Diebstahl -- Großkapital und Helmut Kohl
An nichts wird so glänzend verdient wie am Rüstungsgeschäft.
Viele der größten Vermögen der Bundesrepublik im Megamillionen- und Multimilliardenbereich stammen aus Kriegsgewinnen, aus Waffenlieferungen ins Ausland, vor allem aber aus Aufträgen der Bundeswehr. Die Erben von Harald und Herbert Quandt -geschätztes Vermögen: zusammen 7,3 Milliarden DM -, der Flick-Erbe Dr. Friedrich Karl Flick und seine Neffen -zusammen mindestens 5,6 Milliarden DM schwer -, Familie v. Siemens - 3,7 Milliarden DM -, die Röchling-Erben - etwa 3,3 Milliarden - oder, um aus der Fülle der möglichen Beispiele noch einen weiteren Krösus zu nennen, Karl Diehl, der auf Munition, Zünder, Panzerketten und Kanonen spezialisiert ist und auf 1,9 Milliarden DM Vermögen geschätzt wird - sie und viele andere verdanken ihr vieles Geld großenteils dem gewaltigen Rüstungsbedarf, nicht zuletzt dem der Bundeswehr.
Um so erschrockener müssen die Konzernherren gewesen sein, als Kanzler Kohl, kaum daß er trickreich in sein Amt gehievt worden war, mit der Parole in den Bundestagswahlkampf 1983 zog: »Frieden schaffen mit immer weniger Waffen!«
Indessen beruhigten sich die Rüstungsmagnaten sehr rasch, als sie merkten, daß Kohl ihnen nur eins seiner demagogischen Kunststückchen vorführte. Die damaligen Meinungsumfragen hatten erbracht, daß die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung nichts sehnlicher wünschte als einen sicheren Frieden durch eine massive Abrüstung in Ost und West. Fast 80 Prozent der Befragten sympathisierten mit der Friedensbewegung, bejahten deren Ziele und bekundeten ihr Vertrauen zu Gorbatschow und die Glaubwürdigkeit seiner Vorschläge zur Beilegung des Ost-West-Konflikts und zur stufenweisen Abrüstung. Angesichts dieser breiten Zustimmung der Bundesbürger zu den Bemühungen, den Rüstungswahnsinn zu beenden, hatte sich Helmut Kohl veranlaßt gesehen, ganz ungeniert mit dem Versprechen auf Stimmenfang zu gehen, ebenfalls für Abrüstung zu sorgen.
Doch er tat das Gegenteil:
Die Rüstungsausgaben der Bundesrepublik stiegen unter Helmut Kohls Kanzlerschaft kontinuierlich weiter. 1983 betrugen sie 46751 Millionen DM, 1986 überschritten sie erstmals die 50-Milliarden-Grenze, und 1990 erreichten sie mit mehr als 54 Milliarden DM den höchsten Stand in Friedenszeiten, den es in der deutschen Geschichte je gegeben hat!
Obwohl von einer tatsächlichen Bedrohung nicht mehr die Rede sein und spätestens seit der Jahreswende 1989/90 niemand mehr daran zweifeln kann, daß Abrüstung das Gebot der Stunde ist und keinesfalls weiter aufgerüstet werden darf, sah der Haushaltsentwurf der Kohl-Regierung für 1991 abermals rund 50 Milliarden DM vor. Die scheinbare Verminderung um etwa zwei Prozent beruht zudem auf einem Rechentrick: Die Personalverstärkungsmittel wurden aus dem Wehr- in den Finanzetat übertragen. Trotz Verringerung der Bundeswehr-Truppenstärke um fast ein Drittel sind die Verteidigungsausgaben bis heute nur wenig unter die 50-Milliarden-DM-Grenze gesunken.
Diese gigantische Vergeudung von öffentlichen Mitteln gehört zur Strategie der Regierung Kohl, die das Ziel hat, das Volksvermögen umzuverteilen - zu Lasten fast aller Bürgerinnen und Bürger und zum Nutzen der wenigen Superreichen; denn wenn Großunternehmen Hunderte von Millionen Mark investieren, wie sie es taten, als sie zwei Jahrzehnte lang sehr viel Geld in die Kassen von CDU, CSU und F. D.P. sowie in die Taschen führender Politiker fließen ließen, dann wollen sie für ihr Geld natürlich auch Gegenleistung erbracht sehen, die die hohen Ausgaben nachträglich überreichlich lohnen.
Neben den Sonderwünschen einzelner Großunternehmer - beispielsweise Flicks Wunsch nach Befreiung von allen Steuerzahlungen für sein »Milliardending«, die ihm dann ja auch gewährt wurde - oder einzelner Branchen -wie etwa die ebenfalls gelungene Abwehr vernünftiger Sparmaßnahmen im Arzneimittelbereich durch die Pharma-Industrie - haben alle großen Bosse unseres Landes auch einige gemeinsame Wünsche: Sie wollen mehr Profit, egal ob durch steuerliche Entlastung oder durch Befreiung von lästigen, weil hohe Kosten verursachenden Auflagen, etwa im Umwelt- oder Arbeitsschutzbereich, ob durch Senkung ihrer Lohn- und Lohnnebenkosten oder durch hohe Subventionen.
Es gibt noch vieles, was den Profit kräftig steigert, und am liebsten ist es den großen Bossen, wenn ihnen die Regierung alles auf einmal und in möglichst reichem Maße beschert. Die CDU/CSU/F.D.P-Regierung hat sich seit 1983 die größte Mühe gegeben, den Konzernen nur ja alles recht zu machen. Das ist freilich immer mit einem Problem verbunden: Wenn man so viel zugunsten von wenigen Superreichen tut, geht dies leider zu Lasten der breiten Mehrheit. Da die Regierung aber, wenn sie über den nächsten Wahltag hinaus am Ruder bleiben will (und nach dem Willen ihrer Geldgeber aus der Konzernwelt auch soll), eine Mehrheit der Wählerstimmen benötigt, muß sie das Kunststück fertigbringen, sich all denen überzeugend als Wohltäterin anzupreisen, die sie zugunsten des Großen Geldes benachteiligt und geschädigt hat.
Ihr Spezialist für diese schwierige Aufgabe heißt Dr. Norbert Blüm langjähriger Vorsitzender der CDU-Sozialausschüsse, auch Mitglied einer DGB-Gewerkschaft, seit 1983 Bundesminister für Arbeit (was aber wohl nur eine irreführende Abkürzung ist, denn tatsächlich fungiert Dr. Blüm als Minister für Arbeitgeberinteressen).
»Den Opfern des Sozialabbaus in ihrer Sprache zu antworten, ihnen die staatlichen Maßnahmen mit ihren eigenen Worten als Wohltat zu verkaufen - diesen Trick beherrscht kaum ein anderer Politiker so sicher und vertrauenerweckend wie Norbert Blüm«, heißt es in der hervorragenden Studie von Hans Uske, »Die Sprache der Wende«, über diesen mit Roßtäuschermethoden arbeitenden Demagogen, der den Abbau der Sozialleistungen mit der Notwendigkeit rechtfertigt, den Staat vor Verschuldung zu bewahren, und zwar folgendermaßen:
»Dafür brauche ich gar keine volkswirtschaftlichen Theorien. Das entspricht auch dem Lebensgefühl der Arbeiterfamilie.
Die Arbeiterfamilie hat nie auf Pump gelebt. Sie hat immer gewußt: Man kann nicht mehr essen, als auf dem Tisch steht; und ein Staat kann nicht mehr ausgeben, als er einnimmt. Das entspricht dem Lebensgefühl der Arbeitnehmer.« So Dr. Blüm im Bundestag am 18. Dezember 1983 zur Begründung der damals eingeleiteten Regierungspolitik, die dann nicht nur systematisch Sozialleistungen kürzte und Arbeitnehmerrechte einschränkte, sondern zugleich die Staatsschulden mehr als verdoppelte.
»Der Staat«, merkt Hans Uske treffend an, »ist natürlich keine Arbeiterfamilie, und Staatsschulden sind nicht mit einem Überziehungskredit zu vergleichen. Aber nehmen wir mal an, "der Staat" sei tatsächlich in so tiefer Not wie eine Arbeiterfamilie.
Wieso nimmt Blüm dann den armen Familienmitgliedern Geld weg, um es dem reichen Onkel als Steuergeschenk in den Rachen zu werfen? Wenn er uns schon alle zu einer riesigen Arbeiterfamilie macht, wäre es klar, daß uns die Wohlhabenden aus der Patsche helfen müßten. In richtigen Arbeiterfamilien gehört das zum guten Benehmen..«
In derselben Bundestagsrede vom 8. Dezember 1983 gab sich Dr. Blüm sogar noch ein bißchen proletarischer: »Die Zinsen der staatlichen Schuldenpolitik bekommen nicht die Rentenempfänger, die Sozialhilfeempfänger, sondern diejenigen, die dem Staat das Geld leihen konnten«, erklärte er, mehr für das Fernsehpublikum, das seine Rabulistik in der »Tagesschau« serviert bekam, als für seine wenigen Zuhörer im Bundestag. »Das sind nicht die armen Leute, das sind die Ölscheichs, die Banken und die Besserverdienenden. Schulden abbauen ist soziale Politik!«
»Ist das nicht klassenkämpferisch«, heißt es dazu in dem bissigen Kommentar von Hans Uske, »wie Kollege Blüm hier gegen Ölscheichs, Banken und Besserverdienende vorgeht? In Wirklichkeit benutzt er ein paar proletarische Reizworte, um den Klassenkampf von oben - den er selbst mit vorantreibt - sprachlich in einen angeblichen Kampf gegen Ölscheichs und Banken zu verwandeln. Seine Arbeitersprache setzt Blüm ein, wie es ihm gerade paßt.«
Denn bei anderer Gelegenheit kann er genauso geschickt die - angeblich faulenzenden - Sozialhilfeempfänger, die er eben noch als »arme Leute« für seine Scheinargumentation benutzt hat, in Parasiten und »Ausbeuter« verwandeln und folgendermaßen -in seinem Buch »Die Arbeit geht weiter«, München 1983, Seite 9 - verunglimpfen:
»Aber ist es nicht eine moderne Form der Ausbeutung, sich unter den Palmen Balis in der Hängematte zu sonnen, alternativ vor sich hin zu leben im Wissen, daß eine Sozialhilfe, von Arbeitergroschen finanziert, im Notfall für Lebensunterhalt zur Verfügung steht?«
Dazu noch einmal der Kommentar von Hans Uske: »Wie andere Politiker stützt sich blüm auf schon vorhandene Vorurteile gegen "Drückeberger". Blüms Spezialität ist jedoch der Appell ans Klassenbewußtsein...: "Ausbeutung"? Machen die Unternehmer, muß der Arbeiter gegen kämpfen. "Arbeitergroschen"?
Sind sauerverdient, wollen die Reichen wegnehmen, muß man verteidigen. "Unter den Palmen Balis?" Da liegen die Playboys am Strand, sonnen sich Ausbeuter von sauer verdienten Arbeitergroschen. Während er so die Opfer seines Sozialabbaus denunziert, hofft Blüm auf Applaus von Arbeitern -was besonders makaber ist, da die ja selbst zu seinen Opfern gehören.«
Norbert Blüm geht sogar noch einen Schritt weiter: Im Sommer 1986 ließ sein Ministerium verbreiten, von einem Sozialabbau könne überhaupt nicht die Rede sein - im Gegenteil: Die Sozialausgaben hätten vielmehr seit der »Wende« eine kräftige Steigerung erfahren! Und tatsächlich: Wenn man, wie es ein zu dieser dreisten Behauptung geliefertes Schaubild tat, alle Ausgaben im Gesundheitswesen, vor allem die - von der »Pillenlobby« unter vormaliger Führung des späteren Juwelenräubers Dr. Scholl herbeigeführte - Kostenexplosion bei Arzneimitteln hinzurechnete, ebenso die den Gemeinden aufgebürdeten Sozialhilfe-Lasten, dann hatten sich allerdings schon in diesen ersten Jahren der Regierungstätigkeit von Kohl und Blüm die Sozialausgaben drastisch erhöht - nur waren die Leistungen, auf die der oder die einzelne Anspruch hatten, keineswegs gestiegen, sondern hatten sich real vermindert. Kräftig vermehrt hatten sich hingegen die Profite, beispielsweise die der Pharma-Industrie aber auch die Honorareinnahmen etwa bei den Zahnärzten.
Tatsächlich haben zwölf Jahre Kohlscher »Wende«politik Millionen in die Armut getrieben, dafür die Reichen noch um vieles reicher gemacht.
Begünstigt durch die bis Anfang der neunziger Jahre anhaltende Hochkonjunktur sind die Unternehmergewinne und Vermögensrenditen explosionsartig gestiegen, aber gleichzeitig hat die Kohl-Regierung den Großverdienern immer neue Steuergeschenke gemacht. Das hat diese aber nicht davon abgehalten, in steigendem Maße Steuern zu hinterziehen. Wie der wegen Beihilfe zur Steuerhinterziehung rechtskräftig verurteilte Ex-Bundeswirtschaftsminister und inzwischen Ex-F.D.PVorsitzende
Otto Graf Lambsdorff dazu bemerkt hat, befindet er sich mit diesem Delikt »in allerfeinster Gesellschaft«. In der Tat: Steuerhinterziehungen großen Stils und Kapitalflucht ins Ausland werden nicht von Otto Normalverbraucher, nicht von Lohnsteuerpflichtigen und auch nicht von kleinen und mittleren Beamten, Rentnern, Arbeitslosen oder Sozialhilfeempfängern begangen.
Was die beiden letzten großen Gruppen der Bevölkerung betrifft, so haben Kanzler Kohl und sein Arbeitsminister Blüm zur Verminderung der Arbeitslosigkeit und Armut bislang nur eines getan: unermüdlich eine Verschönerung der Statistik betrieben. Schon mit der 7. Novelle zum Arbeitsförderungsgesetz wurde die Möglichkeit geschaffen, rund 100 000 Arbeitslose zwischen 50 und 59 Jahren endgültig aus der Statistik verschwinden zu lassen, ebenso rund 40 000 arbeitslose Frauen.
Eine statistische Absenkung der Arbeitslosenquote kam später auf folgende Weise zustande: Man setzte die Arbeitslosen nicht mehr ins Verhältnis zu den abhängig Beschäftigten, sondern zu allen Erwerbspersonen. Das führte dazu, daß sich die Arbeitslosenquote von einem Tag auf den anderen um fast einen Prozentpunkt verringerte, ohne daß ein einziger Arbeitsloser Arbeit bekommen hätte.
Doch solche Methoden genügten nicht, um das - so Kohl - leidige Thema »Arbeitslosigkeit« zu »entschärfen«. Deshalb dachte sich die Leiterin des Allensbacher Instituts für Demoskopie, Frau Professor Noelle-Neumann, etwas Neues aus. Kohls Hof-Demoskopin machte dem Kanzer schon 1986 den Vorschlag im Hinblick auf die Bundestagswahlen vom Januar 1987 »den Block der Arbeitslosen aufzuteilen«. Rund 700 000 Arbeitslose sollten »als Alkoholiker, Drogensüchtige, soziale Aussteiger« oder schlicht als »freiwillig arbeitslos« diffamiert und - zumindest auf dem Papier - von der erschreckenden Gesamtzahl in Abzug gebracht, der immer noch gewaltige Rest unterteilt werden in »Alleinernährer, Arbeitslose in Haushalten, in denen es einen zweiten Hauptverdiener gibt, und Arbeitslose, die Nebenverdiener sind«.
Frau Noelle-Neumann hat damals der Bundesregierung geraten, diese Zahlenakrobatik nicht selbst vorzunehmen. Ein solches Rechenkunststück, »das vor der heißen Phase des Wahlkampfes abgeschlossen werden soll«, müßte »aus privater Initiative« in Auftrag gegeben werden, wie es dann auch geschah. Arbeitgeberverbände, Konzerne und »andere private Geldgeber« beauftragten die Allensbacher tatsächlich mit der Durchführung dieses Roßtäuschertricks. »Wir werden die Arbeitslosigkeit einigermaßen wegerklären«, versicherte dazu im Sommer 1986 ein Allensbach-Mitarbeiter. »Leicht wird das nicht gerade sein, aber es wird hoffentlich reichen, der Bundesregierung im Wahlkampf über die Runden zu helfen...«
Diese und andere Täuschungsmanöver, die seitdem in reichem Maße angewendet worden sind, änderten natürlich nicht das geringste am tatsächlichen Ausmaß der Dauermassenarbeitslosigkeit, die sich nicht verringerte, sondern vergrößerte.
Doch vor allem, wenn Wahlen anstanden, war es der Kohl- Regierung jedesmal besonders wichtig, den Wählerinnen und Wählern Sand in die Augen zu streuen, damit ihnen das Ausmaß, vor allem aber die Gründe der Arbeitslosigkeit nicht deutlich werden. Sie sollen nicht merken, warum wohl Arbeitgeberverbände, Konzerne »und andere private Geldgeber« daran interessiert sind, daß Millionen Menschen ohne festen Arbeitsplatz bleiben und dafür auch noch diffamiert und mit Verachtung bestraft werden.
Mit der Massenarbeitslosigkeit wird nämlich die Voraussetzung geschaffen, Löhne und Gehälter im unteren Bereich zu drücken und die Beschäftigten zu »freiwilligem« Verzicht auf wohlerworbene Ansprüche und hart erkämpfte Rechte zu bewegen. Durch die Diffamierung der »Freigestellten« sollen die Solidarität mit den Arbeitslosen untergraben und die Ängste der noch Beschäftigten vor Entlassung und sozialem Abstieg geschürt werden.
»Je mehr Arbeitslose wir haben und je schlechter es ihnen geht, desto besser wird die Arbeitsmoral, desto weniger drücken uns die Lohnkosten!« Diese Grundregel der großen Bosse stellte der Größte von ihnen, Friedrich Flick, bereits 1931, während der Weltwirtschaftskrise, auf einer Aktionärsversammlung in Düsseldorf auf, und an der Gültigkeit dieser Regel und ihrer immer rigoroseren Anwendung hat sich bis heute nichts geändert.
Am schlechtesten dran sind jene jugendlichen Arbeitslosen ohne Ausbildung, denen Kanzler Kohl vollmundig »für jeden und jede eine Lehrstelle« versprochen hat (woran er aber nicht mehr erinnert werden möchte). Um der Statistik willen werden männliche Dauerarbeitslose im wehrpflichtigen Alter zu kurzen Übungen einberufen; die Unterbrechung genügt, sie aus der Rubrik »Dauerarbeitslose« verschwinden zu lassen.
Auch das sogenannte Beschäftigungsförderungsgesetz der Regierung Kohl brachte, gerade fürjunge Leute, drastische Verschlechterungen:
Zur Freude der Bosse fördert das Gesetz das Heuern und Feuern und erlaubt ohne sachliche Begründung befristete Arbeitsverträge bis zu 18monatiger Dauer. Außerdem wurde die zulässige Dauer der ohnehin höchst bedenklichen, ausbeuterischen Leiharbeit verlängert.
Mit dem 1985 ausgerechnet zum 1. Mai in Kraft getretenen Gesetz wurde der Kündigungsschutz durchlöchert. Höchst umstrittene, von den Gewerkschaften bekämpfte Formen der Teilzeitarbeit wurden gesetzlich verankert: sowohl die Arbeitsplatzteilung, das sogenannte »Job-sharing« als auch die »kapazitätsorientierte variable Arbeitszeit« (KAPOVAZ). Die Jugendschutzbestimmungen wurden eingeschränkt; die erlaubte Schichtzeit auf Bau- und Montagestellen wurde für Jugendliche auf elf Stunden verlängert, der Arbeitsbeginn von sieben auf sechs Uhr vorverlegt, in Bäckereien sogar auf vier Uhr!
Das Beschäftigungsförderungsgesetz, das entgegen seinem verheißungsvollen Namen nicht zur Schaffung von Arbeitsplätzen beitrug, sondern im Gegenteil zu verstärkter Ausbeutung von Arbeitskraft führte, wurde ergänzt durch etliche Novellen zum Arbeitsförderungsgesetz (AFG). Dieses aus den sechziger Jahren stammende Gesetz hatte ursprünglich den Zweck, daß die Bundesanstalt für Arbeit nicht bloß diejenigen finanziell unterstützt, die arbeitslos sind, sondern der Arbeitslosigkeit auch aktiv entgegenwirkt. Die von Dr. Kohl geführte Regierung bewerkstelligte mit mehreren Novellen zum AFG sowohl einen Abbau der Leistungen für die Arbeitslosen als auch eine drastische Einschränkung der Möglichkeiten aktiver Arbeitsmarktpolitik, zum Beispiel Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen.
Wenn man, wie es die Regierung Kohl sich zum Ziel gesetzt hat, massiven Sozialabbau und Umverteilung von unten nach ganz oben will, dann ist ein scheinheiliger Sprücheklopfer wie Norbert Blüm unentbehrlich. Neben den von ihm betriebenen drastischen Kürzungen der Sozialleistungen fallt ihm ja auch noch die Aufgabe zu, die reiche Bundesrepublik allmählich in ein Billiglohnland umzuwandeln, wo allein die Bosse das Sagen haben und die Lohn- und Gehaltsempfänger schutzlos sind.
Alle bisherigen Maßnahmen der Regierung Kohl und ihres Arbeits- und Sozialministers Blüm, die angeblich dem »Abbau der Arbeitslosigkeit« dienen sollen, zielen darauf, in hundertjährigem Kampf mühsam errungene Rechte der Arbeiter und Angestellten Schritt für Schritt abzubauen. Blüms Begründung im Bundestag: »Das Arbeitsrecht unter den Bedingungen der Arbeitslosigkeit muß Brücken bauen und darf nicht dazu führen, daß die Privilegierten, die Arbeitsbesitzer, sich in die Festung zurückziehen und die Beute unter sich verteilen!« Statt gezielt die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, wie es seine Aufgabe wäre, will Blüm - denn das meint er in Wahrheit -, daß die »Arbeitsbesitzer« auf ihre »Beute«, nämlich auf ihren in harten Tarifkämpfen errungenen Besitzstand an gesichertem Lohn und erträglichen Arbeitsbedingungen, verzichten lernen und ihre »Privilegien«, nämlich in jahrzehntelangem politischen Kampf durchgesetzte Rechte, zum Beispiel auf Kündigungsschutz, einfach aufgeben!
Ex-Bundesminister Graf Lambsdorff, resozialisierter Geldwäscher, Steuerhinterzieher und Flick-Helfer einerseits, langjähriger F.D. P-Chef und Gralshüter der superfreien Marktwirtschaft andererseits, verkündete das Gleiche wie Norbert Blüm, nur unverblümter. In einem Interview in dem auf Volksverdummung spezialisierten Achtgroschenblatt, das sich am besten für solche Verlautbarungen eignet, ließ der Graf sich herbei, sein Patentrezept zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit zu verraten:
»Dagegen gibt es nur eine Medizin: Disziplin bei künftigen Lohnvereinbarungen. Denn für niedrige Löhne gibt’s genug Arbeit.«
Als »schlimmsten Fehler« bezeichnete Graf Lambsdorff, der vom Hause Flick so reich Bedachte, die Anhebung der Löhne und Gehälter in den »unteren Einkommensstufen«, da sich gerade die einfachste Arbeit »am besten durch Maschinen ersetzen« ließe.
Ganz abgesehen davon, daß Löhne gleichzeitig Kaufkraft, Steuern und Sozialversicherungsbeiträge bedeuten, wird der Zynismus der gräflichen Argumentation, wie Hans Uske in seiner Untersuchung »Die Sprache der Wende« anmerkt, erst richtig deutlich, »wenn wir uns in die Zukunft versetzen und annehmen, Lambsdorffs Rezept wäre bereits verwirklicht.. .
Nehmen wir also an, die Löhne seien gesenkt worden, sagen wir: um 20 Prozent.. . Sofort sinken die Kosten der Unternehmer in den lohnintensiven Bereichen, dort wo viele Arbeitskräfte nötig sind. Die Verlockung, Maschinen anzuschaffen, wird geringer. . . Dank der Wende-Regierung könnten wir endlich wieder mit den Computern konkurrieren. Die meisten Leute wären ärmer, einige sogar sehr viel ärmer, aber viele hätten wieder Arbeit. . . Nun gehört aber zur Wirtschaftsplanung der Bundesregierung die Förderung des technischen Fortschritts: Milliarden fließen in EDV-Forschung und Computer- Entwicklung.. Großkonzerne engagieren sich im Elektronikmarkt. Dieser geballte Einsatz muß sich bezahlt machen.. . Was tun wir jetzt? Die vernünftigste Lösung: Unsere Arbeitskraft muß noch billiger werden, außerdem lernen wir noch besser computern, und dann müssen wir noch billiger werden und dann -leben wir in einem Billiglohnland. Und wenn die nächste konjunkturelle Krise kommt und wenn durch die rasante Entwicklung des technischen Fortschritts die Arbeitslosenzahl weiter ansteigt - dann wird diese Sorte von Vernunft darauf nur eine Antwort wissen: Das Opfer der Bevölkerung war nicht groß genug, der Gürtel muß noch enger geschnallt werden.«
Auf dem Wege zur Verwirklichung solcher Absichten sahen die großen Bosse und die von ihnen mit Millionenspenden geförderte Regierung Kohl ein Hindernis: den DGB und die in diesem Bündnis zusammengeschlossenen Einheitsgewerkschaften. Folgerichtig setzte die Regierung Kohl, kaum daß sie durch den Wählerbetrug der F.D.P. an die Macht gekommen war, die Schwächung der Gewerkschaften auf ihr Programm. Ihr erstes Ziel war, die Streikfahigkeit und damit das Grundrecht auf Streik als legitimes Kampfmittel der wirtschaftlich Schwächeren auszuhöhlen. Durch eine Änderung des Paragraphen 116 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) sollte zunächst einmal die Durchsetzungsfähigkeit der Gewerkschaften in der Tarifpolitik beendet werden.
Worum es dabei ging, erläuterte der DGB am Beispiel des Arbeitskampfes, mit dem die IG Metall das Tabu der 40-Stundden- Wochen brach: »Während dieses Arbeitskampfes haben in der Metallindustrie 55 000 Arbeitnehmer gestreikt. 170 000 Arbeitnehmer wurden in den umkämpften Tarifgebieten ausgesperrt. Über 300 000 Arbeitnehmer wurden bundesweit kalt ausgesperrt.
Das heißt: Von zehn Arbeitnehmern, die in den Arbeitskampf einbezogen waren, waren neun ausgesperrt und einer streikte. Die Arbeitgeber haben durch massenhafte Aussperrung im umkämpften Tarifgebiet bundesweit kalte Aussperrungen verursacht oder willkürlich herbeigeführt - und diese Praxis wollen sie sich in Zukunft von den Sozialämtern bezahlen lassen. Sie wollen mit der Existenzangst der Arbeitnehmer und ihrer Familien Tarifpolitik machen. Wenn Gesetz wird, was die Arbeitgeber wollen und die Regierung vollzieht, wird das Streikrecht zwar auf dem Papier erhalten bleiben, aber in der Praxis bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt sein.« Dennoch wurde die Änderung des Paragraphen 116 AFG gegen den millionenfachen Protest der organisierten Arbeitnehmer von der Regierung Kohl durchgepeitscht.
Weit größer als ihr Respekt vor den demokratischen Grundrechten war die Rucksicht auf ihre Geldspender in den Chefetagen der Großkonzerne - im Falle des Grafen damals noch Flick, inzwischen die mächtige Allianz-Versicherung, die sich im Frühsommer 1990 das DDR-Versicherungswesen unter den Nagel gerissen, dessen Verpflichtungen in Milliardenhöhe aber den Steuerzahlern überlassen hat.
Unter der Federführung von Minister Dr. Blüm wurde mit den Stimmen der schwarz-goldenen Koalition von CDU/CSU und F.D.P der Paragraph 116 im Sinne der Konzernherren abgeändert.
Graf Lambsdorff äußerte vollste Zufriedenheit. Mit den kleinen Korrekturen, die den Gewerkschaften am Ende noch bewilligt worden waren, »ließe sich leben«, meinte er. Im Klartext: Das »Anti-Gewerkschaftsgesetz«, wie es der damalige DGB-Vorsitzende Ernst Breit genannt hat, entsprach durchaus den Forderungen der Konzerne, deren Bestreben darauf gerichtet war und ist, die Gewerkschaften, vor allem tarifpolitisch, handlungsunfähig zu machen.
Tatsächlich hat die Regierung Kohl mit der von ihr durchgeführten Änderung des Streik-Paragraphen 116 AFG einen der dringendsten Wünsche ihrer Geldgeber erfüllt, der - so ein BDI-Festredner im Jahresrückblick - »zum Vermächtnis von Hanns Martin Schleyer« gehörte.
Auch bei den Feierlichkeiten zum 10. Todestag des Kohl-Entdeckers Dr. Fritz Ries im Juli 1987 in Frankenthal, an denen Kanzler Kohl seinem langjährigen Förderer, trotz dessen Schandtaten um und in Auschwitz, uneingeschränktes Lob spendete und die »vorbildliche Unternehmerpersönlichkeit« des verewigten Groß»arisierers« und Kondom-Königs pries, waren die versammelten Freunde aus Industrie und Bankwelt sich darin einig, daß die geglückte Änderung des §116 AFG »ein richtiger Schritt auf dem richtigen Wege« gewesen sei.
Wie mit Kohls Hilfe die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden
Wie sich der Sozialabbau bereits nach vier Jahren »Wende«- Politik ausgewirkt hatte, beschrieb der SPD-Sozialexperte Egon Lutz 1986 im Bundestag: »Der Sozialabbau der Regierung Kohl hat zu einer neuen Armut geführt. Durch Kürzungen von Sozialleistungen und Anhebung von Sozialversicherungsbeiträgen wurden die sozial Schwächeren in großem Umfang belastet.. . Mitte 1985 haben nahezu 40 Prozent (der Arbeitslosen) überhaupt keine Leistungen mehr aus der Arbeitslosenversicherung erhalten. Nur noch ein Drittel aller Arbeitslosen bezog Arbeitslosengeld, und zugleich sank das durchschnittlich gezahlte Arbeitslosengeld um annähernd vier Prozent.. . , obwohl die durchschnittlichen Lebenshaltungskosten im selben Zeitraum um 5,8 Prozent gestiegen sind!«
Auch in der Folgezeit, am Ende der achtziger Jahre, besserten sich - trotz damals noch anhaltender Hochkonjunktur und gutgefüllter Kassen - diese katastrophalen Verhältnisse um keinen Deut. Infolge des Anstiegs der Lebenshaltungskosten verschlechterten sie sich noch. Langzeitarbeitslosigkeit, ansteigende Überschuldung vieler Familien und drastische Verknappung preisgünstigen Wohnraums ließen immer mehr Mittelschichtfamilien in die Armut absinken. Die Regierung Kohl brachte den sozialen Wohnungsbau zum Erliegen und trug mit ihrer Gesetzgebung kräftig dazu bei, daß die Mieter in wachsende Bedrängnis gerieten und die Wohnungsnot sich vergrößerte. Sie erleichterte die Umwandlung preisgünstiger Wohnungen in Büros oder unerschwinglich teure Eigentumswohnungen und ließ den Abstand zwischen Mietkosten und Haushaltseinkommen immer kleiner werden, was auch zur Folge hat, daß sich die Sozialstruktur ganzer Stadtviertel ändert, die Menschen aus ihrer gewohnten Umgebung in ferne »Schlafstätten« und »Wohnsilos« in Randlagen abgedrängt werden und die Obdachlosigkeit dramatisch zunimmt.
Ausgerechnet bei ohnehin benachteiligten Gruppen wie Frauen mit niedrigen Renten oder Schwerbehinderten setzte der im Kabinett Kohl für Arbeit und Soziales zuständige Minister Norbert Blüm den Rotstift an. So wurde den Hausfrauen der Invaliditätsschutz - trotz oft jahrelanger Beitragszahlung in die Rentenversicherung - einfach gestrichen.
Alles, was der Regierung Kohl zum Thema Armut einfallt, sind dumme Sprüche. Dreist behauptete Norbert Blüm im Bundestag: »Altenarmut ist nicht Rentenarmut. Ich bestreite, daß die Ursachen von Armut in der Rentenversicherung liegen. Armut kann auch das Ergebnis von wenigen Beitragsjahren, von geringem Lohn sein« -was gewiß niemand leugnen kann, nur wäre es die Aufgabe einer sozialen Demokratie, zumal in einem so überaus reichen Land wie der Bundesrepublik, jene sich aus der ungerechten Entlohnung der Frauen ergebenden, viel zu niedrigen Renten nicht als Resultat eines Naturgesetzes hinzunehmen, sondern auszugleichen. Gerade die heute im Rentenalter stehenden Frauen, von denen sich die meisten ein Jahrzehnt lang, durch Kriegs- und Nachkriegsnotjahre, allein durchschlagen mußten, oft die ganze Last der Kindererziehung, des Haushalts und der Erwerbsarbeit trugen, von ihren Pfenniglöhnen nur Mindestbeiträge zur Rentenversicherung leisten und niemals Nachzahlungen aufbringen konnten, verdienten im Alter die solidarische Hilfe der westdeutschen Wohlstandsgesellschaft. Niemand könnte die Bundesregierung daran hindern, ihre Milliardengeschenke an die Superreichen in beträchtliche Rentenerhöhungen umzuwandeln, so daß keine und keiner, die oder der sein Leben lang hart gearbeitet, aber wenig verdient hat, nun auch noch im Alter darben muß. ES wäre dann nicht einmal nötig, die Versicherungsbeiträge zu erhöhen. Aber dazu meinte Kohls Sozialminister Dr. Blüm: »Wir wollen die Rente lohn- und leistungsbezogen lassen. Wirwollen nicht die Einheitsrente, die Sockelrente. Wirwollen nicht die große sozialistische Gulaschkanone, von deren Einheitsbrei jeder einen Schlag bekommt!«
Solche Rabulistik eines Mannes, der sich und seine Politik »christlich« und »sozial« nennt, läßt einen schaudern! Denn niemand verlangt eine »Einheitsrente«, wohl aber wäre es dringend erforderlich - und finanziell durchaus möglich -, eine deutlich über der Armutsgrenze liegende Mindestrente einzuführen. Und wenn man auf die Steuergeschenke an die Superreichen durchaus nicht verzichten will, genügte zur Finanzierung auch, die Vergeudungen im Rüstungsbereich oder bei - am Ende fallengelassenen - Prestigeobjekten wie der Wackersdorfer Plutonium-WAA einzuschränken.
Als Folge der Massenarbeitslosigkeit und des Sozialabbaus ist seit der »Wende« die Zahl der Sozialhilfeempfänger ständig gestiegen: in den ersten zwei Jahren um rund 500 000 auf 2,6 Millionen, bis Ende 1987 abermals um 500 000 auf 3,1 Millionen. 1991 gab es in Westdeutschland 3,7 Millionen Sozialhilfeempfänger. Eine halbe Million kam kurzfristig in Ostdeutschland hinzu, nachdem die DDR der Bundesrepublik »beigetreten « war. Und diese Zahlen wachsen weiter.
In dem Ende 1989 veröffentlichten »Armutsbericht« der Paritätischen Wohlfahrtsverbände mit der Überschrift »Wessen wir uns schämen müssen in einem reichen Land« wurde darauf hingewiesen, daß die Unternehmer-Nettoeinkommen zwischen 1982 und 1988 um 74 Prozent gestiegen waren, in absoluten Zahlen um etwa 180 Milliarden DM auf 451,37 Milliarden DM. Demgegenüber betrug der Zuwachs der Netto-Lohn- und Gehaltssumme nur 18,2 Prozent, der Anstieg in absoluten Zahlen nur 93,1 Milliarden DM. Der Anteil des Bruttoeinkommens aus Unternehmertätigkeit und Vermögen am gesamten Volkseinkommen wuchs zwischen 1982 und 1988 von 26,2 auf 32 Prozent. Die Lohnquote entwickelte sich dagegen im gleichen Zeitraum von 73,8 auf 68 Prozent zurück.
Die Reichen wurden also sehr viel reicher, die Armen nur zahlreicher und noch ärmer. Etwa 6,2 Millionen Bundesbürgerinnen und -bürger, das waren zehn Prozent der Bevölkerung der Bundesrepublik, lebten 1988 an oder unterhalb dessen, was der Bericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes die »Armutsschwelle « nannte, unterhalb derer sich Hunger, menschenunwürdige Wohnverhältnisse, drohende Obdachlosigkeit, Mangelkrankheiten, Verelendung und Hoffnungslosigkeit ausbreiten.
Die Entwicklung, die längst vor Eingliederung der DDR in die BRD zu diesen Ergebnissen führte, ging seitdem weiter und beschleunigte sich noch. Die Lohnquote in Westdeutschland sank 1991 auf 65,9 Prozent. Die abhängig Beschäftigten konnten im Gegensatz zu den Unternehmern ihre realen Nettoeinkommen gar nicht mehr verbessern, sondern erlitten Einbußen. Im Gesamtzeitraum von 1982 bis 1992 stiegen die Nettolöhne und -gehälter daher nur um 10,5 Prozent, die realen Einkommen der Unternehmer dagegen um 123 Prozent. Besonders stolz pries die Regierung Kohl in den achtziger Jahren ihr Steuersenkungsgesetz. Es entlastete die Steuerzahler in zwei Stufen zwar um fast 20 Milliarden DM, doch waren diese Entlastungen so sozial ungerecht wie irgend möglich verteilt: Sie kamen in erster Linie den Beziehern hoher und höchster Einkommen zugute!
Verheiratete Durchschnittsverdiener hatten eine steuerliche Ersparnis von etwa zwölf DM monatlich. Hingegen fiel die Entlastung von Spitzenverdienern 50mal höher aus, obwohl sie bei Jahreseinkommen von einer Million DM und mehr nur 20mal mehr Steuerlast zu tragen hatten als ein Durchschnittsverdiener. Die Erhöhung des Kinderfreibetrags brachte den Einkommensmillionären eine etwa 22mal höhere Entlastung als dem Durchschnittsverdiener! Selbst die geringfügigen, oft schon durch die erhöhten Beiträge zur Kranken- und Sozialversicherung ausgeglichenen oder gar ins Gegenteil verkehrten Steuererleichterungen für Durchschnittsverdiener waren eine Täuschung, da zugleich die Mehrwertsteuer angehoben wurde. Diese Steuer muß letztlich von der Masse der Verbraucher aufgebracht werden, auf die alle anderen, vom Produzenten bis zum Groß- und Einzelhandel, sie abwälzen können. Was die Mehrwertsteuererhöhung um einen Prozentpunkt an zusätzlichen Einnahmen erbrachte, annähernd acht Milliarden DM, wurde denen, die von der Einkommensteuersenkung ohnehin am meisten profitierten, als zusätzliches Steuergeschenk zuteil. Das mehrstufige Programm der Regierung Kohl zur Senkung der Unternehmenssteuern kostete nämlich ebenfalls acht Milliarden DM-durch massiven Abbau der Gewerbesteuer, durch Senkung der Vermögenssteuer und durch Vergünstigungen bei den Abschreibungsmöglichkeiten.
Das sind nur einige Beispiele für die steuerliche Umverteilung von unten nach oben. Die direkte Besteuerung der Unternehmensgewinne, vor Kohls Amtsantritt gut 33 Prozent, verringerte sich bis Anfang der neunziger Jahre auf kaum mehr als 20 Prozent. Die Abzüge von den Arbeitseinkommen dagegen stiegen zwischen 1980 und 1991 von 28,7 Prozent der Bruttolöhne und -gehälter auf 32,5 Prozent und wurden inzwischen noch weiter angehoben.
Die Unternehmerverbände und ihre regierungsamtlichen Propagandisten vom Schlage solcher Bundeswirtschaftsminister wie Otto Graf Lambsdorff oder Günther Rexrodt verbreiten unentwegt die Mär, Deutschland sei ein viel zu teurer Industriestandort geworden, die Unternehmer seien mit viel zu hohen Kosten belastet, das müsse sich endlich ändern. Sie spekulieren darauf, daß jede Behauptung, wenn sie sie nur oft genug wiederholen, irgendwann geglaubt wird. Massenverdummungsblätterwie BILD aus dem Springer-Konzern wirken daran eifrig mit. Die Wahrheit bleibt dem ver»bild«eten Publikum verborgen, den Unternehmerverbänden und Ministern hingegen ist sie wohlbekannt. Nachzulesen ist sie in einer Untersuchung der Deutschen Bundesbank - die gewiß nicht im Verdacht steht, dem Kapitalismus feindlich gegenüberzustehen: In einer Auswertung der Bilanzen von 18 000 Unternehmen kommt die Bundesbank zu dem Ergebnis, daß seit Ende der siebziger Jahr der Anteil der Ausgaben für Steuern am Umsatz der Unternehmen nicht gestiegen, sondern gesunken ist, und zwar um etwa ein Sechstel. Der gleichen Untersuchung zufolge ist auch der Anteil der Personalkosten am Umsatz zurückgegangen. Beide zusammen, Personalkosten und Steuerbelastung, machten 1989 kaum mehr als 20 Prozent des Gesamtumsatzes aus und verringerten sich inzwischen weiter. Das heißt: Rund 80 Prozent des Umsatzes dienen anderen Zwecken, nicht zuletzt den Unternehmergewinnen.
Das reale Sozialprodukt je Beschäftigten (Arbeitsproduktivität) erhöhte sich 1980 bis 1992 um 18 Prozent, je Beschäftigtenstunde um 27 Prozent. Aufgrund von Erfindungen und Rationahsierungen können industrielle Güter jetzt mit geringerem Arbeitsaufwand, also erheblich schneller hergestellt werden. Die Gewerkschaften reagierten frühzeitig darauf, indem sie Arbeitszeitverkürzungen forderten. Helmut Kohl widersetzte sich: Diese Forderung sei »dumm und töricht«, wetterte er. Erst in harten Kämpfen gelang es den Gewerkschaften, in kleinen Schritten über lange Zeiträume die Arbeitszeit zu verkürzen und dadurch der sich ausbreitenden Arbeitslosigkeit entgegenzuwirken. So kam die Erhöhung der Arbeitsproduktivität wenigstens zu einem Teil den arbeitenden Menschen selbst zugute, wofür sie allerdings auch mit Lohn- und Gehaltsverzichten zahlen mußten. Hauptnutznießer der Rationalisierungen waren und blieben die Unternehmer.
Der Korrektheit halber müssen wir hier freilich einschränken, daß nicht alle Unternehmer gleichermaßen von der Politik der Regierung Kohl profitieren. Den größten Nutzen haben in der Regel diejenigen, die ohnehin schon die Reichsten und Mächtigsten sind. Vor allem die Großbanken, deren Frankfurter Verwaltungspaläste nicht zufällig die höchsten im Lande sind. In den Jahren 1990 bis 1992 verbuchte die Kreditwirtschaft einen Bilanzgewinn von mehr als 20 Milliarden DM, wovon allein 5,6 Milliarden auf die Großbanken entfielen. 1993 konnten die Finanzkonzerne neue Gewinnrekorde vermelden, während andere, kleinere Unternehmen über die Rezession stöhnten und übers Jahr mehr als 15 000 Firmen zahlungsunfähig wurden.
Dem Volk wurden »Solidaritätsopfer« abverlangt, das Große Geld wuchs und wucherte wie nie zuvor. 1989 hatten die Großbanken fast fünf Milliarden Mark Zinsüberschuß kassiert. Das war schon ein stattliches Ergebnis. 1993 aber, in der Krise, gelang es ihnen, einen Zinsüberschuß von 23 Milliarden DM einzuheimsen. In der tiefsten Rezession seit Bestehen der Bundesrepublik profitierten sie vom steigenden Kreditbedarf des Staates, der Kommunen, der Gewerbetreibenden und der Privathaushalte. Während zum Beispiel vom Herbst 1992 bis Herbst 1993 die Bundesbank den Diskont- und den Lombardsatz - die Leitzinsen - um 2,5 Prozentpunkte reduzierte, senkten die Banken die Kontokurrentzinsen nur um 1,5 und die Ratenkredite für Kleinkunden um 1,3 Prozentpunkte, dagegen die Guthabenzinsen um 2,5 Prozent. Das veranlaßte selbst die »Wirtschaftswoche« vom 13. Dezember 1993 zum Murren: »Die Banken stoßen sich an Zinssenkungen gesund, die Wirtschaft kommt nicht auf die Beine«- eine Kritik, die indessen in zweifacher Hinsicht präzisiert werden muß; denn erstens brauchten sich die Banken nicht gesundzustoßen, weil sie ohnehin vor Gesundheit strotzten, und zweitens hat die Krise zwar viele einzelne Betriebe erwischt, aber »die Wirtschaft« im allgemeinen steht auf festen Beinen, wie ein Blick auf die Börsenkurse zeigt: Der Deutsche Aktienindex (DAX) kletterte 1993 zum Jahresende auf 2.267 Punkte. Ein Jahr zuvor hatte dieser aus 30 Standardwerten errechnete Börsenkurs bei 1.545 Punkten gestanden. Das war übers Jahr eine Steigerung um 46,7 Prozent. Die Aktionäre wurden zwischen Neujahr und Weihnachten fast um die Hälfte reicher - allein durch ihre an deutschen Börsen getätigten Geschäfte. Großaktionäre erlebten also eine prächtige Weihnachtsbescherung am Ende eines Jahres, in dem im vereinigten Deutschland die Arbeitslosigkeit in eine Größenordnung ähnlich wie in der Schlußphase der Weimarer Republik hineinwuchs und Armut zum Massenschicksal wurde.
"Der Kanzler der nationalen Einheit"
Der Kanzler der sozialen Spaltung
Der Zusammenbruch des SED-Regimes in der DDR im November 1989 hat Helmut Kohls ohnehin sehr hohe Selbsteinschätzung ins Gigantische wachsen lassen. Längst ist er überzeugt davon, daß nicht Michail Gorbatschow, nicht die Beispiele Polens, Ungarns und der Tschechoslowakei die friedliche Revolution im anderen Teil Deutschlands in Gang gesetzt und den mutigen Männern und Frauen der demokratischen Opposition zum Sieg verholfen haben, sondern daß er allein - vermutlich durch sein Anstimmen des Deutschlandliedes vom Balkon des Dresdner Rathauses unter Mißachtung der Haydnschen Melodie -Honecker verjagt und die Mauer zum Einsturz gebracht hätte, wofür ihm das deutsche Volk diesseits und jenseits von Elbe und Saale auf den Knien danken sollte. Er beruft sich auf den preußischen Strategen Moltke, der meinte: »Glück hat auf die Dauer doch zumeist wohl nur der Tüchtige« (womit dieser freilich eingeräumt hat, daß auch dem Mittelmäßigen Erfolg winken könne). Dagegen empfahl ihm die »Süddeutsche Zeitung« schon im Sommer 1990, »eher davon zu sprechen, daß er einfach Schwein gehabt hat«.
Aber Einsicht und Bescheidenheit sind Helmut Kohl wesensfremd, weshalb er auch die glänzende Konjunktur zu Anfang der neunziger Jahre für das Werk seiner weisen Regierung hielt, desgleichen die deutsche Fußball-Weltmeisterschaft im Sommer 1990. Im Bundestagswahlkampf im Herbst 1990 bot er diese nationale Erfolgsserie - Einheit, Aufschwung, WM - gleichsam im Dreierpack mit dem Aufdruck »Alles von Kohl!« an. Die Mogelpackung sollte im nationalen Rausch durchgehen, weil »die Männchen draußen im Land« (womit er aber alle, Männer und Frauen, meint, die außerhalb des Kanzler-Bungalows leben) so vergeßlich oder so wenig informiert sind.
In Wahrheit war von den Ereignissen in der DDR im Herbst 1989 niemand so sehr überrascht worden wie die Kohl-Regierung, die dann allerdings die sich ihr so unverhofft bietende Chance eiligst ergriff. Innerhalb weniger Wochen waren die mutigen Frauen und Männer, die das Honecker-Regime gestürzt hatten, rücksichtslos vom Platz gedrängt und durch eine von Bonn aus an immer kürzerer Leine gehaltene Übergangsregierung ersetzt worden. Mit Versprechungen Kohls, der DDR ein unverzügliches Wirtschaftswunder zu bescheren und ihr durch reichen DM-Segen den Einzug ins Paradies der freien Marktwirtschaft zur reinen Lustpartie werden zu lassen, wurden die Volkskammerwahlen vom 18. März 1990 zu einem Triumph jener Blockparteien, die vierzig Jahre lang von der SED ausgehalten worden waren und nun ihr Heil bei Kohl & Co sahen.
Damit war der Weg frei für den Einzug des Großen Geldes in die DDR und deren eilige Vereinnahmung. Aber der versprochene reiche und sofortige Segen blieb natürlich aus. Vielmehr mußte die Regierung Helmut Kohls, so sehr sie dies auch zu vertuschen suchte, zunächst einmal für einen drastischen Sozialabbau sorgen, denn natürlich waren und sind die Herren des Großen Geldes vorrangig daran interessiert, Profit zu machen, und dabei ist all das, was sie »Sozialklimbim« zu nennen belieben, nur hinderlich.
So mußte die Regierung Kohl jetzt eine wahre Sisyphusarbeit leisten - zum einen rasch alles beseitigen, was ihren Auftraggebern lästig ist, vom Kündigungsschutz über das Aussperrungsverbot und das bezahlte Babyjahrbis zum letzten betrieblichen Kinderhort; zum anderen ein immer schnelleres Tempo einschlagen, um Fakten zu schaffen, bevor sich diejenigen, die dabei auf der Strecke bleiben mußten, über die unvermeidlichen katastrophalen Folgen der hastigen Vereinnahmung klarwerden konnten.
So hieß es denn für Helmut Kohl und seine Ministerriege: immer neue Ausreden erfinden und Beschwichtigungen verbreiten, beispielsweise behaupten, daß niemand im Lande zu befürchten brauche, die Zeche bezahlen zu müssen. Dabei war von vornherein klar, daß es gewaltige Summen kosten würde, Ostdeutschland den westlichen Standards anzugleichen, also zum Beispiel das Straßen- und das Telefonnetz auszubauen, Wohngebäude und Industrieanlagen zu modernisieren und so weiter. Außerdem konnte sich jeder Einsichtige an fünf Fingern abzählen, daß sich diese Kosten vervielfachen mußten, wenn funktionierende Strukturen einfach rücksichtslos zerschlagen wurden. An frühzeitigen Warnungen kompetenter Wirtschaftswissenschaftler und auch des damaligen Präsidenten der Deutschen Bundesbank fehlte es nicht. Doch Kohl behauptete dreist, alles lasse sich ohne Steuererhöhungen finanzieren. Und damit ihm Kritik nicht hinderlich werden konnte, beschleunigte er sein Tempo.
Nach dem Willen Kohls und seiner Geldgeber verwandelten sich die Länder der DDR in eine Art »Kronkolonie Ostelbien« - so Jens Reich als Sprecher der demokratischen Bürgerbewegungen in der damals neu gewählten Volkskammer, wo sie rasch in die Opposition gedrängt wurden.
Die Rolle der Gouverneurin durfte - nach der Ermordung des ersten Präsidenten der Treuhandanstalt, Detlev Rohwedder - die CDU-Politikerin Birgit Breuel übernehmen. Kohls Vertraute gerantierte für die Anwendung frühkapitalistischer Methoden der Ausbeutung, des Ramsch-Einkaufs von Grund und Boden und des sozialen und kulturellen Kahlschlags. Als wessen Treuhänderin betätigte sich Birgit Breuel? Galt ihre Treue etwa den Genossenschaftsbauern? Den Beschäftigten der Industriebetriebe? Dem Volk, dem die Betriebe nominell gehörten? Oder dem Bundesfinanzminister, dem CSUVorsitzenden Theo Waigel, dem die Treuhandanstalt unterstellt ist?
Genossenschaftsbauern wurden ähnlich verdrängt wie Industrie- Beschäftigte. Das Volkseigentum wurde privatisiert, und der Bundeshaushalt zog aus den Verkäufen keinen Gewinn, sondern die Treuhandanstalt erwies sich als Weltmeisterin im Schuldenmachen: In dreieinhalb Jahren vermehrte sie die Bundesschulden um die mit keinem Hochgebirge der Welt mehr zu veranschaulichende Summe von 275 Milliarden Mark - nach- dem es der Regierung des Dr. Kohl in Bonn schon gelungen war, die 1982 bei der »Wende« übernommenen Bundesschulden auf mehr als das Doppelte anwachsen zu lassen.
Als Folge des Vernichtungswerks der »Treuhandanstalt« liegt Ostdeutschlands Wirtschaft vier Jahre nach dem Fall der Mauer am Boden, etwa auf dem Niveau eines Entwicklungslandes wie Sri Lanka. Nur noch etwa drei Prozent steuerten 1992 die neuen Länder zur deutschen Industrieproduktion bei. Ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse der Menschen wurde alles zerschlagen, was dem Großen Geld beim Einzug in Ostdeutschland als hinderlich oder unbrauchbar erschien, und die Anstalt belohnte diejenigen, denen sie das DDR-Volkseigentum übereignete, noch mit üppigen Zusatzgeschenken. Die Konditionen der Übereignungsverträge, zum Beispiel Freistellung der Erwerber von Verpflichtungen und Risiken, wurden von der Breuel-Anstalt in manchen Fällen so günstig gestaltet, daß der Bündnis 90-Abgeordnete Ulrich-Karl Engel im Landtag von Sachsen-Anhalt dafür nur diese Erklärung fand: »Organisierte Kriminalität beginnt im Nadelstreifen.« Nach alarmierenden Feststellungen des Bundesrechnungshofes und nach Einleitung etlicher staatsanwaltschaftlicher Ermittlungsverfahren sah schließlich Ende 1993 der Bundestag Anlaß, einen Treuhand- Untersuchungsausschuß einzusetzen.
Angesichts der von dieser Behörde hinterlassenen Schulden, die noch künftige Generationen belasten werden, wandte sich der Chemnitzer SPD-Bundestagsabgeordnete Gerald Thalheim gegen »politische Legendenbildung« in Bonn: »Dort wird ausschließlich die sozialistische DDR-Mißwirtschaft für dieheutige Lage verantwortlich gemacht.«
Gerade im »Superwahljahr« 1994 wird die Regierungspropaganda krampfhaft an dieser Legende festhalten. Die Wahrheit aber ist, daß ein großer Teil der Treuhand-Schulden erst nach DDR-Zeiten durch eine »Aufbau-Politik« entstand, mit der viel zerstört, aber wenig aufgebaut wurde. Wem, so fragten wir, galt die Treue der Treuhand-Präsidentin? Wo ist sie verwurzelt?
Birgit Breuel, Kohls Statthalterin für den Osten, ist Tochter und Erbin des Hamburger Bankiers Alwin Münchmeyer, der jahrzehntelang Boß des Bankhauses Schröder, Münchmeyer, Hengst & Co. war. All seine Amter in Vorständen, Aufsichtsräten und Beiräten aufzuzählen, fehlt hier der Platz. Erwähnung gebührt aber zumindest der Tatsache, daß die deutschen Bankiers, als es galt, den Präsidenten des Bundesverbandes der deutschen Banken zu wählen, dieses Amt Alwin Münchmeyer antrugen, der es jahrelang ausübte. An der Hamburger Elbchaussee ist es kein Geheimnis: Der ganze Ehrgeiz von Tochter Birgit war es seit eh und je, diesem Vater zu beweisen, daß sie seiner würdig sei: eine nicht nur 100-, sondern 150prozentige Sachwalterin des Großen Geldes.
Privatisierung - oder »Entstaatlichung«, wie sie es gern nennt - war und blieb immer das Hauptbestreben der CDUPolitikerin, zuerst in der Hamburger Bürgerschaft, dann in der von Ernst Albrecht geleiteten niedersächsischen CDU/F.D.P.- Regierung, der sie zwischen 1978 und 1990 anfangs als Wirtschafts-, später als Finanzministerin angehörte. In vielen Reden und Schriften stritt sie wacker gegen Subventionen, vor allem bei der CDU-Mittelstandsvereinigung, zu deren niedersächsischen Landesvorsitzenden sie sich wählen ließ. Mittelständischen Unternehmern redete sie ein, es vertrage sich nicht mit den Prinzipien der Marktwirtschaft, wenn sich der Staat um die Wirtschaft kümmere, und deswegen dürften sie auch unter keinen Umständen Subventionen beanspruchen. Großunternehmen dagegen wurden unter Breuels Minister- Verantwortung in Niedersachsen reichlich mit Subventionen bedacht, beispielsweise das zum Röchling-Konzern gehörende Rüstungsunternehmen Rheinmetall, dem sie ein großenteils mit öffentlichen Mitteln finanziertes Zentrum zur Entwicklung neuer Kriegswaffentechniken bauen ließ.
Bereits 1979 formulierte Birgit Breuel ein umfassendes Privatisierungsprogramm, das, wie sie verhieß, zu einem »Mehr an individueller Freiheit« führen werde. Das Programm nannte Schlachthöfe und kommunale Wohnraumvermittlungsstellen, Sportstadien und Verkehrseinrichtungen, Krankentransport und Müllabfuhr, Küchen in Kliniken und Reinigungsdienste für Schulen oder für Behörden -wobei es sich günstig traf, daß sich der niedersächsische Landesvorsitzende des CDU-Wirtschaftsrats, Hartwig Piepenbrock, mit seinem großen Gebäudereinigungsunternehmen, das dann schnell noch viel größer wurde, für solche Aufgaben bereithielt - meist mit stundenweise beschäftigten Frauen unter schlechteren Arbeitsbedingungen mit niedrigeren Löhnen und unzureichenden Sozialleistungen. Es gehe aber nicht allein um Kostengünstigkeit erläuterte die niedersächsische Ministerin in ihrem Programm.
Die Übertragung öffentlicher Aufgaben auf private Träger könne auch dann in Betracht kommen, »wenn private Leistungserstellung teurer ist als die verwaltungseigene«. Hier müsse »das Gebot der Sparsamkeit gegen das ordnungspolitisch erstrebte Ziel abgewogen werden« - und dieses Ziel hieß eben: Privatisierung. Ausdrücklich erläuterte die niedersächsische Ministerin, daß manche Leistungen »in der Regel nicht kostendeckend erstellt werden können (zum Beispiel Theater, Museen, Schwimmbäder)«. Diese Einsicht hinderte sie nicht, sich auch für die Privatisierung von Theatern, Museen, Schwimmbädern wie auch von Schulen, Universitäten und Postämtern einzusetzen. »Notfalls«, meinte sie in ihrem Programm, müsse die öffentliche Hand »Zuschüsse gewähren«.
Nach Birgit Breuels Verständnis sollen sich also die Aufgaben des Staates nicht aus allgemeinen Bedürfnissen herleiten, sondern aus den Gewinninteressen einzelner, denen sie letztlich alles, was der Allgemeinheit gehört, zuschieben will. »Selbst bei der Steuerverwaltung«, schrieb sie, könne sie sich »in wesentlichen Teilen eine privatwirtschaftliche Struktur vorstellen«.
In Niedersachsen konnte die Bankierstochter jedoch mit ihren Kampagnen gegen »überzogene Sozialstaatlichkeit« und ihren Tiraden gegen die Gewerkschaften (»Vater Staat ist gefordert, sein wachsames Auge und, wenn nötig, seine strafende Hand gegen die Organisationen der Arbeitnehmer zu richten«) noch wenig ausrichten. Die zur Privatisierung ausersehenen Abteilungen von Krankenhäusern und Stadtverwaltungen wehrten sich kräftig. Wasch- und Putzfrauen sowie Friedhofsgärtner ließen durch ihren Widerstand manchen Breuel-Plan scheitern. Und als die CDU-Politikerin im von ihr geleiteten Wirtschaftsministerium eine Botenstelle teilen wollte, untersagte ihr das eine Einigungsstelle unter Vorsitz des hannoverschen Landgerichtspräsidenten: Birgit Breuels Job-sharing- Modell hätte die Stelleninhaber mit einem halbierten Boten- Gehalt an die Sozialhilfegrenze rutschen lassen.
Unmittelbar, nachdem 1990 die niedersächsischen Wählerinnen und Wähler die Regierung Albrecht abgewählt hatten, fand Birgit Breuel mit dem Segen des Kanzlers und derer, denen er es immer recht machen will, ihre neue Verwendung als Vorstandsmitglied und bald als Präsidentin der Treuhandanstalt.
Nun konnte sie sich endlich als »Entstaatlicherin« austoben, wie sie es sich in ihrem Programm von 1979 gewünscht hatte. Eifriger Mittäter im Vorstand war von 1991 bis 1993 Günther Rexrodt (F.D.P), jetzt Kohls Wirtschaftsminister. Wer warum welche ehemaligen DDR-Betriebe übernehmen durfte, ist ein Rätsel, das wohl auch der vom Bundestag auf Drängen der Opposition eingesetzte Untersuchungsausschuß höchstens partiell wird lösen können. Nehmen wir als Beispiel die Eisen- und Hüttenwerke in Thale, wo in DDR-Zeiten fast 7 000 Menschen arbeiteten. Dieser Betrieb, der einst zwei jüdischen Familien bis zu deren Verdrängung durch die Nazis gehört hatte, repräsentiert allein schon durch seine Lage auf einem großen Areal inmitten der Stadt Thale einen beträchtlichen Wert-ganz abgesehen von den teilweise noch in den achtziger Jahren mit westlichen Maschinen modernisierten Produktionsstätten.
Für Sanierungsmaßnahmen und als Liquiditätshilfen zahlte die Treuhandanstalt Zigmillionen. Das Land Sachsen-Anhalt gab Bürgschaften. Das Eigentum wurde, ohne daß sich die Anstalt lange mit Ansprüchen der jüdischen Vorbesitzer aufhielt, einem westdeutschen »Investor« überschrieben. Die Wahl der Treuhandanstalt fiel auf den durch Wählerentscheid beschäftigungslos gewordenen, indessen nicht am Hungertuch nagenden, sondern bestens versorgten ehemaligen niedersächsischen Ministerpräsidenten Ernst Albrecht, mit dem Birgit Breuel zwölf Jahre lang in Hannover zusammen regiert hatte.
Der Preis, den Dr. Albrecht zahlen mußte, belief sich auf 1 (in Worten: eine) DM. Da er als Kompagnon einen Bremer Rechtsanwalt mit fünf Prozent beteiligte, brauchte der hannoversche CDU-Politiker, der jahrelang als stellvertretender Parteivorsitzender neben Dr. Kohl dem CDU-Präsidium angehört hatte, genau gesagt nur 95 Pfennig aufzubringen.
Angeblich durch ein »Versehen« überschrieb ihm die Treuhandanstalt auch ein großes Südhang-Gelände im Harz mit Beherbergungs- und Freizeit-Einrichtungen, die früher den Beschäftigten der Eisen- und Hüttenwerke und ihren Familienangehörigen zur Verfügung gestanden hatten. Das »Versehen« wurde nicht etwa korrigiert, sondern Firmenchef Albrecht durfte diese Immobilie alsbald weiterverkaufen, für mehr als vier Millionen Mark.
In einem programmatischen Buch mit dem Titel »Der Staat« hatte Ernst Albrecht einst beklagt, den Deutschen fehle so etwas, wie es die Briten in den Kolonien gehabt hätten und die US-Amerikaner im Wilden Westen. Nun kann Albrecht an der privatwirtschaftlichen Erschließung des deutschen Ostens mitwirken - dank Treuhandanstalt, die ihn zunächst zum Aufsichtsratsvorsitzenden der Eisen- und Hüttenwerke Thale berief und ihn dann zum Eigentümer machte - eine Entscheidung, die auch dann fragwürdig wirkt, wenn Albrecht glaubhaft versichert, keinen persönlichen Nutzen aus dem Eigentum zu ziehen, sondern sich mit den Aufsichtsratstantiemen zu begnügen. Die Belegschaft in Thale schrumpfte inzwischen auf einige hundert Beschäftigte.
Im allgemeinen sorgte die Treuhandanstalt dafür, daß diejenigen, die schon in Westdeutschland monopolartige Wirtschaftsmacht besitzen, diese auf Ostdeutschland ausdehnen konnten. So wurde die Presse Beute westdeutscher Großverlage wie Springer, Bauer, Burda und Bertelsmann. Bauer, Branchenerster auf dem Markt bunter Wochenblätter, zweieinhalbfacher Vermögensmilliardär, Hauptbeteiligter an Schmutz- Wahlkampagnen der CDU/CSU, hatte seit langem den Wunsch gehabt, auch ins Tageszeitungsgeschäft einzusteigen, was ihm jedoch in Westdeutschland mißlang, weil hier der Markt aufgeteilt, besetzt, also gar kein freier Markt mehr ist. Die Treuhandanstalt erfüllte ihm seinen Wunsch: Er erhielt die ehemalige SED-Bezirkszeitung »Volksstimme« in Magdeburg, eine der auflagenstärksten deutschen Regionalzeitungen.
Westdeutsche Fürsten, die nach dem Zweiten Weltkrieg durch die Bodenreform ihre ostelbischen Latifundien verloren hatten, ergreifen nun nach und nach wieder Besitz - einige, wie der schwerreiche und erzkonservative Philipp Ernst Fürst von Schaumburg-Lippe, zunächst als Pächter der Treuhandanstalt. Als Ende 1993 die Breuel-Behörde erstmals ein ostdeutsches Wald- und Forstgebiet privatisierte, schlug sie den 828 Hektar großen Forst Schleiz-Langenbuch in Thüringen dem hessischen »Investor« Franz Alexander Fürst von Isenburg zu.
Im Sinne der »Alteigentümer«, die freilich im Westen längst auf Steuerzahlers Kosten Lastenausgleich erhalten hatten, verfuhren die Regierung Kohl und die Treuhandanstalt nach dem Prinzip »Rückgabe vor Entschädigung«- was für diejenigen, die inzwischen in der DDR gelebt und gearbeitet hatten, Wegnahme ohne Entschädigung bedeutet. Zu den »Alteigentümern«, die sich bei der Treuhandanstalt und örtlichen Vermögensämtern drängelten, gehörten sofort etliche »Arisierungs«-gewinnler vom Typ unseres alten Bekannten Dr. Fritz Ries, die gerade wegen der Umstände, unter denen sie einst in der Nazi-Zeit jüdischen Besitz erlangt hatten, nach dem Zweiten Weltkrieg in Ostdeutschland enteignet worden waren. Die Klärung von Eigentumsansprüchen erwies sich oft als sehr mühsam. An ungeklärten Vermögensfragen gingen inzwischen viele tausende Industrie-, Handwerks- und Agrarbetriebe zugrunde. Beamte des Bundesfinanzministeriums entwickelten ein Konzept, wonach Alteigentümer, denen ein unerwarteter Glücksfall der Geschichte längst verlorengeglaubte ostelbische Besitztümer beschert, verpflichtet werden sollten, eine Vermögensabgabe zu zahlen und damit das für die Entschädigung anderer Alteigentümerbenötigte Geld aufzubringen.
Aber die Bonner Regierung entschied anders, nämlich so, wie sie es im Dienste des Großen Geldes als ihre Aufgabe ansieht: Die Vermögenden brauchen keine Abgabe zu entrichten. Für Entschädigungen müssen die Steuerzahler aufkommen -jedoch erst vom Jahre 2004 an. Die Regierung Kohl plant die weitere Umverteilung von unten nach oben schon bis ins nächste Jahrhundert voraus.
In vielen Fällen waren westdeutsche Konzerne nur deswegen an der Übernahme ostdeutscher Betriebe interessiert, weil sie Konkurrenz ausschalten wollten. Bekanntestes Beispiel ist die Kaligrube Bischofferode. Das von den über 700 Bischofferöder Bergleuten geförderte, besonders hochwertige Kalisalz war international nachgefragt; bis zur Schließung der Grube Ende 1993 mußten Überstunden geleistet werden. Ein Kaufinteressent stand bereit, der sich gute Gewinne ausrechnen konnte.
Doch der Ludwigshafener Chemie-Riese BASF, bei dem einst der Nachwuchspolitiker Helmut Kohl als Praktikant erste Erfahrungen hatte sammeln dürfen, setzte sich mit seinem Interesse an einem gesamtdeutschen Kali-Monopol durch. Wirtschaftlich gestaltete sich die Eingliederung Ostdeutschlands in die Bundesrepublik, wofür sich Dr. Kohl so gern als Einheitskanzler feiern läßt, im wesentlichen als Eroberung des Marktes und Ausschaltung potentieller Konkurrenz in den neuen Bundesländern. Statt Sanierung rückständiger Teile der DDR-Wirtschaft Vernichtung von drei Vierteln des dortigen Industriepotentials, preisgünstige Aneignung interessanter Produktionskapazitäten und Immobilien, Privatisierung von Profiten, Verstaatlichung von Verlusten - alles zuverlässig praktiziert durch die Treuhandanstalt.
Die verheißenen Investitionen im Osten blieben in aller Regel aus.
Das lag nicht etwa daran, daß es in Westdeutschland an Kapital gefehlt hätte, das in den »Neuen Ländern« hätte investiert werden können.
Wie wir schon gesehen haben, hatte sich das Große Geld in den achtziger Jahren gewaltig vermehrt und Anfang der neunziger Jahre machte es noch größere Gewinnsprünge. Weil Jahr für Jahr viel mehr eingenommen als investiert wurde, staute sich Liquidität in einem früher unbekannten Ausmaß. »Das Liquiditätspolster der westdeutschen Produktionsunternehmen«, schrieb im Mai 1991 die Deutsche Bundesbank, sei »so reichlich bisher noch nie gewesen«. Aber die westdeutschen Konzerne hatten wenig Interesse, im Osten neue Betriebe zu errichten.
Ende 1993 legte der Paritätische Wohlfahrtsverband gemeinsam mit dem DGB erneut einen »Armutsbericht vor« worin er vor allem die Lage in Ostdeutschland untersucht. Zur Treuhandpolitik heißt es dort: »Große Bedeutung für die Wirtschafts- und Beschäftigungsentwicklung in den neuen Bundesländern hatte die Politik der Treuhandanstalt; ihr kam nach dem Treuhandgesetz primär die Aufgabe zu, das volkseigene Vermögen der ehemaligen DDR zu privatisieren und zu verwerten nach den Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft. Die bestehenden Unternehmen sollten so rasch als möglich zerschlagen und in Privateigentum überführt werden.« Dagegen sei es »weder ursprüngliches Ziel noch bisherige Praxis der Treuhand« gewesen, Betriebe »mit der Zielsetzung einer Erhaltung von Produktions- und Beschäftigungsstandorten« zu sanieren. Deswegen sei »ein Großteil der zum Zeitpunkt der Maueröffnung vorhandenen Arbeitsplätze inzwischen verlorengegangen«.
Ergebnis: »Auf jeweils zwei Beschäftigte kommt derzeit in Ostdeutschland ein Erwerbsloser.« 1990, im Jahre des »Beitritts« der DDR zur Bundesrepublik Deutschland, hatte die Arbeitslosenquote in Ostdeutschland 1,3 Prozent betragen, zwei Jahre später war sie bereits auf 21,3 Prozent gestiegen, in den Bevölkerungsgruppen der Alleinerziehenden und der 46 bis 64jährigen sogar schon auf 25 Prozent.
Die Zerschlagung von Betrieben betrifft in besonderem Maße auch die Jugendlichen, die sich um Ausbildungsplätze bewerben. 1992 fanden von den im Osten als Bewerber registrierten Jungen und Mädchen nur 58,7 Prozent einen betrieblichen Ausbildungsplatz - teilweise im Westen. Das Defizit vergrößerte sich 1993 dadurch, daß sich staatliche Subventionen für außerbetriebliche Ausbildungsplätze verringerten. Alleinerziehende gab es in der ehemaligen DDR deutlich mehr als in Westdeutschland: 18 Prozent aller Familienhaushalte. Die Untersuchung des Paritätischen Wohlfahrtsverbands führt das zurück »auf zahlreiche soziale Erleichterungen und Vergünstigungen sowie die Tatsache, daß Alleinerziehende in ihrem Status gesellschaftlich akzeptiert waren«- was sich inzwischen gründlich geändert hat: »Im Zuge der Vereinigung . . . haben sich die Rahmenbedingungen für Allemerziehende im Osten deutlich verschlechtert, und das Risiko der gesellschaftlichen Ausgrenzung und Verarmung dieser Gruppe hat sich ebenso deutlich erhöht.«
Um zu illustrieren, wie tief Kohls Einheitspolitik gerade die Mütter in den neuen Ländern hat stürzen lassen, erinnert der Paritätische Wohlfahrtsverband in seinem Bericht an die Leistungen, auf die sie in der DDR Anspruch hatten: »So erhielten Mütter von zwei und mehr Kindern sowie Alleinerziehende einen zusätzlich bezahlten Hausarbeitstag pro Monat.
Der Anspruch auf einen Schwangerschaftsurlaub betrug sechs Wochen vor und 20 Wochen nach der Geburt mit einem Einkommen in Höhe des Nettoverdienstes. Daneben konnte nach Geburt des ersten Kindes ein Babyjahr in Form bezahlten Urlaubs bei einer Unterstützung zwischen 65 und 90 Prozent des Nettoeinkommens genommen werden - nach Geburt des dritten Kindes und der folgenden Kinder sogar eineinhalb Jahre und bis zu drei Jahren, wenn das Kind nicht versorgt werden konnte oder krank war. Unabhängig von einer Freistellung wurde den Frauen pro Kind ein Jahr bei der Rentenversicherung angerechnet, ab dem dritten Kind erhöhte sich die Zurechnungszeit auf drei Jahre pro Kind. Für die Betreuung kranker Kinder waren je nach Familienstand und Kinderzahl vier bis maximal dreizehn Wochen bezahlter Freistellungsurlaub pro Jahr möglich.
Zur finanziellen Entlastung von Familien und alleinstehenden Müttern trugen weitere Leistungen bei, wie ein im Vergleich zur BRD deutlich höheres Kindergeld, Unterhalts- und Ausbildungsbeihilfen und eine Geburtenbeihilfe in Höhe von 1000 Mark. Studierende Mütter hatten Anspruch auf umfassende Unterstützung unter anderem bei der Wohnraumversorgung und Kinderbetreuung. VertreterInnen von Familienverbänden gehen davon aus, daß in der DDR 75 bis 80 Prozent aller Kosten, die ein Kind von der Geburt bis zum 18. Lebensjahr verursacht, von Staat und Gesellschaft getragen wurden - gegenüber maximal einem Viertel in der BRD.
Gleichzeitig stand ein umfassendes, hochsubventioniertes und damit für die Mutter kostenloses Angebot staatlicher Kinderbetreuung bei täglichen Öffnungszeiten zwischen neun und zwölf Stunden zur Verfügung, das bereits in der zehnten Lebenswoche ansetzte und je nach Alter zwischen 81 und 94 Prozent der Kinder erfaßte. « Hinzu kamen noch ein spezieller Kündigungsschutz für Alleinerziehende und manche weiteren Vergünstigungen.
Obwohl Dr. Kohl und sein Sozialminister Dr. Blüm immer gern das Wort »Familie« im Munde führen, hatten sie für solche Errungenschaften nichts übrig und sorgten für deren Beseitigung.
Von den Ende 1989 in der DDR ausgewiesenen 340 000 alleinerziehenden Müttern war schon Ende 1991 jede sechste ohne Erwerbsarbeit. Das früher in der DDR unbekannte Dilemma, sich zwischen Beruf und Kind entscheiden zu müssen, und die nun rasch angestiegenen Kosten von Mutterschaft und Kinderbetreuung führten laut Armutsbericht zu einer eindeutigen Reaktion: »Frauen entscheiden sich mit zunehmender Tendenz gegen Kinder. Die Geburtenrate sank zwischen 1989 und 1991 um die Hälfte. Sterilisationen stiegen sprunghaft an; ihr Nachweis stellt im Kampf um die raren Arbeitsplätze offensichtlich einen Konkurrenzvorteil dar.« Wie verträgt sich das mit den ständigen Bekenntnissen der CDU/CSU zum Schutz der Familien, mit ihren wütenden Attacken gegen die unter Willy Brandts Kanzlerschaft eingeführte Liberalisierung des $218 (Schwangerschaftsabbruch)? Die Antwort ist einfach: Für die Unionschristen endet die Fürsorgepflicht des Staates an der Kasse, und Unternehmerinteressen haben stets Vorrang vor denen der Lohnabhängigen.
Wegen der unzureichenden Förderung von Familien mit Kindern steigt in Deutschland die Kinderarmut steil an. Der »Armutsbericht« weist für 1992 für Westdeutschland den Anteil der in Armut lebenden Kinder unter 16 Jahren mit 11,8 Prozent, in Ostdeutschland mit 21,9 Prozent aus.
Als »wohnraumunterversorgt« registriert er 33,2 Prozent aller westdeutschen und 39,1 Prozent aller ostdeutschen Kinder und Jugendlichen und resümiert: »Kindheit, insbesonder in größeren Familien, ist in beiden Teilen der Bundesrepublik mit einem außerordentlichen Armutsrisiko verknüpft.« Jedesmal, wenn Kohl und Blüm mit reichlich Spucke das Wort »Famillje« über die Lippen bringen, sollen wir ihnen diese Feststellung entgegenhalten. »Die Chance, im Zuge der Sozialunion eine umfassende Sozialreform einzuleiten, um die jeweiligen Stärken der beiden Systeme sozialer Sicherung zu erhalten und die vorhandenen Defizite zugunsten eines umfassenderen und höheren Sicherungsniveaus zu korrigieren, ist aus politischen Gründen nicht genutzt worden«, beklagt der Armutsbericht. Und er zählt vieles auf, was in Ostdeutschland günstiger geregelt war als in Westdeutschland: Armut in dem Sinne, daß arm ist, wer weniger als die Häfte des Durchschnittseinkommens erhält, habe es in der DDR wegen der gleichmäßigen Verteilung der Einkommen auf niedrigem Niveau nicht gegeben, zumal die Güter des Grundbedarfs stark subventioniert waren.
In DDR-Zeiten habe man zwar verdeckte Wohnungsnot gekannt, aber keine offene Obdachlosigkeit. Nur neun Prozent der Erwerbstätigen in der DDR hätten keinen Ausbildungsabschluß gehabt (gegenüber 19 Prozent in Westdeutschland). »Behinderte Menschen waren in der DDR über verschiedene Schutzvorschriften wesentlich stärker in das Alltagsleben integriert, als es die Bestimmungen des bundesdeutschen Schwerbehindertengesetzes verlangen. . Die deutsche Einigung ging für behinderte Menschen mit einer schlagartigen Ausgrenzung aus dem Arbeitsleben einher.« Hinzu kämen jetzt soziale Diskriminierungen und eine »eklatante Verschlechterung« im Rentenrecht der Behinderten.
Pflegebedürftige hatten in der DDR einen individuellen Anspruch auf Pflegegeld, den sie durch die Vereinigung verloren. Pflegeheimaufenthalt und medizinische Betreuung waren gratis. Jetzt müssen die Pflegebedürftigen selbst zahlen. Der Weg ins Heim ist für die meisten ein Weg in die Sozialhilfe. Das bedeutet auch, daß Angehörige finanziell herangezogen werden -»ein gravierender Bruch für ostdeutsche Pflegebedürftige und ihre Angehörigen nach über 40 Jahren prinzipieller Kostenfreiheit im Gesundheitssystem«. Was Pflegebedürftigen nach der Währungsunion auf ihren Sparbüchern verblieben war, wurde ihnen von den Sozialhilfe-Behörden bis auf einen Restbetrag genommen. Weitgehend zerschlagen wurden die Strukturen der »Volkssolidarität«, einer in der DDR staatlich geförderten Organisation, die mit 6 500 Gemeindeschwestern, vielen weiteren hauptamtlichen und rund 200 000 ehrenamtlichen Kräften vor allem für die ambulante Betreuung von Pflegebedürftigen zuständig war und zum Beispiel für symbolische 50 Pfennig am Tag denjenigen Essen brachte, die nicht selbst kochen konnten. Wegen Auslaufens von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen sind jetzt auch die rund 1000 Altenklubs in Ostdeutschland in ihrem Bestand gefährdet.
Viel schneller als die Angleichung der Einkommen (1992 betrug das durchschnittliche Einkommen pro Person in einem Ost-Haushalt 59,3 Prozent im Verhältnis zum Westen) vollzog sich die Angleichung der Mietpreise: Allein im Jahre 1991 stiegen die Mieten im Osten um das 3,5- bis Vierfache. Inzwischen setzte sich der Anstieg fort - einzig aus Spekulationsgründen, nicht etwa zum Ausgleich für Modernisierungsmaßnahmen, die bisher meist unterblieben. Wegen auflaufender Mietschulden kommt es zu vielen Räumungsklagen. So waren allein in Magdeburg Anfang 1993 rund 1900 Räumungsklagen anhängig. Obdachlosigkeit entsteht laut Armutsbericht vielfach auch durch rabiate Methoden alter oder neuer Hausbesitzer, die bestrebt sind, Wohnungen zu »entmieten« Notwendige Verbesserungen des Wohnungsbestands scheiterten bisher auch am Prinzip »Rückgabe vor Entschädigung«; in etwa einer Million Fälle waren 1993 die Besitzverhältnisse noch nicht geklärt, die überforderten Gerichte und Behörden werden damit wohl noch Jahre beschäftigt sein.
Als psychosoziale Folgen dieser Entwicklung nennt der Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbands und des DGB: Wachsende Verunsicherung, Empfindung von Nichtgebrauchtsein und Leere; Gefühle des Ausgeliefertseins und der eigenen Ohnmacht; sich ausdehnende Hoffnungslosigkeit und Sinnlosigkeit; sich verfestigende seelische Probleme (Schlafstörungen); Rückzug ins Private und zunehmende politische Uninteressiertheit; Empfinden eines grundlegenden Statusverlustes; sich einstellende Inaktivität und zunehmende Neigung zum Alkoholkonsum. Auffällig seien zudem verstärkt auftretende Gesundheitsstörungen als Reaktion auf soziale und kulturelle Ausgrenzung. (Auch Kinokarten verteuerten sich rasch um 700 Prozent und wurden für viele unerschwinglich.) Das Versprechen des Kanzlers Dr. Kohl, daß es niemandem schlechter gehen werde, erwies sich bald nach der von ihm gewonnenen Bundestagswahl vom Dezember 1990 als hohl.
Um so größer waren die Hoffnungen, nach einer Übergangszeit von allenfalls drei oder vier Jahren werde es allen Ostdeutschen besser gehen. Doch auch diese Hoffnung erfüllte sich nicht. Im Gegenteil: Für beträchtliche Teile der Bevölkerung ist ein Ende der Abwärtsentwicklung nicht absehbar. Im Armutsbericht von Ende 1993 heißt es dazu: »In einer Vielzahl von Lebensbereichen droht die Versorgung in den neuen Bundesländern weit hinter den im Westen der Republik vorhandenen Standards zurückzubleiben. Dies gilt vorrangig für die Versorgung im Arbeitsmarkt- und Beschäftigungssystem. Dies gilt jedoch auch für die Versorgung mit Bildungsgütern, mit Wohnungen und mit Sozial- und Gesundheitsdienstleistungen.« Kommunale Kostenträger seien »aufgrund ihrer prekären Haushaltssituation kaum in der Lage, die laufenden Kosten für die soziale Infrastruktur vor Ort zu bestreiten«. Die Autoren des Armutsberichts zitieren Prognosen, wonach eine Angleichung der Lebensverhältnisse zwischen Ost und West noch einen Zeitraum von »mindestens zehn Jahren« erfordern wird.
Sie selbst halten es für »offen, ob eine solche Angleichung tatsächlich stattfinden oder ob das Beitrittsgebiet nicht vielleicht über einen längeren Zeitraum eine Armutsregion im vereinten Deutschland bleiben wird«.
Halten wir fest: Als sich Bürgerinnen und Bürger der DDR lange entbehrte Freiheiten erkämpften, als das SED-Regime zusammenbrach, als das üble Spitzelsystem des Staatssicherheitsdienstes beseitigt wurde, da handelten die Ostdeutschen souverän, und der westdeutsche Kanzler hatte außer Sprüchen wenig beizutragen. Die Einheit aber inszenierte er dann -nicht ohne ostdeutsche Helfer, namentlich den Staatssekretär Günther Krause, der später zur Belohnung zeitweilig Bundesverkehrsminister sein durfte - als großen Volksbetrug. Betrogen und gedemütigt stehen jetzt nicht nur Millionen Ostdeutsche da, sondern für materielle und politische Kosten müssen mehr und mehr auch die Westdeutschen aufkommen, nicht die Reichen, die noch viel reicher wurden, sondern die Armen. Was der »Einheitskanzler« angerichtet hat, ist die tiefe soziale Spaltung Deutschlands.
Mit den »Solidarpakt«-Beschlüssen von 1993, deren Inhalt so zynisch ist wie der Name, und mit den »Spar- und Konsolidierungsbeschlüssen « für 1994 wurde zu Lasten der Armen in ganz Deutschland tief in die Leistungen des Arbeitsförderungsund des Sozialhilfegesetzes eingegriffen. Kürzungen des Arbeitslosengeldes und der Arbeitslosenhilfe, des Kurzarbeiterund des Schlechtwettergeldes, Verteuerungen für die Kranken und andere Zumutungen treiben, wie der Präsident des Verbandes der Kriegs- und Wehrdienstopfer, Behinderten und Sozialrentner Deutschlands (VdK), Walter Hirrlinger, feststellte, erneut »hunderttausende Menschen und deren Familien in die Armut«; diese Maßnahmen seien deshalb »sozial unverantwortlich «. Der Deutsche Kinderschutzbund wies zu Jahresbeginn 1994 darauf hin, daß in Deutschland inzwischen schon eine halbe Million Kinder in Obdachlosen-Unterkünften leben.
Das Resümee im Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbands und des DGB lautet: Die von der Regierung Kohl favorisierte wirtschaftsliberale Strategie der Lastenverteilung bedeute, »daß die Lasten allein von den Arbeitnehmern und Sozialleistungsempfängern übernommen werden müssen«. Nach einem Jahrzehnt der Umverteilung zu Lasten der sozial Schwächsten nehme die Zahl der Armen im Westen unverändert zu, und die derzeitige Wirtschafts- und Sozialpolitik laufe »darauf hinaus, daß heute und in den kommenden Jahren die Lasten der Vereinigung vorrangig zwischen den Armen im Westen und im Osten geteilt werden«. Daher sei es »kaum verwunderlich, daß die Politikverdrossenheit in der Bevölkerung zunimmt«. Obwohl »das neue Gesamtdeutschland eines der reichsten Länder der Erde« sei, könne diese Politik zur Folge haben, »daß die soziale und politische Stabilität der Bundesrepublik in den neunziger Jahren ernsthaft gefährdet wird«.
Das Große Geld aber wurde bestens bedient: Es konnte sich in Ostdeutschland alles und jedes aneignen, was ihm brauchbar erschien; es konnte die dortigen Absatzmärkte in Besitz nehmen; es konnte seine Gewinne sprunghaft steigern; und in engem Zusammenwirken mit der Regierung des Dr. Helmut Kohl konnte es die wachsende Verängstigung vieler Menschen auch noch zum Abbau zahlreicher, in früheren Jahrzehnten mühsam erkämpfter Arbeitnehmer- und Bürgerrechte nutzen. Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik gelang es den Metall-Industriellen, einen geltenden Tarifvertrag auszuhebeln.
Mit »Öffnungsklauseln« soll das gesamte Tarifrecht zum Einsturz gebracht, die Gewerkschaftsbewegung entmachtet werden. Mit sogenannten »Beschleunigungs-«, »Vereinfachungs- « und »Entlastungsgesetzen« schränkte die von Kohl geführte Bonner Koalition wesentliche Mitspracherechte der Bürgerinnen und Bürger ein, so daß jetzt über die Köpfe von Betroffenen hinweg äußerst zweifelhafte, umweltgefährdende Großprojekte, beispielsweise in der Gentechnik verwirklicht werden können. Zur Begründung müssen immer wieder die »deutsche Einheit« oder der »Standort Deutschland« herhalten. Das »Standortsicherungsgesetz« und weitere, angeblich aus nationalen Interessen notwendige Beschlüsse tun ein übriges, um die Reichen und Superreichen im Lande von sozial- und rechtsstaatlichen Fesseln zu befreien.
Der Verantwortung für die Folgen dieser Politik entledigt sich der Bund aufs vornehmste, indem er sie an die Kommunen delegiert. Deren Sache ist es dann, für die explodierende Zahl von Sozialhilfe-Abhängigen zu sorgen. In finanzieller Bedrängnis unter zunehmendem Schuldendruck schließen die Kommunen jetzt Theater, Büchereien und Schwimmbäder, erhöhen Kindergarten-Beiträge der Eltern ins Unbezahlbare oder führen Gebühren fürs Betreten von Parkanlagen ein. Was kümmert’s die Reichen? Sie haben private Schwimmbäder und können rasch nach Mailand oder Monte Carlo fliegen, um dort in die Oper zu gehen.
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