitung am selben Tag eine Mitteilung der Chefredaktion, in der exekutiert wurde, was der Polemiker als Kennzeichen der nicht näher benannten "etablierten Medien" ausführte: "Die etablierten Medien verfügen über rigide Aufnahmeverfahren und praktizieren bei journalistischem Fehlverhalten im besten Fall Sanktionierungen." Im Web 2.0 mitschwimmend, um die winkenden Profite sich nicht entgehen zu lassen, hatte die SZ ihre lange Zeit vernachlässigte Internetpräsenz ausgebaut - und dabei auch die Mitmachmöglichkeiten für die Leser.
Dass das Probleme mit sich zieht und man sich damit einem scharfen, mitunter hässlichen und jedenfalls unangenehmen Wind "da draußen" im Internet aussetzt, scheint man nicht bedacht zu haben. Man wähnte vielleicht, dass die Leser der SZ ebenso elitär seien, wie man sich selbst als Vertreter des "Qualitätsjournalismus" fühlte, vielleicht dachte man ja auch, es kämen nur Kommentare der Art, wie einst Leserbriefe hereintröpfelten. Aber allmählich kam es anders, das "Web 0.0" drängte durch die offene Tür in die hehren Hallen und konfrontierte die Qualitätszeitung mit dem Pöbel der Straße. Zuerst wurde versucht, das Forum strenger zu moderieren, aber die Äußerungen in Foren können nicht nur rechtliche Folgen nach sich ziehen, die Moderation verlangt auch Zeit und Geld. Das aber will man nicht aufbringen und bricht daher vorerst nur zeitweise das Experiment der virtuellen Agora ab:
In jüngster Zeit mussten wir allerdings feststellen, dass diese zurückhaltende Moderation nicht mehr genügt. Insbesondere nachts und am Wochenende gehen zuweilen Kommentare online, die mit einer sinnvollen Form von Meinungsäußerung nichts mehr zu tun haben. Wir haben uns deshalb entschlossen, in Zukunft stärker moderierend einzugreifen.
Stärker moderieren heißt für die Chefredaktion: die Tore dicht machen. Schließlich möchte man in der Nacht und am Wochenende . ganz im retardierenden Takt der Qualitätsmedien . seine Ruhe haben und gleichzeitig Kosten sparen. Das zu sagen, ist man sich allerdings zu fein, auch wenn die Qualitätszeitung gerne und kostenlos "rege Diskussionen, interessante Gedanken, konstruktive Kritik und gute Ideen" aufnimmt, was nicht zuletzt die Quote in Form der PageViews steigert. Aber jetzt geht es erstmal um die Qualität:
Eine solche intensivere Betreuung erfordert die ständige Präsenz aktiver Moderatoren. Deshalb werden wir die Kommentarfunktion ab sofort zwischen 19 Uhr abends und 8 Uhr morgens einfrieren. Das bedeutet, dass in dieser Zeit auf sueddeutsche.de keine Kommentare publiziert werden können. Dieser "Freeze" gilt auch für die Zeit am Wochenende - zwischen Freitag, 19 Uhr, und Montag, 8 Uhr - sowie für Feiertage.
Und hier der Artikel von einem embedded journalist
der um seinen Job fuerchtet und dem mobbing ausgesetzt ist.
Bernd Graff muss nach dem Mund seines Bosses schreiben,
sonst fliegt er.
Ressort: Computer
Die neuen Idiotae
Web 0.0
Das Internet verkommt zu einem Debattierklub von Anonymen, Ahnungslosen und Denunzianten. Ein Plädoyer für eine Wissensgesellschaft mit Verantwortung.
Von Bernd Graff
Anmerkung der Redaktion im Internet: Als Schueler im Couven (Couvengymnasium, Aachen) dachten andere immer er haette mit Minderwertigkeitskomplexen zu kaempfen weil er einen Kopf kleiner als seine Mitschueler war.
Eigensinniges Wissen oder Narren im Netz?
Seit fast einem halben Jahrzehnt gibt es das "partizipative Web". Das klingt nach Leistungskurs, meint aber neue Formen der Beteiligung und der Berichterstattung im Internet. Diese Formen werden von engagierten Zeitgenossen genutzt, weil sie - sei es aus Idealismus, sei es, weil sie sonst keine Beschäftigung haben - eine Rolle in der allgemeinen Informationsbildung übernehmen wollen. Man spricht auch schon von "Bürger-Reportern" und "Graswurzeljournalisten".
Eine Art: Vierte Digitalgewalt? Schlaue Menschen werden darauf hinweisen, dass das Internet immer schon ein Beteiligungsnetz war, und dass die Ansätze zu dieser Berichterstattung wesentlich älter sind als fünf Jahre. Leider nun sind jene Schlauen, die wir aus unserem gut gewärmten Mainstreammedia-Bett heraus und hinein in ihr debattenknisterndes Web grüßen: das Problem.
Sie zerfleddern - wie es gerne auch wir Zeitungsmenschen tun - jedes Thema. Sie tun dies aber oft anonym und noch öfter von keiner Sachkenntnis getrübt. Sie zetteln Debattenquickies an, pöbeln nach Gutsherrenart und rauschen dann zeternd weiter. Sie erschaffen wenig und machen vieles runter. Diese Diskutanten des Netzes sind der Diskurstod, getrieben von der Lust an Entrüstung.
Haben wir Entrüstung gesagt? Setzen Sie dafür bitte beliebig ein: Sabotage, Verschwörung, Häme, Denunziation, Verächtlichmachung, Hohn, Spott. Ja, wir müssen uns die Kräfte des freien Meinungsmarktes als äußerst destruktiv vorstellen.
Querulanten und Freizeitaktivisten
Nun könnte man sagen: diese Inquisitoren in eigener Sache, das sind halt Querulanten und Leute mit seltsamen Präferenzen. Freizeitaktivisten mit ein bisschen Schaum vor dem Mund. Die gibt es eben. Das könnte man so sehen. Man sollte es aber nicht.
Das von US-Visionären importierte Problem ist, dass man dem unter dem Mantel des Web 2.0 rumorenden Plebiszit die Zukunft anvertrauen möchte.
So zimmert sich der Wired-Autor Kevin Kelly in "We are The Web" daraus bereits das Internet als globale Hirnmaschine zurecht, die ihre überragende Intelligenz noch entwickeln wird. Kelly tut das mit einem Pathos, das man nur magengestärkt erträgt: "Es gibt nur eine einzige Epoche in der Geschichte jedes Planeten, in der seine Bewohner ungezählte Einzelteile zu einer einzigen großen Maschine zusammenbauen. Diese Maschine wird immer weiter laufen, aber es gibt nur eine Zeit, in der sie geboren wird. Du und ich dürfen dies gerade erleben."
Man schwärmt von "SchwarmIntelligenz" und attestiert, wie der Autor James Surowiecki, eine Weisheit der Vielen. Strikt selbstorganisierend - womit vornehm umschrieben ist, dass Geschwätz keine Organisation benötigt. Genauso gut könnte man allerdings einem Fliegenschwarm guten Geschmack unterstellen. Helmut Schmidts zeitloser Rat, dass derjenige, der Visionen hat, besser einen Arzt aufsucht, scheint nicht mehr viel zu gelten.
Auch hierzulande kippen sich Visionäre immer öfter öffentlich einen hinter die Binde. "Prosumenten" nannte man die Netz-Diskurs-Hopper auf den letzten Münchner Medientagen. Das Wort bezeichnet Menschen, die Informationen zugleich produzieren wie konsumieren. "Prosumenten" klingt nach Proselyten, also nach Hinzugekommenen, die zwar alles ein wenig zu ernst nehmen, aber nicht so genau verstehen, was dieses Alles eigentlich ist.
Bis tief hinein in eine erschütternd arglose Öffentlichkeit herrscht indes Konsens darüber, dass das basisdemokratisch breiig getretene Wissen erstens in der gesichts- und charakterlosen "many-to-many"-Kommunikation des Web gut aufgehoben ist, und dass das zweitens nicht nur Okay ist, sondern auch die Zukunft. Der Kommunikationswissenschaftler Norbert Bolz spricht sogar "sozialpsychologisch" von einer "großen Befreiung".
Auswüchse des Absurditätenstadls
Bolz hat dem Spiegel ein Interview gegeben, in dem er die Auswüchse dieses Absurditätenstadls notiert. Man möchte sich beim Lesen dieses Interviews mit dem Mauskabel strangulieren: "Die einfache Orientierung an klassischen Autoritäten bricht zusammen. Man nimmt Politikern ihr Besser-Wissen nicht länger ab. Auch bei Anwälten und Medizinern ist die Erosion ihrer Autorität unendlich weit fortgeschritten. Für Ärzte ist das eine Katastrophe: Ihre Patienten sind auf einmal bestens informiert, fragen und fordern. Überhaupt sind alle, die mit Wissen umgehen, diesem Erosionsprozess ausgesetzt. An die Stelle von Autorität tritt dieses eigentümliche, breitgestreute, selbstkontrollierte Netzwerkwissen."
Nun, dieses Wissen ist gewiss eigentümlich und breitgestreut, aber es ist selten kontrolliert, auch nicht selbstkontrolliert, und ein Wissen ist es oftmals sogar gar nicht. Gemeint ist ja nicht nur die flirrende Suchmaschinenbildung, mit der man seinen Hausarzt demütigt. Gemeint ist auch pures Meinungswissen: unüberprüfbar, kühn, behauptend, flatterhaft, und vor allem: anonym in die Welt gesetzt, was Spaßvögeln und aber auch Denunzianten besonders entgegenkommt.
Die Opferseite internetvictims.de listet im Netz-Rauschen ein Panoptikum an Rufschädigungen, Beleidigungen, Verleumdungen und übler Nachrede auf. Da wird man fast wieder zum Fan von Eliten und auf jeden Fall zum Lobsänger der Differenz zwischen verantwortetem und - im mehrfachen Sinne des Wortes - verantwortungslosem Wissen.
So wie Larry Sanger, der Mitgründer der Web-Enzyklopädie Wikipedia, der den Verein früh wieder verließ. Sanger geißelt frustriert die gewollt "anti-elitäre Haltung" der Wikipedianer: "Als eine Gemeinschaft, die sich nicht als elitär begreift (was bedeuten würde, dass man die ungewaschenen Massen draußen lassen müsste), ist sie sogar ausdrücklich anti-elitär (was hier bedeutet, das man den Experten gar keinen Respekt zollt und unflätige Beschimpfung ausdrücklich toleriert.)" Prätentiöse Mittelmäßigkeit regiere das Projekt, getragen "von Leuten, die nicht kooperieren könnten und - noch schlimmer - nicht einmal kapierten, dass ihnen das Wissen fehlt."
Der andere Wikipedia-Gründer, Jimmy Wales, der noch bei der Sache ist, hat im letzten Jahr eine Rede vor College-Studenten an der University of Pennsylvania gehalten. Es drängte ihn, seine Zuhörer von Wikipedia abzuhalten. Er bekomme dauernd E-Mails von Studenten, die sich darüber beschwerten, dass sie in Prüfungen mit falschem Wikipedia-Wissen durchgefallen seien. Er, Wales, kenne da kein Mitleid: "Um Himmels willen! Ihr seid doch auf dem College. Wie könnt ihr da diese Enzyklopädie für eure Studien nutzen!"
Das "Pew Research Center" in Washington hat im Sommer untersucht, welche Themen auf User-News-Sites wie Digg, Reddit und Del.icio.us für wichtig erachtet werden, mit dem Ergebnis: Als Ersatz für herkömmliche Medien kann sich der "citizen journalism" des Netzes nicht bewähren, vielleicht aber als Ergänzung. So versöhnlich muss man nicht sein: In der Nutzer-Hierarchie von del.icio.us gelangen nur drei Prozent der Nachrichten, die das Weltgeschehen bestimmen, auf die Plätze. Wesentlich wertiger werden hier Stücke über Kaffeekochen in Japan und die Beschaffenheit von Flugzeugsitzen empfunden.
Siamesische Zwilinge Internet und Beliebigkeit
Zugegeben: Klage darüber zu führen, dass Internet und Beliebigkeit siamesische Zwillinge sind, ist so sinnvoll, wie gegen den Wind zu pusten. Denn das Internet gibt es nicht - es ist alles, es ist nichts. Und, ja, es gibt hervorragende Expertenzirkel und phantastische Communities mit hoher Sachkenntnis. Niemand bestreitet den Wert, den die zum Weltarchiv gewordene Video-Abspielplattform Youtube bereits jetzt hat. Und, ja, es gibt diese schöne Open-Source-Bewegung, die so wunderbare Dinge wie Linux über uns gebracht hat. Hier werden Werte geschaffen. Kein Mensch würde das ernsthaft in Zweifel ziehen. Genausowenig wie die Tatsache, dass in Wikipedia viel brauchbares Wissen zu finden ist, wie gerade wieder eine vom Stern in Auftrag gegebene Studie belegt.
Aber wieso all das grundsätzliche Hallelujah auf den "User Generated Content", der nicht selten ein "Loser Generated Content" ist? Wollen wir uns nur über die paar Gala-Vorstellungen freuen, wenn Fehlinformation, Denunziation und Selbstdarstellung das Tagesgeschäft der Laufkundschaft im Netz ist?
Man sollte sich darum vergegenwärtigen, was diese angebliche Web 2.0-Gegenöffentlichkeit neben der Wikipedia als Erfolge preist: Das ist zumeist praktizierter Warentest, gefolgt von einem Aufschrei der Vielen. Es geht um knackbare Fahrradschlösser, Kopierschutz auf DVDs und gefilmte Ratten in einer Fastfoodfiliale. Wollen wir diesen Aufstand der Konsumenten mit der Aufdeckung des Watergate-Skandals vergleichen?
Nein, die 2.0-Alternative muss man nicht so toll finden wie der immer so seltsam optimistische Zukunftsforscher Matthias Horx. Er will Rückstrahleffekte dieses Webs auf klassische Medienhäuser erkannt haben, jedenfalls fabuliert er das in der aktuellen Ausgabe von Cicero: "Das Innere wird nach außen gestülpt, produziert wird wandelbare soziale Identität, die sich zunehmend hochproduktiv vernetzt. Die Me-Volution ist in vollem Gange, und ( . . . ) sie greift langsam, aber sicher auf die Produktionsbedingungen (der etablierten Medien) über."
Me-Volution ist ganz großartig, vor allem für die Me-Volutionäre selbst. Weniger allerdings für jene, die dieses "Wissen" dann ergoogeln und für bare Münze nehmen.
Ich blogge, also lebe ich
Warum aber sollten Menschen, die lediglich neue technische Möglichkeiten nutzen, etwa um ihre Poesie-Alben zu veröffentlichen oder um ihrer Trauer über kaputte Computer Ausdruck zu verleihen, warum sollten diese Menschen Produktionsbedingungen für Medien diktieren und Meinungsführerschaft beanspruchen? Ist die produktive Vernetzung von wandelbaren sozialen Identitäten schon deswegen gegeben, weil jemand ein Chatprogramm anschmeißen kann oder sich in einem Blog wenigstens selbst beweist, dass er ja bloggt, also irgendwie noch lebt?
Von einem "Kult der Amateure" spricht Nicholas Carr. Der Journalist hat versucht, die Professionalität gegen die Me-Volution zu verteidigen: "Die ekstatischen Visionen des Web 2.0 setzen die Hegemonie des Amateurs voraus. Ich kann mir nichts vorstellen, was furchterregender wäre", schreibt er: "Das Internet vermindert unsere Wahlmöglichkeiten, anstatt sie zu erweitern. Die Wikipedia mag neben der Encyclopaedia Britannica verblassen, aber weil sie von Amateuren gemacht wird und nicht von Profis, ist sie gratis. Und gratis siegt stets über Qualität."
Obwohl etablierte Formen der Informationsbildung, zum Beispiel aus Tageszeitungen und Magazinen, als "Mainstream Media" verspottet werden (sie gelten als korrumpiert, hierarchisch, hirngewaschen, langsam und überaltert), obwohl der Schwarmgeist also triumphieren möchte, darf erinnert werden: Es macht immer noch den Unterschied, wer etwas sagt. Und wo er es tut.
Die etablierten Medien verfügen über rigide Aufnahmeverfahren und praktizieren bei journalistischem Fehlverhalten im besten Fall Sanktionierungen. Es darf also eben nicht jeder überall mitschreiben - und der, der schreibt, macht dies nie unbeobachtet und zum Beispiel auf der freien und anonymen Wildbahn der Wikipedia, die so einfach anzuklicken ist und wohl auch deshalb vor Fehlern strotzt. Was aber wiegt dann mehr? Dass das immer elitäre Denken der Mainstream-Medien im Zweifel undemokratisch ist? Oder, dass daraus Qualität entsteht?
Der Unterschied besteht
"Die Mainstream-Medien", schreibt Nicholas Carr, "können Dinge tun, die anders sind als die Dinge, die Blogs tun können - und, ja, sie sind auch bedeutender." Frank Schirrmacher, Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, hat kürzlich einen Preis für Deutsche Sprache erhalten. In seiner Dankesrede hat er die Qualitätszeitung als retardierendes Moment in der gesellschaftlichen Kommunikation bezeichnet und sie dafür gelobt, dass sie zwar langsamer als das Internet auf Ereignisse reagieren kann, dafür aber fundierter. Das mag man im Echtzeit-Informationszeitalter rührend finden. Zumal Schirrmacher konstatiert, dass "Zeitung und Internet konstitutiv sind für den, der ein aufgeklärtes Leben führen will".
Diese Rede ist von Spiegel Online auf eine Art und Weise zusammengefasst worden, die dem Netzaffen Zucker geben musste. Im Diskussionsforum des Nachrichtenportals gab es denn auch die erwartbare Ereiferung: "Schirrmacher ist gefährlicher als Rolliban Schäuble", "schon immer etwas rückständiger", "gleichgeschaltete Mainstreammedien", "typisch deutscher Manager", "jämmerlich altersschwach", "dummes Reaktionsschema" - und so weiter.
Schirrmacher hat auf die Polemik und die Eskalation im Netz reagiert und bei Spiegel Online eine Art kommentierter Lesehilfe nachgereicht. Auch diese Gebrauchsanweisung wurde natürlich wieder kommentiert. Unter anderem so: "Was soll man denn davon halten, wenn Schirrmacher . . . die Vorteile der Tageszeitungen quasi als Gegenmittel gegen die negativen Momente und Folgen des Internets anpreist? Hier wird natürlich ein Qualitätsgegensatz zwischen beiden Medien herbeigeredet."
Nein, ihr Lieben, der wird nicht herbeigeredet. Der besteht.
"Die Menschen", schreibt Norbert Bolz, "werden immer mehr zu - wie man im Mittelalter sagte - idiotae: also zu eigensinnig Wissenden. Die neuen Idiotae lassen sich ihr Wissen, ihre Interessen und Leidenschaften nicht mehr ausreden." Mag sein. Verlangt ja auch keiner. Aber sollen wir uns deshalb von jeder Idiotie in die Zukunft führen lassen?
(SZ vom 08.12.2007)
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