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28 Oktober 2011

Erste Aufnahme eines Regenbogens dritter Ordnung

Deutsche Wissenschaftler haben eine neue Regenbogenart entdeckt. Zwei Physiker hätten erstmals einen Regenbogen dritter Ordnung nachgewiesen, teilte die SRH Hochschule Heidelberg mit. Gemeinsam mit einem Fotografen sei ihnen im Mai in Kämpfelbach bei Pforzheim die Aufnahme des Phänomens gelungen, das bislang nur aus theoretischen Berechnungen bekannt war und in freier Natur noch nie gesichtet wurde.

Diese äußerst seltenen Regenbögen liegen den Angaben zufolge nicht, wie üblich, der Sonne gegenüber.

Vielmehr bilden sie Farbringe um die Sonne herum



http://www.scinexx.de/redaktion/wissen_aktuell/bild8/regendrittg.jpg

Erste Aufnahme eines Regenbogens dritter Ordnung


Naturphänomen erstmals fotografisch nachgewiesen

Zum ersten Mal haben Forscher einen Regenbogen dritter Ordnung fotografiert. Dieses atmosphärische Phänomen war bisher nur theoretisch bekannt, aber nie aufgenomen worden. Die farbigen Ringe dieses Regenbogens entstehen nur unter ganz bestimmten Wetterbedingungen. Der weltweit erste eindeutige Nachweis eines solchen Regenbogens gelang in der Nähe der Stadt Pforzheim.

Wenn Regen und Sonne aufeinander treffen, dann zeigt sich der Himmel von seiner farbenfrohsten Seite: Ein Regenbogen entsteht. Gelegentlich erscheint noch ein zweiter mit umgekehrter Farbfolge, ein sogenannter Regenbogen zweiter Ordnung. Deutsche Wissenschaftler haben nun eine weitere, einzigartige Regenbogenart nachgewiesen. Ihnen gelang die weltweit erste Aufnahme eines Regenbogens dritter Ordnung. Das Phänomen war bislang nur aus theoretischen Berechnungen bekannt und in freier Natur noch nie gesichtet worden.

Das Besondere an diesen Regenbögen: Sie liegen nicht, wie die üblichen Exemplare, der Sonne gegenüber, sondern bilden Farbringe um die Sonne herum. Möglich sind diese Erscheinungen nur äußerst selten und unter bestimmten Wetterbedingungen: „Regenbögen dritter Ordnung sind mehrfach gespiegelt und entstehen durch eine hohe Überstrahlung. Das passiert nur dann, wenn eine starke Regenfront vor die tief stehende Sonne rückt", so Elmar Schmidt, Professor für Technische Physik an der SRH Hochschule Heidelberg.

Da diese Regenbögen nahezu transparent sind, kann man sie mit bloßem Auge fast nicht erkennen. Endgültig beweisen konnten die Wissenschaftler ihre Entdeckung daher erst mit der Nachbearbeitung der Bilder. Die Aufnahmen entstanden in Kämpfelbach bei Pforzheim und gelten als Sensation der atmosphärischen Optik. Sie wurden jetzt in der internationalen Fachzeitschrift „Applied Optics" veröffentlicht.




 Der tertiäre Regenbogen, auch Regenbogen dritter
Ordnung genannt, ist ein äußerst seltener und zugleich  
schwierig zu beobachtender Regenbogen. In diesem
Kapitel soll der tertiäre Regenbogen ausführlich in  
Theorie und Praxis besprochen werden. Philip Laven [1]
gibt in seiner Präsentation einen allgemeinen  
Überblick zum den gegenwärtigen Stand der Erforschung
des dritten Regenbogen. Die spärlich vorhandenen  
Beobachtungsberichte   wurden   von   Raymond   L.   
Lee,   Jr.   [2]   ausgewertet   um  auf   der   
Grundlage   neuer  physikalischer   Erkenntnisse   die   
erforderlichen   Beobachtungsbedingungen   neu   
einzuschätzen.   Die  theoretischen Grundlagen
entwickelte James A. Lock [3] in einem eigenen
ausführlichen Vortrag.

3.2 Überlieferte Berichte beobachteter Regenbögen
dritter Ordnung  

In   der   Literatur   gibt   es   leider   nur   
wenige   brauchbare   Beobachtungsberichte,   welche   
in   Tab.   1  zusammengefasst   sind.   Alle   
Berichte   haben   etwas   gemeinsam.   Mit   Ausnahme   
der   Beobachtung   von  Bergman [7] wurden alle Bögen
bei tief stehender Sonne beobachtet. Die
Helligkeitsangaben variieren je  nach individuellem
Empfinden. So hat Hartwell [8] die Erscheinung als sehr
hell beschrieben, aber nur  Varianten von Rot und
Orange beobachtet. Pedgley [10] hingegen hat den
dritten Bogen bei schwacher  Helligkeit   gesehen,  
schätzt  aber   die   Sichtbarkeit  als   deutlich   
ein   und  erkennt   sogar  das   Grün  auf  der  
Innenseite des Bogens. Bei Heilermann [9] wurde zwar
keine Helligkeit/Sichtbarkeit angegeben, aber die  
Beobachtung der Entwicklung des tertiären Bogens über
den gesamten Zeitraum und von mehreren Personen  bei
übereinstimmender Identifizierung, lässt mit einiger
Wahrscheinlichkeit die Eigenschaft „gut sichtbar"  zu.


    Beobachter                                               Beschreibung                                             Sonnenhöhe

 Torbern Bergman       ... und ich selbst hatte das Vergnügen, den dritten Regenbogen im vergangenen  Keine 
 3. Sept. und          Sommer, zweimal im westlichen Gotland am 3. September und 5. am Nachmittag,  Angabe
 5. Sept. 1758,       zu beobachten. Der Himmel war sehr dunkel nach dem regen, aber die Farben waren 
 Nachmittag           so   schwach,   dass   bei   der   ersten   Gelegenheit   nur   die   rote   und   die   gelbe   Farbe 
 [7]                  schwach, und das zweite Mal nur die rote sichtbar war. Sein Durchmesser - von der 
                       Sonnenhöhe geschätzt - bei etwa 84 °  ... (Winkelabstand 42°)

 Charles Hartwell     Nach einem starken Schauer und kurz vor Sonnenuntergang schien die Sonne  und  Wenige 
 28. Juli 1851        zeichnete einen schönen ersten Bogen auf die dunklen Wolken im Osten. Zur selben  Grad über 
 [8]                  Zeit wurde im Nordwesten eine Erscheinung zerlegten Lichtes auf einer Wolke nicht  dem 
                      sehr   großen   Ausmaßes,     aus   welcher   aber   offenbar   Regen   fiel,   gesehen.   Die  Horizont
                      Erscheinung nördlich der Sonne war sehr hell obwohl nur verschiedene Varianten 
                      von Rot und Orange beobachtet wurden. ... In Richtung Süden war das Phänomen 
                      weniger brillant und weniger ausgedehnt, aber deutlich nachvollziehbar etwa 15° 
                      vom Horizont entfernt. ...  Der Radius betrug etwa 40°. ...

 Johannes              ... ein kreisförmiges rotes Segment zeigte sich rechts über der Sonne bei einem  ca. 10°
 Heilermann           Winkelabstand von etwa 40°. Und dieses Segment breitete sich langsam weiter um 
 4. Sept. 1878        die Sonne aus,  während allmählich die anderen Farben entstanden, wie theoretisch 
 [9]                  erwartet.  Schließlich   näherte  sich  der   runde   Bogen   fast  dem  Horizont,  und  der 
                      Beobachter ebenso wie seine Gefährten und Experten gleichermaßen verloren alle 
                      Zweifel daran, dass dies in der Tat der dritte Regenbogen war.

 David Pedgley         ... es hatte gerade begonnen zu regen ... in dichten Vorhängen von mittleren Tropfen  ca. 7.4°
 21. Mai 1986,        hell erleuchtet durch die tief stehende Sonne. Vom Balkon des vierten Stocks meines 
 17:55                Hotelzimmers   konnte   ich   nicht   nur   einen   hellen   primären,   begleitet   von   einem 
 [10]                 mäßig hellen sekundären Bogen, sondern auch einen schwachen Bogen in Richtung 
                      zur Sonne, welcher von der Seite des Gebäudes abgeschirmt wurde, bequem sehen. 
                      Der Bogen funkelte, war aber deutlich für zwei oder drei Minuten sichtbar. Er hatte 
                      ungefähr die gleiche Größe wie der primäre Bogen, mit rot auf der Außenseite und 
                      innen grün.

Tab. 1: Beobachtungsberichte über den dritten Regenbogen, zitiert von Lee [2]. Die Beschreibung wurde auszugsweise 
zusammengefasst und ist nicht wörtlich wiedergegeben. Die Sonnenhöhe wurde nachträglich bestimmt.


Bergman [7] hingegen gibt die Helligkeiten mit schwach
an, macht aber keine Angaben zur Sichtbarkeit der 
Erscheinungen. Leider beschränkt sich die Zeitangabe
der Beobachtung auf den Tagesabschnitt Nachmittag, 
womit eine Bestimmung der genauen Sonnenhöhe nicht
möglich ist. Für den 3. September (In Schweden  wurde
der Gregorianische Kalender bereits 1753 eingeführt)
wurde eine Sonnenhöhe für Visby um 14 Uhr  Ortszeit von
37,96° und um 15 Uhr von 33,66° ermittelt. Erst um 19
Uhr steht die Sonne nur noch 12,54°  über dem Horizont
und liegt damit nicht mehr im Tagesabschnitt des
Nachmittags. Möglicherweise ist die  schwache
Helligkeit in diesem Fall auf die größere Sonnenhöhe
zurück zu führen. 

3.3 Theorie der Regenbögen höherer Ordnung

3.3.1 Der Regentropfen als ein transparentes
kugelsymmetrisches Medium

Der   Ausgangspunkt   aller   Betrachtungen   ist   die  
Mie-Streuung   [4].   Die   Mie-Streuung   basiert  
auf   den  Maxwellschen   Feldgleichungen   der  
Elektrodynamik,   angewendet   auf   Polarkoordinaten  
mit   einem  homogenem,   kugelsymmetrischem   und  
transparentem   Medium   (hier   Regentropfen)   im  
Zentrum.   Vom  Standpunkt   der   Elektrodynami        
k  aus   betrachtet   müsste   man   korrekterweise  
den   Regentropfen   als  Dielektrikum betrachten. Der
Einfachheit halber wird aber hier die Bezeichnung
Regentropfen beibehalten.  Die  Mie-Streuung ist  für 
eine numerische Berechnung sehr  aufwendig, da  die
Lösung  eine  Reihe  mit  praktisch   unendlich  
vielen   Summen   ist.   Nach   Willerding   [5]  
benötigt   man   für   die   Berechnung   der 
Streuamplituden an einem Wassertropfen mit einem Radius
von 1000 Lichtwellenlängen mindestens 6000 
Reihenglieder, die aufsummiert werden müssen.
Effizienter geht es dagegen mit den Debye-Reihen. Debye 
hat die Reihe der Mie-Streuung nach möglichen
Strahlengängen sortiert. 


Hierbei treten folgende Debye-Reihen auf (hier nur von p = 0 bis p = 5):

p = 0 – entspricht der äußeren Reflexion plus Beugung
p = 1 – entspricht der direkten Transmission durch einen Wassertropfen
p = 2 – entspricht 1 interne Reflexion (primäre Regenbogen)
p = 3 – entspricht 2 interne Reflexionen (sekundärer Regenbogen)
p = 4 – entspricht 3 interne Reflexionen (tertiärer Regenbogen)
p = 5 – entspricht 4 interne Reflexionen (quartärer Regenbogen)

Der Vorteil dieses Verfahrens liegt darin, dass man
fallbezogen die p-Reihen auch einzeln berechnen und die 
Reihe danach abbrechen kann, was sich günstig auf die
Rechenzeit auswirkt.

http://www.theusner.eu/terra/images/rainbow/20110611/rb34b.jpg


Der Regenbogen 3. Ordnung entsteht durch Dreifachreflektion in den Regentropfen und bildet sich in etwa 41° Abstand um die Sonne (nicht um den Gegensonnenpunkt wie die Bögen 1. und 2. Ordnung). er hat nur etwa 8% der Flächenhelligkeit des Bogens 1. Ordnung und steht zusätzlich im hellen Streulicht (Bogen 0. Ordnung):

Datum: 13. Juni 2011 08:31

http://www.batangastoday.com/wp-content/uploads/2011/10/Quadruple-Rainbow-560x560.jpg

third-order and fourth-order rainbow at the center.

P. Laven hat eigene Rechnungen nach Debye mit
unterschiedlichen Tropfenradien präsentiert. Aus Abb. 1 
ergibt sich der Gesamtablenkwinkel für den
Hauptregenbogen (p = 2), für rot (700 nm) mit
Blickrichtung  zum   Gegensonnenpunkt   (180°)   42,31°    
=   180°   -   137,69°   und   für   den  
Nebenregenbogen   bei   gleicher  Blickrichtung und
gleicher Wellenlänge 50,47°. Die Gesamtablenkwinkel für
die Regenbögen dritter (p = 4)  und vierter Ordnung (p 
= 5) kann man direkt aus Abb. 1 ablesen, allerdings bei
einer Blickrichtung zur  Sonne (Sonnenposition 0°).

24 Oktober 2011

Donaukultur - Haarmann

mp3 download HÖREN:

http://medien.wdr.de/m/1319461987/radio/redezeit/wdr5_redezeit_20111024.mp3
Die Entdeckung der ältesten Hochkultur Europas
Jahrhundertelang hat die Forschung geglaubt, dass die Urzivilisation aus dem Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris kommt. Doch inzwischen gibt es neue Funde, und ihnen zufolge haben schon vor 7000 vor Christi Geburt im Donaubereich Menschen gelebt, die Wein anbauten und schon Reihenhäuser bauten, und eine eigene Schrift hat die Zivilisation auch bereits gehabt. Spannende Forschungsergebnisse über einen längeren Zeitraum, über die Thomas Koch sich mit Harald Haarmann, lange Zeit Historiker in Trier, jetzt in Helsinki, unterhält.

Lagen die Wurzeln in Alteuropa?

Noch vor wenigen Jahren galt es als unbestritten, daß das älteste
Schriftsystem der Welt vor etwa 5000 Jahren von den Sumerern im
Zweistromland (Mesopotamien) entwickelt wurde und sich dann von
dort in die anderen Hochkulturen des Altertums verbreitete. So
haben es Generationen von Gutenberg-Jüngern in der Schule gelernt,
so kann man es auch in den Lexika nachlesen. In den letzten
Jahren hat diese These der Monogenese(1) der Schrift allerdings
erhebliche Kratzer bekommen. Seit den Veröffentlichungen der
litauischen Archäologin Marija Gimbutas in den siebziger und achtziger
Jahren wissen wir von einer noch älteren, vor-indogermanischen
europäischen Schrift (1a).

Die sogenannte Vinca-Kultur(2) besiedelte bereits im 6. Jahrtausend vdZ
den Balkanraum zwischen Adria und Karpaten, zwischen dem heutigen
Ungarn und dem nördlichen Griechenland.

Die hier bei Ausgrabungen gefundenen Zeugnisse einer frühen
europäischen Sakralschrift haben Wissenschaftler zu der Annahme
gebracht, daß aus ihr die kretische Linear A-Schrift entstanden ist.(2a)
Harald Haarmann hat in seinem empfehlenswerten Werk
Universalgeschichte der Schrift auf die Wahrscheinlichkeit einer
frühen Wanderung der Vinca-Kultur  in den ägäischen Raum
hingewiesen. Földes-Papp hatte bereits 1966 in seinem Werk
Vom Felsbild zum Alphabet
auf die, wie er es nannte,
»Kretische Hypothese« bei der Entwicklung des Konsonantenalphabets
hingewiesen, freilich ohne Kenntnis der erst später gemachten Ent-
deckungen der Archäologen.


Lebensraum der Vinca-Kultur (Donauzivilisation). Grafik: © B. Schnelle

Die Hypothese der alteuropäischen Wurzeln unserer Schrift
ist unter den Wissenschaftlern nicht unumstritten.
Darf sie deshalb unerwähnt bleiben? Wohl kaum. Wer sich bisher
im Besitz der allgemeingültigen Antworten auf die vielfältigen Fragen
der Schriftgeschichte wähnte, dem dürften angesichts der modernen
Forschungsergebnisse doch erhebliche Zweifel kommen. Festzuhalten
bleibt eine wichtige Tatsache: Immerhin zwei Jahrtausende liegen
zwischen den ältesten Zeugnissen der Alteuropäischen Schrift
und den ersten Aufzeichnungen der Sumerer in Mesopotamien.(2b)

Bereits die alten Griechen und Römer stritten über den Ursprung
des Alphabets. Der Geograph Strabo nannte das iberische Volk
der Turdetanier; diese hätten eine über 6000 Jahre alte Schrift
besessen. Heute dürfen wir annehmen, daß diese iberische Schrift
nichts anderes als ein Ausläufer des phönikischen Konsonanten-
alphabets war. Platon dagegen hielt die Ägypter für die Schöpfer
des Alphabets. Der Römer Plinius der Ältere nannte die Assyrer,
während der Historiker Tacitus der ägyptischen Hypothese
den Vorzug gab. Der Grieche Diodor schrieb, nicht die Phöniker
hätten das Alphabet erfunden, sondern sie hätten lediglich
eine aus Kreta stammende Schrift übernommen und verändert.
Sicher ist, daß bei den bereits im Altertum lebhaften Handelsbe-
ziehungen im Mittelmeerraum, ein Schriftsystem nicht isoliert bleiben
konnte.

Gerade den seefahrenden Phönikern ist die kretische Linearschrift
sicherlich nicht unbekannt geblieben. Insofern darf man Kreta
wohl die Funktion einer Drehscheibe bei der Verbreitung der Schrift
zuschreiben.


Kreta und Zypern

Das älteste auf Kreta nachzuweisende Schriftsystem, eine Bilderschrift,
wird auf etwa 2000 vdZ datiert. Sie ist auf wenigen Tonstreifen und Siegeln
erhalten geblieben. Ihre Herkunft aus den ägyptischen Hieroglyphen
gilt heute als sehr wahrscheinlich. Mit ziemlicher Sicherheit
hat man damals auch schon mit Matrizen die Schriftzeichen in den
weichen Ton eingedrückt, der anschließend an der Sonne
getrocknet wurde.

Italenischen Archäologen gelang 1908 im minoischen Palast von
Phaistos (Süd-Kreta) ein herausragender Fund. Eine flache, runde
Tonscheibe mit ca. 16 cm Durchmesser, beidseitig mit Bildzeichen
bedeckt, wurde der Vergangenheit entrissen.

Dieser sog. »Diskus von Phaistos« entstand im 17. Jahrhundert vdZ.
Lange Zeit hielten die Wissenschaftler ihn für einen Import aus
Kleinasien oder aus Nordafrika. Nach einem weiteren Fund auf
Kreta, der ähnliche Schriftzeichen enthält, gilt seine kretische
Identität inzwischen als gesichert. Auch gehen die Wissenschaftler
nunmehr davon aus, daß es sich bei den Schriftzeichen um eine
linksläufig geschriebene Silbenschrift handelt, lediglich ihr bildhafter
Charakter erinnert noch an die kretischen Hieroglyphen. Diese Zeichen
wären dann die direkte Vorstufe zu den linearen Schriften, deren
Frühform man freilich bereits parallel zu den Hieroglyphen verwendete.



Diskus von Phaistos

Sir Arthur Evans, dem Ausgräber des Palastes von Knossos,
verdanken wir die Funde der kretischen Linear A- und Linear B-Schrift.
Linear A entwickelte sich höchstwahrscheinlich aus der
Hieroglyphenschrift und wurde für die minoische Sprache
verwendet. Linear A ist bis heute nicht entziffert.

Wir wissen auch nicht, was etwa im 15. Jahrhundert vdZ zum Untergang
der minoischen Kultur geführt hat; die Wissenschaftler halten
eine große Naturkatastrophe ebenso für möglich, wie eine Invasion
vom griechischen Festland.


Lokale Formen der frühen ägäischen Linearschriften
1 = Diskus von Phaistos (Silbenschrift)
direkter Vorläufer der linearen kretischen Schriften, ca. 1700 vdZ
Linear A, ca. 2000 - 1200 vdZ
Linear B, ca. 1500 - 1200 vdZ
2 = Kyprisch-Minoische Schrift, ca. 2. Jahrtausend vdZ
3 = Levanto-Minoische Schrift (Kyprisch-Minoische Einflüsse)
ca. 2. Jahrtausend vdZ
4 = Philisto-Minoische Schrift (Kyprisch-Minoische Einflüsse)
ca. 1700 vdZ
5 = Liparische Schrift (Mykenisch) ca. 12. Jahrhundert vdZ
Fundort: Äolische Inseln
6 = Karische Schrift (Mykenisch-Kyprische Einflüsse)
8. - 3. Jahrhundert vdZ
Grafik: © B. Schnelle


Auf Zypern war während der Bronzezeit, im 2. Jahrtausend vdZ,
eine Schrift in Gebrauch, die mit der minoischen Linear A
offensichtlich verwandt ist. Sie wird als Kyprisch-Minoische
oder alt-kyprische Schrift bezeichnet.(2c) Die gefundenen Tontafeln
wurden im Gegensatz zu den kretischen Funden gebrannt und nicht
in der Sonne getrocknet. Die alt-kyprische Schrift ist
bis heute unentziffert. Ab dem 1. Jahrtausend vdZ wurde
auf Zypern für die griechische Sprache die sog. Klassische
Zyprische Schrift
verwendet, die bei der Entzifferung der
Linear B durch den Briten Michael Ventris (1922 bis 1956) eine
Schlüsselrolle spielen sollte.



Einige Zeichen der sog. Klassischen Zyprischen Schrift

Als Sir Arthur Evans 1941 starb, hatte er mit der Entzifferung der
kretischen Linear B kaum Fortschritte gemacht und war bis zuletzt
davon überzeugt, daß die minoische Sprache unmöglich ein
frühes Griechisch sein konnte.

Dem Architekten Michael Ventris, der bereits als 15jähriger
Evans kennengelernt hatte, gelang 1953, unterstützt von John Chadwick,
der Nachweis, daß die Linear B-Tafeln in einem archaischen
Griechisch beschriftet wurden. Linear B-Funde gab es nicht nur
auf Kreta, sondern auch auf dem griechischen Festland (Pylos 1939,
Mykene 1950, Theben 1964 und Tiryns 1966). Die Minoer
und Mykener haben also bereits Jahrhunderte vor Homer
griechisch gesprochen. Andrew Robinson schreibt in seinem Werk
Die Geschichte der Schrift:
»Dies ist nicht das Griechisch Homers, geschweige denn das
klassische Griechisch des Euripides, so wie das
moderne Deutsch nicht das Deutsch Grimmelshausens ist.«

Fußnoten

(1) monogen = aus einer einmaligen Ursache entstanden.
Ebenso zweifelhaft ist die These, dass die altägyptischen Hieroglyphen
Ursprung aller nachfolgenden Schriften seien. Diese Auffassung taucht leider
auch in der neueren Fachliteratur auf, so z.B. bei Bollwage, 2010 (siehe
Literaturverzeichnis). Übrigens: Als man um das 8. Jahrhundert vdZ
in Ägypten noch Hieroglyphen verwendete, kannte man an den Küsten
Palästinas bereits Alphabet-Schriften. 
Die Monogenese-Theorie gewinnt
auch
durch ständiges Wiederholen nicht an Überzeugungskraft.

(1a) Gimbutas war Leiterin von fünf großen Ausgrabungsprojekten
im ehemaligen Jugoslawien
, Griechenland und Italien.
Diese Arbeit
trug maßgeblich zum Verständnis des Neolithikums
in einigen
Teilen Europas und der kulturellen Entwicklung vor der indo-
germanischen Einwanderung bei.


(2) Die Vinca-Kultur hat ihren Namen nach dem serbischen
Dorf Vinca bei Belgrad, Fundort einer großen, mehrschichtigen Siedlung.

(2a) Kuckenburg warnt allerdings davor, das ähnliche Zeicheninventar
als Beleg für die Verwandtschaft beider Zeichensysteme zu deuten.
Vergleiche hierzu: Kuckenburg, Martin: ...und sprachen das erste Wort.
Düsseldorf, 1996

(2b) Neuere Forschungsergebnisse lassen gar den Schluß zu,
daß auch die Proto-Ägyptischen Hieroglyphen und die Schriftzeichen
der Indus-Kultur älter als die Schrift der Sumerer sind.
Vergleiche hierzu: Haarmann, Harald, Geschichte der Sintflut.
Auf den Spuren der frühen Zivilisationen. München, 2003.

(2c) Lokale Formen dieser Schrift entwickelten sich im 2. Jahrtausend vdZ
auch in Vorderasien: die Lavento-Minoische und die Philisto-Minoische Schrift.

Das phönikische Konsonantenalphabet

Die Phöniker (oder Phönizier) waren wohl die größten Händler
und Entdecker der Antike. Sie bereisten und erforschten
den gesamten Mittelmeerraum und gründeten Kolonien.
Ihr Vorstoß bis zu den Kanarischen Inseln gilt heute als
wahrscheinlich, manche Wissenschaftler halten sogar eine
Umsegelung Afrikas für möglich, selbst der Vorstoß zum ameri-
kanischen Kontinent wird nicht mehr ausgeschlossen. Die Phöniker
haben der Nachwelt ein Konsonantenalphabet mit 22 Buchstaben hinter-
lassen, von dem wir heute wissen, daß sich aus ihm die früh-griechische
Schrift entwickelt hat. Die phönikische Schrift gehört zum
nordsemitischen Schriftenkreis, dem außerdem die kanaanäische
und die aramäische Schrift zuzurechnen sind. Über die Herkunft des
phönikischen Konsonantenalphabets wissen wir wenig, kretische
Einflüsse können ebenso wenig ausgeschlossen werden,
wie ägyptische oder sinaitische(3). Vielleicht kam Diodor
tatsächlich der Wahrheit sehr nahe, als er schrieb, die Phöniker
hätten lediglich eine aus Kreta stammende Schrift übernommen
und verändert.


Einige Schriftzeichen der Phöniker

Als ältestes Zeugnis der phönikischen Schrift gilt das sog.
Abdo-Fragment, vermutlich aus dem 17. oder 16. Jahrhundert vdZ.
Eine eingeritzte Inschrift am Tempel zu Abu Simbel zeigt uns die
frühe Übergangsform zur mittel-phönikischen Schrift, die etwa
ab dem 7. Jahrhundert verwendet wurde. Die Karthagische (punische)
Schrift ist eine weitere Entwicklungsstufe, bei der die Worte
bereits durch Zwischenräume getrennt wurden.

Die Karthagische (punische) Form wurde ab etwa 300 vdZ bis zur
Zerstörung Karthagos durch die Römer im Jahre 146 vdZ verwendet.
Die neu-punische Schrift hielt sich bis in das dritte Jahrhundert.

Albert Kapr bemerkte, daß die entscheidenden Schritte in der
Entwicklungsgeschichte der Schrift immer dann getan wurden,
wenn ein Volk das schriftliche Ausdrucksmittel eines anderen Volkes
übernahm(4). Genau dies taten nun die alten Griechen mit dem
phönikischen Konsonantenalphabet (siehe aber auch Fußnote 4a).

 

Die griechische Schrift


Die überragenden kulturellen Leistungen der Griechen
für die Zivilisation können gar nicht genug betont werden.
Auf den Gebieten der Philosophie, der Architektur
und der Kunst haben sie Werte für die Ewigkeit hinterlassen.
Ihnen verdanken wir u. a. die demokratische Staatsform. Athen stieg
zur führenden Handelsnation des Mittelmeerraumes auf
und übernahm die Schlüsselrolle bei der Weiterentwicklung der Schrift.

Die griechische Geschichte von etwa 1200 bis 700 vdZ wird von den
Historikern allgemein als dunkle Periode bezeichnet, was aber
lediglich besagt, daß wir fast keine Kenntnisse über die
Ereignisse dieses Zeitraums besitzen. Etwas Licht in das Dunkel
werfen immerhin die Dichtungen Homers. Aber gerade in dieser Periode
entstanden die ersten frühgriechischen Alphabete, die aus der
phönikischen Schrift entlehnt waren und der griechischen Sprache
angepaßt wurden. Kretische bzw. zyprische Einflüsse
dürften hierbei ebenfalls eine Rolle gespielt haben.

Über mehrere Jahrhunderte gab es verschieden Schreibweisen in den
griechischen Regionen, wohl eine Folge des ausgedehnten
Siedlungsgebietes der Griechen. Die Wissenschaft unterscheidet drei
Gruppen der früh-griechischen Schrift:

1) Die archaischen Alphabete der dorischen Inseln
(Kreta, Thera, Milos)

2) Die östlichen Alphabete (Attika, Aegina, Kleinasien, Korinth etc.)

3) Die westlichen Alphabete (Thessalien, Lakonien, Böotien,
Arkadien, Euböa etc.)


Die regionale Verbreitung der drei Gruppen der früh-griechischen Schrift.
Grafik: © B. Schnelle

In erstere Gruppe gehört die vierzeilige Felsinschrift aus Thera,
die etwa im 7. Jahrhundert vdZ entstanden ist. Der Text besteht
aus fünf Namen und ist furchenwendig (bustrophedon) geschrieben,
d. h. erste und vierte Zeile sind linksläufig,
zweite und dritte Zeile rechtsläufig zu lesen.


Felsinschrift in archaischem Griechisch (7. Jahrhundert vdZ)

Eines der ältesten uns erhalten gebliebenen griechischen
Schriftdenkmäler ist die sog. Dipylonkanne aus dem Athen
des 8. Jahrhunderts vdZ, deren Inschrift in die zweite Gruppe einzuordnen
ist. Die linksläufige Beschriftung lautet in deutscher Übersetzung:
»Wer nun von den Tänzern am anmutigsten tanzt, der soll dies erhalten.«
Offensichtlich war die Dipylonkanne als Siegespreis gedacht.

Seit etwa 500 vdZ hat sich die rechtsläufige Schreibrichtung
in ganz Griechenland durchgesetzt, die unterschiedlichen regionalen
Alphabete wichen aber erst rund hundert Jahre später dem
klassischen griechischen Alphabet.

Dieses war eine Linearkomposition auf fast quadratischer
Grundfläche. Durch die geometrischen Grundformen Kreis, Dreieck
und Rechteck lassen sich die verschieden Buchstaben sehr gut
voneinander unterscheiden. Die Griechische Capitalis ist eine
Monumentalschrift, deren strenger Schnurcharakter sofort ins Auge
fällt. Erst später, parallel zur römischen Capitalis monumentalis,
entwickelte sie Serifen; ein sehr schönes Beispiel liefert uns ein in einer
Kölner Kirche gefundene Grabstein aus dem 1. Jahrhundert.

Der Verwendung von Papyrus oder Pergament als Schriftträger
schulden wir die Entwicklung der Griechischen Majuskel.
Sie wurde mit der Rohrfeder, aber auch mit dem Pinsel geschrieben,
wirkt dadurch flüssiger und durch den Verzicht auf den strengen
geometrischen Aufbau auch sehr viel lebendiger als die in Stein
gehauenen Schriftzeichen der Capitalis.

Im 3. Jahrhundert vdZ entwickelte sich aus der Majuskel die
Griechische Unziale, eine mit der Rohrfeder geschriebene
Großbuchstabenschrift, parallel hierzu taucht die griechische
Kursive auf, eine flüchtig mit dem Metallgriffel in Wachs geritzte
Gebrauchsschrift. Sie ist der Vorläufer der Griechischen Minuskel,
einer Kleinbuchstabenschrift mit meist stark betonten
Ober- und Unterlängen. Diese griechische Minuskel kommt den heute
verwendeten griechischen Kleinbuchstaben bereits sehr nahe.

Für fünf Schriftgruppen ist die griechische Schrift
als Ursprung anzusehen:


1. für die kleinasiatische Gruppe der phrygischen, der lykischen,
der lydischen und der karischen Schrift. Die genannten Schriften
stehen dem griechischen Vorbild so nahe, daß sie als direkte
Ableger bezeichnet werden können.

2. für die slawischen Schriften (glagolitische und kyrillische Schrift).

3. für die koptische Schrift.

4. für die armenische und georgische Schrift.

5. für die italische Gruppe (etruskische Schrift und deren Ableger
sowie die lateinische Schrift).



Die Ausbreitung der Schrift in Vorderasien, Nordafrika
und Europa bis zum Mittelalter (vereinfachte Darstellung)
.
Grafik: © B. Schnelle

Fußnoten

(3) Vergleiche hierzu Kapr, Albert: Schriftkunst.
Anatomie und Schönheit der lateinischen Buchstaben.
München, NewYork, London, Paris 1983(4) ebd.

(4a) Doch nicht nur für die Entwicklung der griechischen Schrift
war das phönikische Konsonantenalphabet von größter Bedeutung; ebenso
darf es als Ausgangspunkt für die altaramäische Schrift (ab ca. 900
vdZ) angesehen werden. Weiter wurden durch die phönikische Schrift
die nabatäische, hebräische, sinaitische und altarabische
Schrift, die etwa in dem Zeitraum von 100 vdZ bis 600 ndZ entstanden,
maßgeblich beeinflußt. Ferner gilt es heute als sicher, daß die
numidische Schrift Nordafrikas ebenfalls ein Ableger der phönikischen
Schrift ist und die numidische wiederum Pate stand, bei der
Entstehung des Tifinagh-Alphabets der Berber in der Zentralsahara.
Als sicher gilt auch der direkte Einfluß der altaramäischen Schrift
auf die Schriften des indischen Subkontinents (die Brahmi-Schrift
entwickelte sich ab etwa 500 vdZ). In der Spätantike war das Aramäische
die Sprache der östlichen Christenheit und gelangte als
Verkehrssprache bis nach China, wo die Mongolen ihre
Schrift ebenfalls aus der aramäischen entwickelten.

»Zweitausend Jahre Schriftkultur gehen
im Augenblick als Ballast über Bord.«
Hermann Zapf (zitiert nach der FAZ vom 08. 11. 2008)


Die Schrift der Etrusker

Zu Beginn des 1. Jahrtausends vdZ waren die Etrusker, von den
Griechen Tyrrhenoi genannt, die Herrscher im nördlichen Italien.
Schenkt man dem griechischen Historiker Herodot Glauben, dann
stammen sie ursprünglich aus dem kleinasiatischen Lydien. Die
etruskische Sprache gibt den Wissenschaftlern noch heute
große Rätsel auf, während die griechische Abstammung ihrer Schrift
offensichtlich ist.

Selbst der Fund zweisprachiger Goldtäfelchen (phönikisch-etruskisch)
in Pyrgi, westlich von Rom, vermochte das Rätsel der etruskischen
Sprache nicht zu lösen.

Halten wir fest: Die Etrusker übernahmen das griechische Alphabet
in veränderter Form, über die Etrusker schließlich gelangte es
zu den altitalienischen Volksgruppen und entwickelte sich dann zum
lateinischen Alphabet.(4b)

Nach der Unterwerfung der Etrusker durch die Römer erlosch etwa zum
Beginn unserer Zeitrechnung sowohl die etruskische Schrift,
wie auch die Sprache. Das etruskische Alphabet wurde von einigen
altitalienischen Volksgruppen übernommen. Das umbrische
und oskische Alphabet entstanden im 5. oder 6. Jahrhundert vdZ.

 
Alpine Schriften

Die interessantesten Varianten des etruskischen Alphabets
entstanden allerdings im letzten Jahrhundert vdZ im Alpenraum;
wir bezeichnen sie heute als alpine Schriften.

Die Forschung billigte ihnen lange Zeit nur die Rolle als ein
toter Zweig der Schriftgeschichte zu. Diese These gilt heute als falsch,
es darf sogar angenommen werden, daß die alpinen Schriften
bei der Entstehung der Germanischen Runen eine Schlüsselrolle
gespielt haben. Auch hierüber streiten allerdings die Gelehrten.


Alpine Schriftzeichen aus dem Raum Bozen

Die alpinen Schriften werden in drei Hauptgruppen gegliedert: die
rätische Schrift aus dem Raum Bozen/Trient, die lepontische und
venetische Schrift. Die rätische Sprache war wahrscheinlich
eine Variante der etruskischen, allerdings mit keltischem Einschlag.
Noch heute wird in einigen Tälern der Südtiroler Dolomiten
das Ladinisch, eine rätoromanische Sprache gesprochen; in der Schweiz
ist das Rätoromanisch als vierte Amtssprache anerkannt.
Die cisalpinen Gallier verwendeten die lepontische Schrift.
Interessant in diesem Zusammenhang: die transalpinen Gallier im
heutigen Frankreich übernahmen das griechische Alphabet in fast
unveränderter Form. Erst ihre Unterwerfung durch Caesar ermöglichte
auch hier die Einführung der lateinischen Schriftzeichen.
Die Sprache der Veneter schließlich war eng dem Illyrischen verwandt.



Die Runen

Da im Absatz über die Alpinen Schriften die Runen
erwähnt wurden, wollen wir kurz auf sie zu sprechen kommen
und folgen dabei weiterhin der These, daß die Alpinen Schriften
ihre Entstehung maßgeblich beeinflußt haben. Runenfunde
wurden hauptsächlich in Südskandinavien, Jütland,
auf den Britischen Inseln und in Deutschland gemacht.
Aber auch in Italien, Rumänien, Rußland, Ungarn,
Griechenland und sogar auf Grönland wurde man fündig.
Die älteste bekannte Runenalphabet stammt wohl
aus dem 2. Jahrhundert und wird nach seinen ersten
sechs Buchstaben Futhark genannt (th = ein Zeichen).

Im angelsächsischen England wurden Runen und lateinische Schrift
häufig nebeneinander benutzt. Bekanntestes Beispiel ist ein Ring
aus Lancashire (ca. 9. Jahrhundert). Spätestens nach der
normannischen Eroberung Englands im 11. Jahrhundert setzte
sich dann in England die lateinische Schrift durch, die
Runen verschwanden. Die Verwendung der Runen kam
im heutigen Deutschland bereits um etwa 700 außer Gebrauch,
lediglich in Skandinavien wurden sie auch noch nach dem
11. Jahrhundert genutzt.


Es soll hier nicht verschwiegen werden, daß die Ansichten der
Wissenschaftler zum Ursprung der Runen (vorsichtig ausgedrückt)
sehr vielfältig sind. Der Philologe Dr. Kay Busch kommentierte dies
augenzwinkernd mit dem Satz: »Die Anzahl der Lehrmeinungen über
den Ursprung der Runen nähert sich der Anzahl der Lehrstuhlinhaber, 
die sich nachhaltig damit beschäftigten.«



Einige Runenzeichen

Interessant in diesem Zusammenhang ist, daß im heutigen Kirgisien
(Zentralasien) etwa vom 7. bis 9. Jahrhundert eine Runenschrift
benutzt wurde, die in Steindenkmälern überliefert ist (siehe unter-
stehende Abbildung). Das Eindringen mongolischer
Eroberer führte schließlich zum Verlust dieser Schrift.



Vorislamische Runen aus Zentralasien


Die Westgotische Schrift

Ebenfalls kurz erwähnt werden soll hier das Westgotische Alphabet. Die
Westgoten waren die ersten Germanen, die die christliche Religion annahmen.
Ihrem Bischof Ulfilas wird die Übersetzung der Bibel (oder zumindest
von Teilen der Bibel) in die westgotische Sprache zugeschrieben. Zu diesem
Zweck entwickelte er eine neue Schrift.

Dieses Alphabet ist dem griechischen entlehnt, enthält aber auch Zeichen aus
dem lateinischen und dem Runen-Alphabet. Die Westgotische Schrift ist nicht
mit der späteren sogenannten gotischen Schrift zu verwechseln und hat
interessanterweise keinerlei Bedeutung für die weitere Schriftentwicklung
gehabt.


Fußnote
(4b) Eine lokale, mykenische Variante der Linearschrift, die sog. Liparische
Schrift, wurde auf den äolischen Inseln (vor Sizilien) nachgewiesen
und wird von den Wissenschaftlern in das 2. Jahrtausend vdZ eingeordnet.


Capitalis monumentalis

Im 8. Jahrhundert vdZ entstand der römische Stadtstaat. Er übernahm
im Wesentlichen die Kultur der Etrusker. Leider sind aus der Frühzeit
Roms,
der sog. Königszeit, keine Schriftdenkmäler erhalten. Die Entstehung
der lateinischen Schrift fällt etwa in den Zeitraum der römischen Republik,
die ab dem 6. Jahrhundert vdZ begann, ganz Italien militärisch zu
unterwerfen.

Die älteste überlieferte lateinische Inschrift auf der sog. Maniosspange
ist noch linksläufig, aber bereits zu dieser Zeit treten bustrophedone
Inschriften auf. Der Richtungswechsel zur Rechtsläufigkeit dürfte etwa
im 3. Jahrhundert vdZ statgefunden haben. Das erste lateinische Alphabet
bestand aus 21 Zeichen,  überflüssig gewordene etruskische Zeichen
verschwanden, oder wurden als Zahlzeichen verwendet.

Die Entstehung der klassischen römischen Kapitalschrift, der
Capitalis monumentalis, (etwa ab dem 1. Jahrhundert vdZ)
muß im Zusammenhang mit der Architektur gesehen werden.
Die Triumphbögen, Prachtbauten und Denkmäler der Römer wurden
mit diesen ausgewogenen Großbuchstaben (Versalien) versehen.
Vermutlich mit einem Flachpinsel wurden zwischen einer oberen
und unteren Begrenzungslinie die Zeichen auf dem Stein vorgeschrieben.
Dann wurden die durch den Flachpinsel entstandenen breiten und
schmalen Striche an- und abschwellender Kurven mit einem Meißel
nachgeschlagen. Um ein Ausbrechen des Steins am Buchstabenende zu
verhindern, ließ man die Enden zu beiden Seiten hin ausschwingen,
die Serifen waren entstanden. (Es soll aber hier nicht verschwiegen
werden, daß es auch andere Theorien zur Entstehung der Serifen gibt!)



Capitalis monumentalis (Trajans-Säule in Rom)

Die Capitalis monumentalis besticht auch heute, nach über 2000 Jahren,
durch ihre erstaunliche Vollkommenheit. Sie ist der Ursprung unserer
heutigen Groß- wie auch der Kleinbuchstaben.

Auch als reine, mit dem Flachpinsel geschriebene, Wandschrift
(etwa für Bekanntmachungen) wurde die Capitalis monumentalis
angewandt. Auffällig ist dabei ihr schmallaufender Duktus.



Die Römische Stempelschrift

Leider viel zu wenig Beachtung in der Fachliteratur findet eine
ganz besondere Schriftform der Römer: die Stempelschrift.
Sie wurde für Ziegel-, Brot- und Brandstempel verwendet und
besteht meist aus linearen Capitalisformen mit gleichstarken Balken.
Meist fehlen die Serifen. Diese Schriften dürften als Vorbild für
die serifenlosen florentinischen Inschriften an den Kirchen Sta. Maria
Novella und Sta. Croce gedient haben, die in der Frührenaissance
entstanden sind(5). Nach 1800 standen diese Formen wahrscheinlich
auch Pate bei der Entwicklung der Egyptienne und der Grotesk-Schriften.


Römische Stempelschrift. Ziegel der Villa Hadrian, ca. 130


Römische Kursiv

Für den täglichen Gebrauch schrieben die Römer mit dem Stilus
(Stift aus Metall oder Holz) oder dem Calamus, einem Rohrgriffel.
Mit ersterem ritzte man die Schriftzeichen in eine Wachstafel, mit
dem Calamus hingegen schrieb man mit Tusche entweder auf
Papyrus und Pergament oder auch auf Tonflächen und Leinwand.
Beide Schreibmittel beeinflußten natürlich das Aussehen der Schrift.
Dem Schreiber kam es vor allem darauf an, seine Gedanken möglichst
rasch festzuhalten.

Das Ergebnis war eine Abschleifung der klassischen Buchstabenformen.
Die der Nachwelt erhalten gebliebenen Zeugnisse zeigen eine flüchtig und
schräg geschriebene Verkehrs- und Handschrift, die, obwohl sie noch eine
reine Versalschrift war, bereits Ansätze zu Ober- und Unterlängen zeigte.
Die Wissenschaft unterscheidet heute zwischen der älteren römischen
Kursiv (1. bis 3. Jahrhundert) und der jüngeren römischen Kursiv
(3. bis 7. Jahrhundert), bei der bereits erste Minuskelformen (Kleinbuch-
staben) auftauchen.

Die zeitgenössischen Typografen Adrian Frutiger und Manfred Klein
haben übrigens mit ihren Schriftentwürfen Herculanum (1990) bzw. Pompeji
(1991) den Geist der römischen Versalkursiven neu belebt und nutzbar
gemacht.



Die Buchschriften

Als Capitalis quadrata und Capitalis rustica werden die Buchschriften der
römischen Kaiserzeit bezeichnet. Beide gehen auf die klassische römische
Kapitalschrift zurück. Bei der Capitalis quadrata fällt der Kontrast zwischen
fetten und feinen Strichen, bedingt durch die Federdrehung des Schreibers,
sofort ins Auge.



Ein wesentliches Merkmal der schmallaufenden Capitalis rustica
sind ihre feinen senkrechten und fetteren waagerechten Striche.



Auch lange nach dem Niedergang des römischen Imperiums wurde
die Rustica noch als Auszeichnungsschrift verwendet.

Beide Schriften wurden auch in Stein gehauen, gelegentlich
auf Grabsteine, und als Wandschrift mit dem Pinsel aufgetragen.
So fand man z.B. in Pompeji mit roter Farbe aufgetragene
Reklamebeschriftungen.

Der unaufhaltsame Zerfall des römischen Reiches brachte auch
einen Verfall der Schriftkultur mit sich. Kaiser Konstantin
war es zwischenzeitlich gelungen, das Imperium zu stabilisieren,

vor allem, weil er das Christentum zur Staatsreligion erhob,
doch das Machtzentrum hatte sich mittlerweile nach Osten verschoben.
Konstantinopel (Byzanz) trat an die Stelle Roms.

Während in der Glanzzeit des Imperiums nicht wenige einfache Soldaten
schreib- und lesekundig waren, konnten nunmehr nur relativ wenige Angehörige der Oberschicht und die amtlichen Schreiber lesen und schreiben.

Albert Kapr hat darauf hingewiesen, daß sich durch das Christentum
auch der Zweck des Schreibens wandelte(6). Inschriften auf Triumphbögen
und Tempeln wurden nicht mehr gebraucht, die Kirchenväter lehnten zudem jene Schriften ab, mit denen das »heidnische« Rom sich und seine Macht
gefeiert hatte. An ihre Stelle trat nun die sog. Unzialschrift.



Römische Unziale und Halbunziale

Die erste und bedeutendste frühchristliche Schrift, die Unziale,
entwickelte sich aus den teilweise sehr rund geschriebenen Formen
der Capitalis rustica wahrscheinlich bereits im 2. Jahrhundert.
Obwohl sie eine Versalschrift ist, zeigen sich deutliche Frühformen
der Kleinbuchstaben, so z.B. bei a und e.
Zu erkennen sind auch kleine Ober- und Unterlängen.
Die Unziale wirkt dynamisch und besticht
durch eine sehr gute Lesbarkeit.



Einhergehend mit dem Siegeszug der Unziale in den Scriptorien
des Abendlandes ist der Niedergang des Römischen Reiches.
In der Zeit der Völkerwanderung, als das Lesen und Schreiben
das Privileg einer kleinen Klasse, der Berufsschreiber und Teilen
des Klerus war, beginnt auch das Ausschmücken und Hervorheben
einzelner Buchstaben. Die Schrift ist nun nicht mehr ausschließlich Mittel
zum Zweck der Informationsübermittlung, sondern dient auch
als Gestaltungsmittel.


Halbunziale (ca. 6. Jahrhundert)

Etwa ab dem 5. Jahrhundert datiert das Auftauchen der Römischen
Halbunziale. Hier vollzieht sich sehr deutlich der Übergang zur
Kleinbuchstabenschrift. Die Ober- und Unterlängen sind weitgehend
ausgebildet und die Formen der Minuskeln der späteren Antiqua
sind klar zur erkennen.

Fußnoten

(5) Während seines Italienaufenthaltes 1950 holte sich der
Typograf Hermann Zapf hier Anregungen für eine
seiner bekanntesten Schriftschöpfungen: die Optima.
Siehe hierzu Zapf, Hermann: Über Alphabete. Frankfurt am Main, 1960


(6) Kapr, Albert: Schriftkunst. Anatomie und Schönheit
der lateinischen Buchstaben. München, NewYork, London, Paris 1983




Die irreführende Bezeichnung
»Nationalschriften«


Durch den Verfall des Römerreiches gewinnen die Regionen eine
größere Selbstständigkeit. Ein Vorgang, der nicht ohne Auswirkung
auf die Entwicklung der Schrift bleibt. Es entstehen Schriftformen,
die in der Literatur meist als »Nationalschriften« bezeichnet werden.
Eine Bezeichnung, die absolut irreführend ist. Der Göttinger Wissen-
schaftler Dr. Karl Brandi machte bereits 1911 die Begründer der
paläographischen Wissenschaft im 17. und 18. Jahrhundert für diese
falsche Benennung verantwortlich. Falsch in zweifacher Hinsicht, da

a) in diesen unsicheren Zeiten vom 4. bis etwa zum 7. Jahrhundert
sich Nationen im heutigen Sinne noch nicht gebildet hatten und

b) die schreibenden Mönche häufig wanderten und so die
unterschiedlichen Formen in ganz Europa bekannt
und vor allem verbreitet waren.

So gründeten irische Mönche Klöster und Scriptorien in Frankreich,
Deutschland und Italien. Sie brachten ihre Form der Schrift in weit
entlegene Gebiete und mischten sie mit den dortigen Schreibstilen.
Eine saubere Unterscheidung in verschiedene Nationalschriften ist
daher unmöglich! Matthias Mieses schrieb hierzu 1919:
»Aus nationalsprachlichen Gründen allein entstehen keine Schriftvarietäten.
Die nationalen Gegensätze des neueren Europa, die doch beispiellos
größer sind, als jene, die zwischen den germanischen Völkern
bestanden, die im Auflösungszustand unter homogenen Romanen
sich befanden, erzeugte nirgends nur einen Keim von besonderen National-
schriften.
«
(7 und 8a)

Besser, man bezeichnet diese Schriften als Regionalschriften;
der gelegentlich benutzte Terminus »Vorkarolingische Schriften« ist
wohl ein wenig zu verschwommen.


Diese Regionalschriften entwickelten sich aus der Römischen Halb-
unziale. Die Irisch-Angelsächsische Halbunziale weist wie die
römische Variante durchgebildete Ober- und Unterlängen aus.
Als Versalien werden die Unzialbuchstaben verwendet. Auffallend
sind die dreieckigen Köpfe bei den Mittel- und Oberlängen, daher
kann man sie durchaus als Vorläuferin der gebrochenen Schriften
bezeichnen.

Eine weitere nennenswerte Regionalschrift ist die Kuriale, die
häufig auf päpstlichen Urkunden verwendet wurde und
durch die Vielzahl von Ligaturen und verfremdeten Buchstaben
den Eindruck der Unleserlichkeit vermittelt. In Norditalien
bildet sich die Langobardische Minuskel heraus, auf fränkischem
Boden die Merowingische Buchschrift. Ab dem 9. Jahrhundert
verkommt die Merowingische Gitter- oder Urkundenschrift zu
dekorativen Spielereien, die eigentlichen Buchstaben sind kaum
noch zu erkennen.



Eine späte Regionalschrift, die noch lange nach der Schriftreform
Karls des Großen verwendet wurde, ist die süditalienische
Beneventana, auch Monte-Cassino-Schrift (8) genannt
(ca. 9 bis 13. Jahrhundert). Sie überrascht den heutigen Betrachter
durch ihre regelmäßigen und ausgeglichenen Formen.
Allerdings wurde die Beneventana mit der zunehmenden Zahl
von Ligaturen bzw. Kürzungen im Laufe der Zeit derart unleserlich,
daß Kaiser Friedrich II. schließlich ihren Gebrauch untersagte
(Edikte von 1220 und 1231).



Die Karolingische Minuskel

Mit der Karolingischen Minuskel, der hervorragenden Weiterent-
wicklung der Halbunziale, ist die Entwicklungslinie von der
Capitalis monumentalis zur Minuskelschrift endgültig abgeschlossen.
Karl der Große, im Jahre 800 zum Kaiser ausgerufen, forderte
von seinen schreibkundigen Untertanen, die heiligen Texte mit
größter Sorgfalt zu schreiben. (8a)

Zahlreiche Gelehrte aus England, Spanien und Italien wurden
in das Frankenreich geholt. Alkuin von York gründete in Aachen
die kaiserliche Hofschule und leitete später als Abt das Kloster
St. Martin bei Tours. Im Scriptorium dieses Klosters ist wahrscheinlich
auch die Karolingische Minuskel entstanden. Sie unterscheidet sich
von den Schriften vorhergehender Epochen durch ihre ausgezeichnete
Lesbarkeit. Als Großbuchstaben werden die Zeichen der Capitalis
monumentalis verwendet (Die Halbunziale war im Laufe des
8. Jahrhundert sehr stark stilisiert worden; Abkürzungen und Ligaturen
hatten auch hier stark zugenommen, so daß die Entschlüsselung
der Texte immer schwieriger wurde).


Karls Reformen sowohl im staatlichen wie im kulturellen
Bereich waren für die weitere Schriftentwicklung von
größter Bedeutung. Durch die Wirren der Völkerwanderung
und den Zerfall der alten Gesellschaftsordnung waren
die geistigen Überlieferungen der Antike in Vergessenheit
geraten, nun erfolgte wieder eine Hinwendung zur Literatur
der Antike.

Die altlateinischen Texte sind uns zum größten Teil aus
Abschriften karolingischer Scriptorien überliefert
worden. Es ist durchaus möglich, daß die Humanisten
der Renaissance glaubten, in diesen karolingischen
Abschriften die originale Schrift der Antike entdeckt
zu haben; hieraus würde dann der noch heute noch
gebräuchliche Name Antiqua (=ältere Schrift) resultieren.

Der Fachbuchautor Max Bollwage widerspricht dieser These in
seinem 2010 veröffentlichtem Werk »Buchstabengeschichte(n)«
allerdings vehement. Er ist der Auffassung, daß die Humanisten
sehr wohl wußten, daß die Karolingische Minuskel nicht die Schrift
der antiken Autoren gewesen ist (Seite 129 ff.). Einer schlüssigen
Beweis
führung für diese These bleibt Bollwage indes schuldig.



Die weitere Entwicklung
bis zum Beginn des 15. Jahrhunderts


Die Gotik, eine der unabhängigsten Stilepochen in der europäischen
Kunstgeschichte seit der Antike, ist in Frankreich entstanden. Die
Gotik dauerte von etwa 1130 bis zum Anfang des 16. Jahrhunderts an;
die zeitliche Dauer der Gotik jedoch war in den einzelnen Ländern
verschieden. Ihre stärkste Ausprägung fand sie in Architektur und
Plastik, doch wirkte sie auch in Malerei und Kunsthandwerk. Der
(abwertende) Begriff der Gotik (Goten = Barbaren) stammt aus der
italienischen Renaissance und geht auf den italienischen Kunst-
schriftsteller, Maler und Baumeister Giorgio Vasari (1511-1574)
zurück, der damit die damals herrschende Auffassung, dem antiken
»Goldenen Zeitalter« sei ein barbarisches Mittelalter, verkörpert
durch die Goten, gefolgt, ausdrücken wollte. Später wurde die
Bezeichnung auf jene Stilepoche bezogen, die der Romanik folgte.
Genauer wird zwischen Frühgotik (1130-1300), Hochgotik (1300-1420)
und Spätgotik (1420-1500) unterschieden.

Die Spaltung in Gebrochene Schriften bzw. runde (Antiqua-)
Schriften vollzieht sich etwa zum Ende des 11. Jahrhunderts bzw.
zu Beginn des 12. Jahrhunderts, ausgehend von Nordfrankreich. (9)



In Italien und der iberischen Halbinsel hat die Gotische Schrift
nicht Fuß fassen können, hier vollzieht sich die Wandlung zu den
halbgotischen Rotunda-Formen. Sie verdrängen die Textura
teilweise auch jenseits der Alpen.



Anfang des 15. Jahrhunderts griffen die Humanisten wieder auf die
älteren Schriftformen zurück und belebten die Karolingische Minuskel
als Humanistische Minuskel wieder neu. Die Kleinbuchstaben der
Karolingischen Minuskel und die Großbuchstaben der Capitalis
monumentalis bildeten von nun an das (auch heute noch gültige)
Lateinische Alphabet. Zur Humanistischen Minuskel schufen die
Humanisten auch eine kursive Variante.



Die Humanistische Minuskel ist die Grundlage für die Antiqua-Typen
des Buchdrucks (=Venezianische Renaissance-Antiqua).

Kurrent und Sütterlin

Als Schreibschrift setzte sich außerhalb Deutschlands die
Humanistische Kursive als lateinische Schreibschrift durch,
in Deutschland die auf der gotischen Kursive beruhende deutsche
Kurrentschrift.


Aus heutiger Sicht kaum noch lesbar, für die Generationen unserer
Großeltern bzw. Urgroßeltern noch alltäglich: Die deutsche Kurrentschrift



Deutsche Kurrentschrift: Musterblatt von 1866


Die Sütterlinschrift, meist auch einfach Sütterlin genannt,
irreführend auch als Deutsche Schrift bezeichnet, ist eine von
Ludwig Sütterlin entwickelte Schreibschrift als vereinfachte
Ausgangsschrift für Grundschüler.

Sie wurde ab 1915 in Preußen eingeführt und begann in den 1920er
Jahren die Deutsche Kurrentschrift (»Spitzschrift«) abzulösen und
wurde 1935 Teil des offiziellen Lehrplans. Die Sütterlinschrift hat
weniger Schnörkel und ist deshalb einfacher zu schreiben als die
Kurrentschrift.



Sütterlin-Schrift


Sütterlin-Beschriftung in Wismar


Sütterlin-Musterblatt von 1926


1941 wurde allerdings auch sie von den Lehrplänen verbannt.
Nach dem 2. Weltkrieg wurde sie teilweise bis in die 70er Jahre
des 20. Jahrhunderts in den Schulen gelehrt.


»Braunschweig« in Sütterlin-Schrift

Literatur zu Sütterlin:
Grözinger, Klaus: Sütterlins Schrift. Die Schriftentwicklung vor,
während und nach Sütterlin. Aus: Jahrbuch der linksrheinischen
Ortschaften der Stadt Duisburg. Duisburg, 2003

Sütterlin, Ludwig: Neuer Leitfaden für den Schreibunterricht.
Berlin, 1926


Fußnoten

(7) Vergleiche hierzu: Brandi, Karl: Unsere Schrift. Göttingen 1911.
Degering, Hermann: Die Schrift. Tübingen 1964.
Kapr, Albert: Schriftkunst. München 1983
Ärgerlich wird es, wenn selbst in neueren Fachbüchern wieder die
Bezeichnung »Nationalschriften« auftaucht, so z.B. im Handbuch
Visuelle Mediengestaltung, Berlin 2004 (Seite 149)

(8) In den Klöstern Monte Cassino und Benevento unterhielten die
Benediktinermönche sogenannte Schreiberschulen.
Siehe hierzu auch: Buchholz, Erich: Schriftgeschichte als Kulturgeschichte.
Bellnhausen, 1965

(8a) »In Süditalien erscheint die Karolingerschrift in den Jahren 1062 bis 1067.

Ihre vollständige Durchsetzung nahm beinahe zwei Jahrhunderte in Anspruch.
Aus Deutschland, wo noch im 11. Jahrhundert in Fulda die irische Schrift ganz
üblich war, kam sie sehr rasch außer Gebrauch, daß niemand sie mehr
im 12. Jahrhundert lesen konnte. Spuren des ehemaligen iroschottischen
Schriftgebrauchs erhielten sich in Deutschland in der karolingischen Schrift
hinsichtlich der Orthographie und auch der Rezeption mancher besonderer
Lettern lange Zeit. Der Gebrauch des ›k‹ im Deutschen, das im westfränkischen
Latein nicht üblich war, kam von jenseits des Kanals.« (Matthias Mieses: Die
Gesetze der Schriftgeschichte. Wien und Leipzig, 1919)

(9) Siehe hierzu: Buchholz, Erich: Schriftgeschichte als Kulturgeschichte.
Bellnhausen, 1965



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Bei der Erstellung und Pflege dieses nicht-kommerziellen Internetauftritts
wurde vom Autor folgende Literatur zu Rate gezogen:


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Wiege der Zivilisation

03.09.2011 | 18:02 |  von Martin Kugler (Die Presse)

Ein neues Buch rückt Alteuropa als eine der Wiegen der
Zivilisation ins Rampenlicht. Das ist ein spannendes
Gedankengebäude – bewiesen ist aber noch lange nichts.

Die Erfindung der Landwirtschaft und ihre Ausbreitung
("Neolithisierung") zählt zu den spannendsten Kapiteln
der Geschichtswissenschaften. Vor rund 10.000 Jahren
wurden manche Menschen sesshaft, sie begannen Pflanzen
anzubauen und Nutztiere zu züchten. Das war ein
Einschnitt in die Menschheitsgeschichte, der
Startschuss für "Zivilisation" und "Hochkultur".
Begonnen hat die Entwicklung im Nahen Osten, dann
gelangten die Neuerungen nach Europa. Und glaubt man
dem deutschen Sprachforscher Harald Haarmann, dann
entwickelte sich ausgerechnet hier, in "Alteuropa" eine
der ersten Hochkulturen der Welt. Unter "Alteuropa"
oder "Donauzivilisation" fasst der Forscher – so wie
schon vor ihm die große, aber nicht unumstrittene
Archäologin Marija Gimbutas– verschiedene
osteuropäische Kulturen zusammen, etwa jene von
Karanovo, Vinca, Tisza oder Lengyel. Letztere umfasste
auch große Teile (Ost-)Österreichs.

Wie Haarmann in seinem neuen Buch "Das Rätsel der
Donauzivilisation" (C. H. Beck) ausführt, gab es in
Südosteuropa die damals größten Städte, große
Einfamilienhäuser oder die ersten zweigeschoßigen
Reihenhäuser der Welt. Und lange bevor Mesopotamien
damit punkten konnte, habe es in Alteuropa bereits
Brennöfen, zylindrische Rollsiegel oder ein
Schriftsystem gegeben. Viele Errungenschaften hätten
die Zeiten überdauert, so sei etwa das später
klassische griechische Versmaß, der Hexameter,
alteuropäischen Ursprungs.

Die Indizienkette, die Haarmann knüpft, ist relativ
dicht, sein Gedankengebäude ist in sich stimmig.
Dennoch wird es von den Fachkollegen nicht anerkannt
bzw. ignoriert. Zwei Punkte sind dabei besonders
kritisch: Haarmann geht davon aus, dass die
Einwanderung der Ackerbauern über eine Landverbindung
zwischen der Türkei und Europa erfolgte – erst später
brach das Mittelmeer in das Schwarze Meer ein, der
Bosporus bildete sich. Erst die Tatsache, dass die
Menschen nun abgeschnitten waren (und starken
Klimaänderungen unterworfen wurden), war der Auslöser
für eine rasante Entwicklung, die jene der Urheimat in
Anatolien überflügelte. Bloß: Diese Sintflutthese
wackelt derzeit gewaltig, immer mehr Wissenschaftler
halten sie (zumindest zu diesem Zeitpunkt) für falsch.

Das zweite Problem ist die angebliche Schrift der
Alteuropäer: Die meisten Forscher halten die in Keramik
oder Stein geritzten Zeichen bestenfalls für eine
Vorläuferschrift, keinesfalls aber für eine ausgefeilte
Schrift in unserem Sinn. Damit fiele die These, dass
die Alteuropäer Mitschöpfer der abendländischen Kultur
seien, in sich zusammen.