Noch mehr Privatisierungen?
»Diese neue Regierung ist notwendig geworden, weil sich die alte, die bisherige Regierung als unfähig erwies, gemeinsam die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, das Netz sozialer Sicherheit zu gewährleisten und die zerrütteten Staatsfinanzen wieder in Ordnung zu bringen.« So begründete Dr. Helmut Kohl, nachdem er durch den Wortbruch der F.D.P Kanzler geworden war, die damalige »Wende« Mehr als ein Jahrzehnt später ist die Massenarbeitslosigkeit zur Dauerplage geworden, die sich immer weiter ausbreitet. In das Netz sozialer Sicherheit hat die Regierung des Großen Geldes ein Loch nach dem anderen gerissen, so daß mehr und mehr Menschen hindurchfallen. Und die Staatsfinanzen sind so zerrüttet, daß noch Generationen zu schuften haben werden, um den gigantischen Schuldenberg abzutragen.
Daß eine neue Regierung notwendig geworden ist, wird jetzt auch in Kreisen der Wirtschaft erörtert - und zwar im Zusammenhang mit den Folgen der Rezession, die 1992/93 viele mittelständische Unternehmen in rote Zahlen oder ganz in den Ruin gestürzt hat.
Die Krise gehört zum Kapitalismus wie die Konjunktur.
Beide lösen sich regelmäßig ab. In der Rezession macht das Große Geld jedesmal reiche Beute; denn was die kleinen und mittleren Unternehmer aufgeben müssen, krallen sich die großen. Die jeweilige Regierung ist an der Tatsache zyklischer Krisen unschuldig. Insofern müssen wir ausdrücklich auch die Regierung des Dr. Helmut Kohl in Schutz nehmen. Doch damit sich der Zorn des Mittelstandes nicht etwa gegen das Große Geld richtet, muß in Krisenzeiten die jeweilige Regierung als Sündenbock herhalten. Daher droht Kohl jetzt auch Gefahr aus den Kreisen, denen er immer treu gedient hat. In der ersten schweren Wirtschaftskrise der Bundesrepublik 1965/66 mußte der damalige Bundeskanzler Ludwig Erhard abtreten, in der sogenannten »Ölkrise« 1972/73 Willy Brandt, für die Krise 1981/82 wurde Helmut Schmidt verantwortlich gemacht. Ist jetzt, infolge der vierten Wirtschaftskrise seit Gründung der Bundesrepublik, Helmut Kohl an der Reihe? Notfalls werden seine Auftraggeber ihn fallenlassen. Aber nicht deswegen, weil sie mit seiner Politik nicht mehr einverstanden wären - im Gegenteil: Für sie ist die Hauptsache, daß Kohls Politik weitergeführt wird, notfalls auch ohne Kohl. Die Opfer dieser Politik hingegen hätten davon nur weiteren Schaden. In ihrem Interesse kommt es also hauptsächlich darauf an, daß in Bonn endlich eine grundlegend andere Politik eingeleitet wird: eine Politik, die auf soziale Gerechtigkeit orientiert ist, auf mehr Demokratie, auf Schutz der Menschenrechte und Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen.
Mit einem bloßen Austausch des Personals in Bonn ist es nicht getan. Er ist ohnehin längst im Gange. Immer schneller dreht sich das Personalkarussell. Insgesamt 20 Minister sind seit 1982 aus den von Helmut Kohl geführten Bundeskabinetten vorzeitig ausgeschieden. Anfangs geschah das selten, inzwischen immer häufiger. 1992 traten vier Minister zurück, 1993 fünf, darunter Jürgen Möllemann (F.D.P) nach seiner Briefbogenaffäre und Günther Krause (CDU) nach seinen diversen Autobahnbau-, Raststättenkonzessions-, Umzugs- und Putzfrauenaffären.
Auch in den unionsgeführten Länderregierungen - in Westdeutschland sind es noch zwei, in Ostdeutschland (Berlin eingeschlossen) fünf - bröckelt es. Bayerns Ministerpräsident Max Streibl (CSU) stolperte über die Amigo-Affäre. In Baden-Württemberg mußte Lothar Späth unter dem Verdacht der Bestechlichkeit abtreten, und sein Nachfolger mußte, weil die F.D.P bei der Landtagswahl durchfiel, mit der SPD koalieren. Späth wurde dann zum Trost ähnlich wie sein abgewählter niedersächsischer Amtskollege Ernst Albrecht von der Treuhandanstalt mit dem Aufsichtsratsvorsitz eines früher volkseigenen Unternehmens betraut. In Sachsen konnte sich der Schwiegersohn von Konsul Dr. Fritz Ries, Prof. Dr. Kurt Biedenkopf, als Ministerpräsident fest etablieren. Aber in Thüringen, Mecklenburg- Vorpommern und Sachsen-Anhalt sah sich die CDU schon nach kurzer Zeit zur Auswechslung der von ihr gestellten Regierungschefs gezwungen, in Sachsen-Anhalt inzwischen sogar zweimal. Beim zweiten Male mußte gleich das ganze Kabinett umgebildet werden. Mehrere westdeutsche CDUund F.D.P-Politiker, die in Magdeburg als Minister eingesetzt worden waren, um die »Ossis« fachmännisch in demokratische Rechtsstaatlichkeit einzuüben, hatten zusätzlich zu ihren offiziellen Amtsbezügen »Besitzstandswahrung« beansprucht und zu diesem Zweck unter anderem frühere Eisenbahnfreikarten, Tagegelder, Aufsichtsratstantiemen, Vortragshonorare, steuerfreie Kostenpauschalen oder den Geldwert der Gratisbenutzung eines Dienstwagens anrechnen lassen. So hatte sich zum Beispiel der frühere Fachhochschullehrer und Europaparlamentarier Werner Münch aus dem niedersächsischen Vechta zum Spitzenverdiener hochgerechnet - so dreist, daß er sich, als der Landesrechnungshof nachzurechnen begann, nicht mehr im Amt halten konnte.
Eine Schlüsselrolle in der Zulagen-Affäre spielte der Staatssekretär im Magdeburger Finanzministerium, Eberhard Schmiege, den Münch dort eingesetzt hatte. Bis 1990 hatte Schmiege unter Ministerin Birgit Breuel die Haushaltsabteilung des niedersächsischen Finanzministeriums geleitet. Kaum waren diverse Minister ausgewechselt - abtreten mußte zum Beispiel Sozialminister Werner Schreiber, Bundesvorsitzender der CDU-Sozialausschüsse, der an sich selbst besonders sozial gedacht hatte -, da stellte sich heraus, daß auch Schmiege und die anderen dreizehn Staatssekretäre stattliche »Amtszulagen« kassiert hatten.
Solche Affären ließen sich propagandistisch allzu schlecht mit Bescheidenheits-, Spar-, Opfer- und Solidaritätsappellen der »Wende«-Koalition an die Bevölkerung vereinbaren. Auch arglose, gutgläubige bisherige CDU-Wählerinnen und -Wähler schärften inzwischen ihr Gehör für die zynischen Untertöne in Kohl-Reden. Beispiel: die Rede des Kanzlers am 21. Oktober 1993 im Bundestag, die nur als Verhöhnung der Opfer seiner Politik, der nunmehr (ohne statistische Tricks gerechneten) mehr als fünf Millionen Arbeitslosen, verstanden werden konnte. »Wir können die Zukunft nicht dadurch sichern, daß wir unser Land als einen kollektiven Freizeitpark organisieren «, tönte Dr. Kohl. Zugleich propagierte der Chef der »Wende«-Koalition die Rückkehr zur 40-Stunden-Woche und die Abschaffung von zwei Feiertagen. Beides zusammengenommen würde die Arbeitslosenzahl in Deutschland nochmals um nahezu eine Million hochschnellen lassen.
Der Eiserne Kanzler des Großen Geldes hat zur Genüge gezeigt, wie man einen Staat ruiniert. Er ist reif zur Ablösung, die aber schwerlich gelingen kann, wenn viele Wählerinnen und Wähler verbittert zu Hause bleiben, und besonders gefährlich würde es, wenn sie ihr Heil rechtsaußen suchen würden. Notwendig ist jetzt eine selbstbewußte Antwort des betrogenen Volkes.
Um es zu einem solchen demokratischen Urteil nicht kommen zu lassen, versuchen die Bonner Regierenden und ihre Hintermänner mit Hilfe ihres Propaganda-Apparats, die Wählerinnen und Wähler irrezuführen und einzuschüchtern. Experten dafür sind der CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende im Bundestag, Wolfgang Schäuble, Innenminister Manfred Kanther, Finanzminister Theo Waigel und ihre Verbündeten in der Springer-Presse. Nach der Methode »Haltet den Dieb!« wollen sie Angst und Zorn, die sich in der Bevölkerung angestaut haben, ausgerechnet auf diejenigen Menschen lenken, die schon ganz unten gelandet sind, auf die Opfer, denen es am schlechtesten geht, auf die Sozialhilfeempfänger, die pauschal verdächtigt werden, Sozialleistungen zu mißbrauchen, auf die mit ihrer dürftigen Habe in Häusernischen kampierenden Obdachlosen, denen vorgeworfen wird, sie störten das Stadtbild, auf Ausgegrenzte, die im Alkohol letzte Zuflucht suchen, oder auf Ausländer. Beispiel: die generalstabsmäßig geplante Kampagne des zeitweiligen CDU-Generalsekretärs (jetzt Bundesverteidigungsministers) Volker Rühe gegen das Asylrecht.
Als die sozialen Folgen der hastigen DDR-Vereinnahmung spürbar wurden, luden die CDU/CSU und die publizistischen Wegbereiter ihrer Politik, zu denen an erster Stelle der Springer- Konzern gehört, den Asylbewerbern die Schuld auf. Wohnraum wurde knapp - am wenigsten durch Asylbewerber, weit mehr durch Aussiedler und Übersiedler, die jetzt nicht mehr Übersiedler genannt und überhaupt nicht mehr registriert werden (aber es sind immer noch jährlich Hunderttausende), am meisten aber durch die katastrophale Bonner Wohnungspolitik, die immer mehr Wohnraum von unten nach oben umverteilt. Dieses soziale Problem wurde nun ins Nationalistische gedreht. Springers BILD-Zeitung beteiligte sich daran mit Schlagzeilen wie »Miethai kündigt Deutschen für Asylanten«. Man bedenke, daß BILD gewöhnlich nicht dazu neigt, Hausbesitzer als Miethaie zu bezeichnen. In diesem Zusammenhang aber geschah es als Mittel zum Zweck: die Leserinnen und Leser zu ängstigen, eine Verdrängung durch Flüchtlinge als akute Bedrohung vorzuspiegeln und auf solche Weise Aggressionen anzustacheln.
Im Sommer und Herbst 1991 brachte dieses Blatt (gedruckte Auflage: etwa fünf Millionen Exemplare) eine Serie über »Die Asylanten«. Dort war beispielsweise zu lesen: »Stellen Sie sich diesen Fall vor: Ein Mann klingelt bei Ihnen, möchte hereinkommen. Der Mann sagt, daß er mächtige Feinde habe, die ihm ans Leben wollen. Sie gewähren ihm Unterschlupf. Doch schnell stellen Sie fest: Der Mann wurde gar nicht verfolgt, er wollte nur in Ihrem Haus leben. Und: Er benimmt sich sehr, sehr schlecht. Schlägt Ihre Kinder. Stiehlt Ihr Geld. Putzt sich seine Schuhe an Ihren Gardinen. Sie würden ihn gerne los. Sie werden ihn aber nicht los. Deutsche Asyl-Wirklichkeit 1991.« Parallel zur BILD-Serie, mit gleicher Stoßrichtung setzte Rühe seine Kampagne in Gang. Er schrieb an alle Untergliederungen der CDU: »Ich bitte Sie, in den Kreisverbänden, in den Gemeinde- und Stadträten, den Kreistagen und Länderparlamenten die Asylpolitik zum Thema zu machen und die SPD dort herauszufordern.« Rühe lieferte mit diesem Rundschreiben Argumentationsleitfaden, Vorlagen für Anträge und Anfragen in Kommunal- und sonstigen Parlamenten sowie eine Muster-Presseerklärung. Zum Beispiel sollte landauf, landab gefragt werden, ob Asylbewerber etwa in Hotels untergebracht seien, was das kosten könne und ob Ausländer womöglich zuviel staatliche Unterstützung in Anspruch nähmen und so weiter.
Der SPD-Vorstand prangerte diese Kampagne in einer überzeugenden Broschüre an. Unter der Überschrift »Grundrecht auf Asyl. Das anständige Deutschland zeigt Flagge« hieß es am Schluß der Broschüre: »Einer Änderung des Grundgesetzes stimmt die SPD nicht zu. « Doch nach einigen Monaten gab der Parteivorstand der Sozialdemokraten der Kampagne nach. Die Broschüre wurde nicht weiterverbreitet. Ein Teil der SPD-Fraktion im Bundestag stimmte der Grundgesetzänderung zu und verhalf ihr damit zur Zweidrittelmehrheit. Die Kampagne hatte noch einen zweiten Effekt, den der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Eckart Werthebach, folgendermaßen beschreibt: »Hier wurde ein Acker bestellt, auf dem der Rechtsextremismus seine fremdenfeindliche Ernte noch auf geraume Zeit einfahren wird« (»Die Welt«, 30. November 1993). Das ist offenkundig: Die Propaganda für die Aushebelung von Grund- und Menschenrechten ermunterte Neonazis zur Gewalt. Nach Angaben des Vorsitzenden der Vereinigung »Gegen Vergessen - für Demokratie«, Hans Jochen Vogel, kamen innerhalb von gut zwei Jahren bis Herbst 1993 durch 4761 rechtsextremistische Gewalttaten in Deutschland 26 Menschen ums Leben und 1783 wurden verletzt. 1281mal wurden Anschläge auf Asylbewerber-Wohnungen verübt, 209mal auf jüdische Einrichtungen, 13mal wurden KZGedenkstätten geschändet (»Die Zeit«, 5. November 1993).
Den Kanzler der »geistig-moralischen Erneuerung« kümmerte das wenig. Neonazi-Aufmärsche wie in Rostock und Fulda, auch die Ermordung türkischer Frauen und Kinder in Mölln und Solingen durch neonazistische Brandstifter tat er ab, als wären sie kaum der Erwähnung wert. Von den Orten der Untaten hielt er sich fern, und er vermied es auch, an den Trauerfeiern teilzunehmen, was er durch seinen Regierungssprecher damit begründen ließ, daß er »Beileidstourismus« ablehne. (Bei Trauerfeiern für ermordete Industriemanager hatte er nie gefehlt, auch nicht bei der Trauerfeier für einen in Kambodscha ermordeten Bundeswehr-Feldwebel, und der pathetische Staatsakt, zu dem er den damaligen US-Präsidenten Ronald Reagan vor den Gräbern von SS-Männern auf dem Friedhof von Bitburg nötigte, erregte Aufsehen in aller Welt.)
Systematisch bemühte sich die Bundesregierung, den Rechtsextremismus herunterzuspielen. So verbreitete das Bundesinnenministerium eine Studie unter dem Titel »Hat Rechtsextremismus in Deutschland eine Chance?« Sie kam zu dem Ergebnis, »daß Rechtsextremismus in Deutschland bedeutungslos ist«. Seine Bedeutung, so hieß es dort, »scheint nur in den Vorstellungen seiner Gegner zu liegen«. Das »rechtsextremistische Schreckbild« diene den Antifaschisten als Mittel zur Destabilisierung der Demokratie, erfuhr man aus der Bonner Publikation. Zu einem Zeitpunkt, als die Blutspur des braunen Terrors gegen Flüchtlinge, aber auch gegen Behinderte und andere Minderheiten längst nicht mehr zu übersehen war, suggerierte die Studie (Verfasser: Prof. Dr. H. H. Knütter), der Rechtsextremismus sei kaum mehr als eine bloße Behauptung der Antifaschisten, die eigentliche Gefahr liege im Antifaschismus. Ähnlich leugnete Generalbundesanwalt Alexander von Stahl (F.D.P), bevor er über einen Wust von Widersprüchen bei der Verfolgung mutmaßlicher RAF-Terroristen stolperte, beharrlich jeden organisierten Terror von rechts und unterließ deswegen auch dessen Bekämpfung, obwohl in Neonazi-Gruppen längst steckbriefartige Dossiers über Gewerkschafter, Grüne, Jungsozialisten und andere Antifaschisten kursierten. Den Kanzler selbst, der seinen Aufstieg den einstigen Nazis Dr. Ries, Dr. Schleyer und Dr. Taubert verdankt, interessiert die Bedrohung von rechts überhaupt nicht. Vor Herausforderungen, sich ernsthaft mit der Nazi-Vergangenheit auseinanderzusetzen, schützt er sich mit der »Gnade der späten Geburt«. Den Opfern des von seinen Mentoren mitbetriebenen staatlichen Terrors versagt er ehrendes und mahnendes Gedenken, indem er sie - wie bei der Neugestaltung der »Alten Wache« unter den Linden in Berlin - einfach unter die »Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft« subsumiert. Zu solchem Gedenken können dann auch die Traditionsverbände von SS und Ritterkreuz-Orden aufmarschieren.
Zu den »Republikanern« des ehemaligen Waffen-SS-Mannes Franz Schönhuber, zur Deutschen Volks-Union (DVU) des schwerreichen Münchener Verlegers (»Deutsche National-Zeitung«) und Immobilienspekulanten Dr. Gerhard Frey und zu anderen Rechtsaußen-Gruppen haben CDU und CSU manche untergründigen Beziehungen. Gelegentlich deckt Frey sie nach dem Tode von Verbindungsmännern auf, denen er dann stolze Nachrufe widmet wie dem einstigen bayerischen Kultusminister und Verfassungsrechtslehrer Prof. Dr. Theodor Maunz (CSU) oder dem ehemaligen Geheimdienst-Chef Reinhard Gehlen. In eigens gegründeten Akademien, Foren oder in Zeitschriften wie »Mut« kommunizieren CDU/CSU-Rechte und Ultrarechte miteinander. Wer mit wem gemeinsame Sache macht und gegen wen, ist da längst keine Frage mehr.
Michael Glos, Vorsitzender der CSU-Landesgruppe in Bonn, sagt es so: »Die linksradikale PDS und die Grünen sind eine größere Gefahr für unser Land als die Republikaner und die Rechten.«
Ein Neonazi-Führer wie der Hamburger Christian Worch macht sich solche Ermunterungen sofort zunutze und leistet seinerseits Unterstützung. In einem Aufruf für den sächsischen Justizminister Steffen Heitmann (CDU), den Kohl für das Amt des Bundespräsidenten nominiert hatte, schrieb Worch: »Wer will uns wegen unserer strikten Einstellung zum Ausländerund vor allem Asylantenproblem noch als >Verfassungsfeinde< und >extremistische Minderheit< disqualifizieren, wenn zumindest Ansätze unserer Vorstellungen selbst vom ersten Mann im Staate öffentlich verbreitet werden?«
Wenn CDU/CSU-Politiker den »starken Staat« propagieren, also den Abbau von Bürgerrechten (zum Beispiel durch die Ermächtigung des Staates zur Verwanzung von Privaträumen, die nicht dadurch harmloser wird, daß ihr jetzt auch Sozialdemokraten zustimmen), und wenn der CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende im Bundestag, Wolfgang Schäuble, vor Weihnachten 1993 sogar vorschlägt, bei einer »größeren Sicherheitsbedrohung im Innern« die Bundeswehr einzusetzen (es gehe darum, durch eine entsprechende Grundgesetzänderung »das Haus wetterfest zu machen«, erläuterte Schäuble), wenn schließlich der Kanzler und sein jetziger Bundesverteidigungsminister Volker Rühe immer offener für die Beteiligung deutscher Truppen an Militäraktionen eintreten, die mit dem Verfassungsauftrag der Bundeswehr zur Landesverteidigung nichts zu tun haben, dann ist das alles ganz im Sinne der Ultrarechten.
Frühere Bonner Bekenntnisse zur Friedensstaatlichkeit sind immer leiser geworden. Das Rüstungsgeschäft hat sich unter der Kanzlerschaft von Helmut Kohl kräftig weiterentwickelt und ist auch nach dem Ende der Sowjetunion und des Warschauer Paktes, die bis dahin als einzige Bedrohung der Bundesrepublik und als alleinige regierungsamtliche Begründung für Bundeswehr und Rüstungsausgaben gegolten hatten, nicht zum Erliegen gekommen. Daimler-Benz gehört zwar nicht mehr zum Flick-Konzern, aber auch jetzt, unter der Regie der Deutschen Bank, dringt dieses Unternehmen weiterhin auf Bonner Milliarden für Projekte wie den »Jäger 90«, inzwischen umbenannt in »Eurofighter 2000«. Deutsche Waffen im Werte von mehreren Milliarden Mark werden seit Jahren zum Beispiel an die Türkei und an Indonesien geliefert, wo das Militär sie zur blutigen Unterdrückung und Ausrottung nationaler Minderheiten verwendet.
Laut UN-Waffenregister geht weltweit der Waffenhandel seit einigen Jahren zurück, die deutschen Waffenexporte dagegen nehmen zu. In dieser Branche ist Deutschland an die zweite Stelle nach den USA aufgerückt. Beim Export von Waffensystemen zur Landkriegführung (großkalibrige Artillerie, Panzer und gepanzerte Kampffahrzeuge) führt Deutschland in Stückzahlen etwa ebenso viel aus wie Rußland, Frankreich, Großbritannien und China zusammengenommen. Bei Raketen und Raketenwerfern nimmt es bereits die Spitzenstellung ein.
Mit 18 Milliarden Mark beteiligte sich die - auf sozialem Gebiet so sparsame - Bundesregierung am Golf-Krieg, mit dem der zeitweilige US-Präsident George Bush eine »neue Weltordnung « herbeiführen wollte. Sie äußerte bei dieser Gelegenheit ihr Bedauern darüber, daß das Grundgesetz sie hindere, sich auch mit Bundeswehreinheiten zu beteiligen. Diese Bedenken wurden dann bald aufgegeben. Inzwischen setzte die Bundesregierung wiederholt deutsche Militärverbände außerhalb des NATO-Gebietes ein, wobei sie sich immer weiter vom grundgesetzlichen Auftrag der Bundeswehr entfernte. Die Expedition von 1500 Bundeswehrsoldaten nach Somalia hatte mit Landesverteidigung nicht das geringste zu tun.
Zweck war angeblich die Versorgung indischer UN-Truppen, die jedoch nie in Somalia auftauchten. Einige Wochen vor der Expedition hatte Minister Rühe noch versichert, vor einem solchen Bundeswehreinsatz werde selbstverständlich die Zustimmung des Bundestages eingeholt. Aber dann wartete die Bundesregierung ab, bis der Bundestag in die Weihnachtsferien 1992193 gegangen war. Das Parlament erhielt keine Gelegenheit, über diesen ersten Auslandseinsatz einer geschlossenen Einheit seit Gründung der Bundeswehr auch nur zu diskutieren. Nicht einmal der Auswärtige Ausschuß wurde unterrichtet. Die Kosten des Einsatzes summierten sich innerhalb eines Jahres auf rund 300 Millionen Mark, wofür, wie die Stellvertretende SPD-Vorsitzende Heidemarie Wieczorek-Zeul vorrechnete, in Deutschland jeden Tag eine Kindertagesstätte hätte gebaut werden können.
Bei den europäischen Nachbarn und langjährigen Verbündeten der Bundesrepublik wächst unüberhörbar das Mißtrauen gegenüber dem von Kohl regierten Deutschland, das sich ehrgeizig reckt, um neben den USA zweiter oder gar erster Weltpolizist zu werden. Wenn der griechische Vize-Außenminister Theodoros Pangalos, 1994 Vorsitzender des Ministerrats der Europäischen Union, Deutschland »einen Riesen mit bestialischer Kraft und dem Hirn eines Kindes« nennt, dann ist das nicht als Beleidigung des deutschen Volkes gemeint, wohl aber als Charakterisierung der gegenwärtigen Bonner Politik. Wesentlichen Anlaß zu solchem Mißtrauen gab das Vorpreschen der Bundesregierung bei der Anerkennung Sloweniens und Kroatiens als eigenständige Staaten, womit Jugoslawien zerschlagen und ein furchtbarer Konflikt zwischen den vermischt lebenden Völkern angefacht wurde. Waffenschmieden wie die Gewehrfabrik Heckler & Koch in Oberndorf am Neckar profitieren jetzt - direkt oder indirekt - von dem Krieg aller gegen alle im ehemaligen Jugoslawien.
Griechenland mußte als besondere Provokation die Anerkennung des eigenständigen Staates »Mazedonien« verstehen, denn die Masse der Mazedonier wohnt in Griechenland. Auf ausländische Äußerungen des Mißtrauens pflegt Kohl patzig mit der Bemerkung zu reagieren, daß sich dahinter »Neid« verberge.
Und wenn er an den von Deutschland begonnenen Zweiten Weltkrieg erinnert wird, verbittet er sich jeden Vergleich mit dem heutigen, von ihm regierten Deutschland. Aber niemand anderes als die Bundesregierung ist dafürverantwortlich, daß in der Bundeswehr Nazi-Traditionen wachgehalten werden, daß zum Beispiel die »Dietl-Kaserne« in Füssen nach jenem Generaloberst benannt ist, von dem Hitler sagte: »Dietl hat den Typ des nationalsozialistischen Offiziers geschaffen, eines Offiziers, der nicht weichlich ist im Verlangen und Fordern, nicht schwächlich im Einsatz der Menschen, sondern der genau weiß, daß für diesen Kampf kein Opfer zu groß oder zu teuer ist.«
Weil nach dem Ende der Sowjetunion und des Warschauer Paktes von einer militärischen Bedrohung des deutschen Territoriums keine Rede mehr sein konnte, entstand im Januar 1992 ein Positionspapier des Bundesverteidigungsministeriums unter dem Titel »Militärpolitische und militärstrategische Grundlagen und konzeptionelle Grundrichtung der Neugestaltung der Bundeswehr«. Darin ist zu lesen, »unter Zugrundelegung eines weiten Sicherheitsbegriffs« könnten »die Sicherheitsinteressen für den Zweck dieser militärpolitischen Lagebeurteilung « unter anderem wie folgt definiert werden: »Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des Zuganges zu strategischen Rohstoffen«. Von derartigen Aufgaben der Bundeswehr steht im Grundgesetz kein Wort.
Mit dem Streben nach einer Weltpolizisten-Rolle verbindet sich auch der dringende Wunsch nach einem ständigen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Bei Gründung der UN 1945 hatten deren Mitglieder den fünf Hauptsiegermächten des Zweiten Weltkrieges das Privileg zugesprochen, ständig im Sicherheitsrat vertreten zu sein, dessen zehn andere Mitglieder wechselweise gewählt werden. Damit wurde vor allem die Verantwortung dieser fünf Staaten anerkannt, eine stabile Nachkriegsordnung zu schaffen und ein Wiederaufleben des deutschen Militarismus zu verhindern.
Es mag jetzt Gründe geben, dieses Privileg abzuschaffen. Das könnte der Demokratisierung der Vereinten Nationen dienen. Den gegenteiligen Effekt aber hätte es, wenn, wie Dr. Kohl wünscht, der UN-Sicherheits- rat zu einer Art Weltregierung der wirtschaftlich Mächtigsten gemacht würde.
Längst ist Deutschland Exportweltmeister. Je Beschäftigten ist die Exportleistung dreimal so hoch wie in den USA oder in Japan. Doch das genügt Kohl und seinen Hintermännern noch nicht. Darum bestehen sie darauf, daß die Sozialpolitik dem angeblichen Erfordernis, Deutschlands Position in der Weltwirtschaft zu stärken, untergeordnet werden müsse.
Was hilft es der eingangs erwähnten arbeitslos gewordenen alleinerziehenden Mutter Katrin Krause in Halle an der Saale und ihrem Kind, wenn sich die Regierung des Dr. Helmut Kohl imstande zeigt, trotz gegenteiliger Verfassungsgebote ein Bundeswehr- Bataillon in Ostafrika zu stationieren? Was würde es dem unter Druck großer Konzerne geratenen mittelständischen Unternehmen in Limburg an der Lahn, wo Katrin Krauses Vetter Norbert um seinen Arbeitsplatz zu fürchten beginnt, nützen, wenn es Kohl und seinem Außenminister, dem früheren Geheimdienstchef Klaus Kinkel (F.D.P) gelänge, einen ständigen Sitz im UN-Weltsicherheitsrat zu erlangen? Die unsoziale Auspowerung der eigenen Bevölkerung, angeblich notwendig zur »Standortsicherung«, kann früher oder später genau das Gegenteil bewirken. Die Wirtschaft kann mit den Mitteln, die sie stärken sollen, ruiniert werden. Die Untauglichkeit der von Kohl, Lambsdorff, Rexrodt, Waigel und Blüm angewendeten Mittel ist in den USA durch Reagan und Bush und in Großbritannien durch den Thatcherismus längst erwiesen.
Wenn immer mehr Menschen arbeitslos sind, weil sie für die Warenproduktion nicht mehr gebraucht werden, wenn zugleich Löhne und Gehälter stagnieren oder real sinken, wenn Sozialabgaben wachsen und Leistungen gekürzt werden, dann sinken zwangsläufig Kaufkraft und Absatz. Wenn zugleich die armen Länder der Erde auf Grund ungerechter, von den reichen Ländern diktierter Handelsbeziehungen noch ärmer werden, fallen sie als Absatzmärkte aus. Die Industrie stößt dadurch an Expansionsgrenzen. Der Konkurrenzkampf wird härter. Hauptwaffe in diesem Kampf ist die weitere Absenkung der Kosten, sprich Personalabbau. Läßt sich so auf die Dauer die deutsche Wirtschaft stärken?
Kohl, Waigel, Rexrodt beklagen, in Deutschland werde zu wenig in Forschung, Entwicklung und Berufsbildung investiert. Aber sie selbst streichen den Forschungshaushalt zusammen. Solche Widersprüche mehren sich und werden zu einer akuten Gefahr für die wirtschaftliche Entwicklung. Jahrelang versprach der Kanzler den Deutschen, die Gewinne von heute seien die Investitionen von morgen und die Arbeitsplätze von übermorgen. Seine Politik erlaubte den Unternehmen, wor allem den großen Konzernen, gewaltige Gewinnsteigerungen, aber von den Gewinnen wurde nur wenig investiert, und die Investitionen dienten hauptsächlich zur Wegrationalisierung von Beschäftigten. Arbeitsplätze wurden so nicht geschaffen, sondern vernichtet. Und wenn die Massenkaufkraft weiter sinkt, wenn also noch weniger Waren abgesetzt werden können als bisher, dann werden noch viel mehr Menschen arbeitslos werden.
Das ist es, was wir bei einer Fortsetzung der Politik des Dr. Helmut Kohl zu erwarten haben. Und sein Wirtschaftsminister Rexrodt, qualifiziert durch seine Treuhand-Erfahrungen im Plattmachen, hat nun tatsächlich eine Idee, wie er Arbeitslosigkeit bekämpfen will: durch stärkere steuerliche Entlastung reicher Leute, die Dienstmädchen einstellen.
Was wir zu erwarten haben, ist weitere Privatisierung nach dem Programm von Birgit Breuel - trotz solcher niederschmetternder Erfahrungen wie mit dem »Grünen Punkt«, der alle Prinzipien des Umweltschutzes verhöhnt und die Verbraucher zusätzlich belastet. Allerletzte Koalitionsabsicht Anfang 1994: Privatisierung von Arbeitsämtern.
Die Folgen der bisherigen Umverteilung von unten nach oben sind schon schlimm genug, als daß diese Politik fortgeführt werden dürfte. Nach zwölf Jahren Kohl-Regierung ist es in Deutschland dahin gekommen, daß Hospitäler Patienten mit schweren Krankheiten ablehnen, weil die Behandlung zu teuer wäre. Und dahin, daß in den Städten die Mieten für Neubauwohnungen, das heißt für nach 1948 gebaute Wohnungen, Jahr für Jahr um rund zehn Prozent steigen, während die Netto-Einkommen stagnieren oder sinken. Und dahin, daß immer mehr Menschen, um überhaupt arbeiten zu können, geringfügige Beschäftigungsverhältnisse ohne Sozialversicherungsschutz annehmen (was auch die Einnahmen von Krankenkassen und Rentenversicherungen mindert).
»Für den weiteren Verlauf der neunziger Jahre«, heißt es im Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbands und des DGB, sei »davon auszugehen, daß sich durch die anhaltende Massenarbeitslosigkeit und die fehlenden beziehungsweise auslaufenden Mindestsicherungselemente in der Sozialversicherung das Problem der arbeitsmarktbedingten Armut im Sinne von Sozialhilfebedürftigkeit zu einem sozialpolitischen Problem ersten Ranges entwickeln wird«. Aber dieser Fortgang der Geschichte ist nicht zwangsläufig Ihm muß Einhalt geboten werden. Und das müssen wir selber tun.
Selbst im schicken München lebten Ende 1993 bereits 140 000 Menschen in Armut. 50 000 waren arbeitslos, 60 000 Familien überschuldet, 12 000 hatten keine Bleibe, 1200 lebten auf der Straße. Angesichts solcher Zustände machte ein erfahrener Kommunalpolitiker, der frühere Münchener Oberbürgermeister Georg Kronawitter (SPD), folgenden Vorschlag: Wenn sich der Staat endlich entschließe, Einkommen aus Arbeit und aus Vermögen gleichwertig zu besteuern, könne er von den Superreichen mit einer 15prozentigen Sondersteuerjährlich 60 Milliarden Mark holen, in zehn Jahren also 600 Milliarden Mark. Das sei ihnen durchaus zuzumuten, erklärte Kronawitter, denn seit 1970 habe sich das Privatvermögen der Westdeutschen auf 9492 Milliarden Mark versechsfacht. Die Hälfte davon gehöre den oberen zehn Prozent der Haushalte. Kleine und mittlere Vermögen, beispielsweise derjenigen, die sich ein Häuschen vom Mund abgespart oder geerbt haben, könnten und müßten von der Sondersteuer freigestellt bleiben (»Der Spiegel«, 22. November 1993).
Dieser Vorschlag bedeutet Umverteilung andersherum: von oben nach unten. Darauf kommt es jetzt an. Von Kohl und seiner Koalition können wir eine solche Abkehr von ihrer bisherigen Politik nicht erwarten. Was wir von anderen Parteien zu erwarten haben, sollten wir deren Kandidaten eingehend fragen. Und wir sollten sie ebenfalls an ihrem bisherigen Verhalten messen.
Am Wahltag ist dreierlei nötig, um die Mehrheitsverhältnisse in Deutschland zu ändern, damit Helmut Kohl seine verhängnisvolle Politik nicht fortsetzen kann:
1. Keine Stimme darf dadurch verloren gehen, daß Wahlberechtigte der Wahl fernbleiben. Wer Politik zu »doof« oder zu »schmutzig« findet, soll wissen, daß sie erst wirklich ärgerlich und schmutzig wird, wenn sich die Verantwortlichen nicht selbst darum kümmern. Verantwortlich aber ist jeder und jede Wahlberechtigte! Das gilt besonders für die Jungwähler, um deren eigene Zukunft es geht.
2. Keine Stimme darf einer Partei gegeben werden, die nicht eindeutig klargestellt hat, daß sie gegen Kohl und dessen Politik angetreten ist und keinesfalls mit der CDU/CSU ein Regierungsbündnis eingehen wird.
3. Den Rechtsaußen-Parteien darf es nicht gelingen, in den Bundestag einzuziehen. Wie einst am Ende der Weimarer Republik würden sie sich als Trumpf in der Hinterhand des Großen Geldes erweisen.
Aber die Bundesbürgerinnen und -bürger haben noch mehr Möglichkeiten, als am Wahltag ihre Stimme abzugeben. Als Demokraten können und müssen sie zum Beispiel den Mund aufmachen, wenn in ihrer Gegenwart soziale, menschenverachtende Parolen aufkommen. Das heißt: Zivilcourage beweisen. Außerdem hat jede und jeder von uns die Möglichkeit, im Bekanntenkreis Informationen weiterzugeben - was um so nötiger ist, wenn aufwendige Propaganda zu vernebeln versucht, was der Eiserne Kanzler des Großen Geldes bisher angerichtet hat. Nicht zuletzt gilt es, in Mieter- und Verbraucherverbänden, in Umwelt- und Friedensinitiativen und vor allem in den Gewerkschaften demokratischen Widerstand gegen rücksichtslose Ausbeutung und Entrechtung zu leisten.
Solche Möglichkeiten gibt es nicht nur einmal alle vier Jahre, sondern jeden Tag.
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