Stowasser (ploetzlich gestorben!) seine letzte Rede:
http://www.freie-radios.net/mp3/20091028-diagonosek-30451.mp3 TEIL2:
http://www.freie-radios.net/mp3/20091028-diagonosek-30453.mp3Ich verstehe Anarchie - im Sinne von Immanuel Kant oder von Elisée Reclus - als den höchsten Ausdruck der Ordnung. Das klingt paradox, aber nicht, wenn man es philosophisch betrachtet, weil Anarchie eine Ordnung ist, die auf Freiwilligkeit beruht, statt auf Zwang. Das "Terrorismus"-Etikett haben ja jetzt andere, und wie ich meine, mit Recht. Was die Anarchie und die Konnotation mit der Unordnung angeht, das ist eines der größten Missverständnisse der Geschichte, und zwar schon seit Aristoteles. Der hat Anarchisten als gefährliche Bestien bezeichnet. Dem liegt der Denkfehler zugrunde, dass Ordnung nur durch Herrschaft und Unterdrückung entstehen kann.
Anarchismus ist eine höchst ordentliche Geschichte. Es gibt sogar anarchistische Organisationstheorien. Aber das, wie Du schon sagtest, widerspricht dem gängigen Klischee.
GWR: Wie bist Du zum Anarchismus gekommen?
Horst Stowasser: Durch eine respektlose Gegenüberstellung. Mir sagte nämlich jemand: "Du bist Anarchist!"
Ich war entsetzt; ich war damals 16 Jahre alt, lebte in Argentinien. Das war der Bibliothekar unserer Schule, ein älterer Herr, mit dem habe ich öfter abends philosophiert.
Ich bewegte mich damals, in den 60ern, in Lateinamerika als Linker unter lauter Parteien, Kommunisten, Trotzkisten Spaltungen,... Ich fühlte mich da nicht wohl.
Und er sagte mir einfach: "Du bist Anarchist", und ich antwortete: "Um Gottes Willen, nein!"
Da fragte er mich, ob ich wisse, was das sei, und gab mir eine kleine Broschüre. Die habe ich gelesen. Dann hat er mich bekannt gemacht mit älteren Herrschaften, die waren steinalt für mich, zwischen 60 und 70, die aus der alten anarchistischen Bewegung Argentiniens kamen.
Wobei viele nicht wissen, dass Anarchismus vielleicht auch eine Bewegung ist, die schon mal Massencharakter hatte. In Argentinien gab es Zeiten, da war jeder zehnte Erwachsene Mitglied einer anarchistischen Organisation, das war in den 20er Jahren. So etwas können wir uns hier gar nicht vorstellen, dass der Anarchismus mal eine ganz normale, populäre Bewegung war.
GWR: Kannst Du deine Lebensphilosophie kurz darlegen?
Horst Stowasser: Philosophie ist mir etwas zu hochtrabend, vielleicht habe ich eine Maxime. Da halte ich es mit dem alten Epikur, der lebte im dritten vorchristlichen Jahrhundert: das Leben genießen, aber nicht auf Kosten anderer, sondern mit anderen. Wenn man sagt, ich kann meine Freiheit nur genießen, wenn die anderen Menschen um mich herum so frei sind wie ich, dann ist dies nicht nur legitim, das ist ein viel ehrlicherer Ansatz, als wenn man sagt: "Ich will anderen Leuten Gutes tun."
Wenn ich meinen eigenen "Egoismus" verknüpfe mit dem Wohlergehen der anderen Menschen, dann ist das eine aufrichtige Geschichte.
Vor 20 Jahren hast Du "Das Projekt A" geschrieben, eigentlich auch ein utopisches Buch, das ziemlich "konspirativ" verbreitet wurde. Was ist "Das Projekt A"?
Das ist ein Versuch, den Anarchismus aus der reinen Denkschule, aus dem politischen Ghetto herauszuholen und im Alltag zu verankern, als eine normale Handlungsmaxime von Menschen.
Im Idealfall wäre das so gewesen, dass Leute in so ein Projekt gekommen wären und gesagt hätten: "Das finde ich toll, was ihr macht. Wenn das Anarchie ist, habe ich nichts dagegen."
Es ging um Modelle, wie wir in unserer Gesellschaft, wo wir eben nicht Mainstream sind, Zugänge schaffen für normale Menschen, die sich nicht für Politik interessieren. Und zwar gleichberechtigt, über die Wirtschaft, über die Lebensqualität, und über die Politik nach außen.
Das haben wir versucht und sind in mehreren Städten im In- und Ausland gestartet. Es gibt davon noch Überreste, aber ohne durchschlagenden Erfolg.
Was meinst Du, warum das bis jetzt ein bisschen gescheitert ist?
"Ein bisschen gescheitert" ist nett gesagt. Ich bin ein unverbesserlicher Optimist und eigentlich ist es nie zu Ende. Solche Anläufe brauchen lange Zeit. Es ist in der Vision, die dahinter steckt, wahrscheinlich aus zwei Gründen gescheitert. Das eine ist ein äußerer Grund: Wir haben dieses Projekt in den 80er Jahren gestartet, da war gerade die Alternativbewegung auf dem Rückzug. Wir sind gegen den Mainstream gestartet, und uns blieb einfach der Nachwuchs aus. Die Leute hatten kein Interesse an Selbstverwaltung, das war denen zu mühselig. Die wollten lieber eine normale Anstellung und den pünktlichen Lohn. Freiheit erfordert aber Engagement.
Das andere ist viel beschämender. Ich sehe das so, dass viel dadurch kaputt gegangen ist, dass, als sich der Erfolg einstellte, massenweise die Puritaner kamen, die Anhänger der reinen Lehre. Die haben das Ding von vorne bis hinten kritisiert, weil es nicht radikal oder nicht anarchistisch genug war. Das war denen zu bürgerlich, nicht so richtig kämpferisch. Die sind so lange geblieben, bis sie es kaputt geredet und auf diese Weise "Recht behalten" haben. Es gab hässliche Szenen. Ich persönlich habe mich 1992 ziemlich angewidert zurückgezogen.
Aber vieles existiert noch, nicht nur hier. Es gibt noch Firmen, Menschen, Wohnzusammenhänge, und die Hoffnung ist nie zu spät, dass das wieder eine politische Dimension kriegt, wenn sich die äußeren Bedingungen bessern. Im Augenblick formiert sich hier übrigens gerade ein Ding mit dem Namen "Projekt A / Plan B".
Es ist vielleicht auch ein Problem, dass den meisten Leuten heute das "Projekt A" kein Begriff ist, auch weil das Buch nur unter der (Info-)Ladentheke verbreitet wurde. Dabei bietet es ein gutes Konzept zur konkreten Verwirklichung einer gelebten Utopie. Du hast es vor 20 Jahren im Eigenverlag herausgegeben. Wäre es nicht sinnvoll, es heute zu überarbeiten und mit einer höheren Auflage unter die Leute zu bringen?
Wir werden das Buch sicher noch einmal veröffentlichen, aber nicht unkritisch. Es muss dazu eine Aufarbeitung kommen, dazu würden wir dann viele Leute zum Schreiben einladen, die mitgemacht haben, so dass ein objektiveres Bild entsteht. Was ich eben gesagt habe, ist natürlich nur meine persönliche Meinung, andere sehen das ganz anders.
So etwas muss man kontrovers diskutieren.
Vielleicht können sich die Leute unter "Projekt A" noch nicht so richtig etwas vorstellen. Kannst Du dieses Konzept, auch mit den "Doppelprojekten", kurz darstellen, damit verständlicher wird, worum es geht?
Die Grundeinheit ist immer ein Projekt, meist ein selbstverwalteter Betrieb, der gehört den Leuten, die in ihm arbeiten. Die sind gleichberechtigt. Da gibt es immer Projekte, die Geld bringen, Gewinn machen, und es gibt Projekte, die wahrscheinlich nie Profit abwerfen, die Geld brauchen. Das sind die eher politischen Projekte, die sich am Markt nicht "rechnen", wie man heute so schön sagt.
Die Idee war, dass die immer in "Doppelprojekten" zusammengefasst sind, so dass man einen Ausgleich der Kosten hat, und dass dann mit den Überschüssen neue Projekte angeleiert werden. Das Ganze verbunden mit freien Wohngemeinschaften, oder auch Kommunen, Einzelleuten und Familien.
Das heißt, jeder Mensch kann sich aussuchen, wie er leben möchte. Es gibt keine "Zwangsbeglückung". Man kann mit verschiedenen Lebensformen experimentieren, so dass sich ein großes soziales Laboratorium verschiedener Lebensformen ergibt. Das Projekt wirkt nach außen und kriegt im Nebeneffekt ein anarchistisches Label.
Die Leute sehen dann, das ist nicht schlimm, ist sogar toll! Dann ist die Assoziation "Chaos" und "Bomben werfen" durchbrochen.
Schon 1971 hast Du das AnArchiv, ein anarchistisches Dokumentationszentrum gegründet. Kannst Du erklären, wie es entstanden ist, wie es gewachsen ist, was daraus geworden ist?
Es ist vor allem, wie Du sagst, gewachsen. So etwas bleibt ja nicht stehen, es erlebt Aufs und Abs, wächst immer munter weiter, einfach weil es da ist. Das AnArchiv ist ein anarchistisches Archiv, wie das Wortspiel schon verrät: eine riesige Bibliothek mit Monographien und Büchern, vor allem auch eine Sammlung von seltenen Dingen, wie Flugblätter, Diskussionspapiere, Aufkleber, Plakate, Filme, Musik und Zeitschriften. Der Schwerpunkt ist deutschsprachiger Anarchismus.
Wir haben aber auch schöne Exponate aus aller Welt.
Das interessiert einerseits Menschen oder Gruppen, die Kontakte suchen oder aus Erfahrungen lernen wollen, oder sehen möchten, wie kann ich mich vernetzen. Andererseits nutzen viele das AnArchiv für die Forschung, auch ich habe dort meine Bücher recherchiert, Leute haben dort ihre Diplom- und Doktorarbeiten geschrieben. Es ist ein Gedächtnis der Bewegung, denn Anarchismus findet normalerweise in der offiziellen Geschichtsschreibung keinen Platz, und dieser Erfahrungsschatz wäre wahrscheinlich für alle Zeiten verloren, wenn es solche Archive nicht gäbe.
Vor zwei Jahren gab es einen Aufruf zur finanziellen Rettung des AnArchivs. Was war da los?
Seit 35 Jahren habe ich das AnArchiv immer selbst finanziert und mir nicht groß Gedanken drüber gemacht, solange ich gut verdient habe.
Vor zwei Jahren hatte ich wirtschaftliche Schwierigkeiten mit meiner Firma und es bestand die Gefahr, dass das AnArchiv in der Konkursmasse untergehen könnte. Den Konkurs haben wir durch die solidarische Hilfe Vieler abgewendet. Wir haben die Konsequenzen daraus gezogen und einen Trägerverein gegründet, dem das AnArchiv jetzt gehört. Vor einem Jahr hatten wir dann die grandiose Neueröffnung in den neuen Räumen, an denen wir fünf Jahre gearbeitet hatten. Nach zwei Monaten mussten wir schon wieder zu machen, weil ich im Dezember 2004 eine gesundheitlich sehr schlechte Prognose bekommen habe, dann meinen Job aufgeben und auch das Haus räumen musste, in dem das AnArchiv untergebracht war. Jetzt ist alles wieder einmal in Kisten, wieder im Hochregal, und wir hoffen, dass wir dafür bald eine Lösung finden.
Gibt es einen Spendenaufruf für den AnArchiv-Verein?
Nein, erst muss klar sein, wie es weitergeht. Mein gesundheitliches Problem ist Kinderlähmung. Die kommt wieder, daran stirbt man nicht, aber es wird tendenziell schlechter und ist nicht heilbar. Als diese Diagnose im Raum stand, war ich erst einmal entsetzt und deprimiert. Daraus ist nun aber etwas Positives entstanden, was hier unter dem Label "Projekt A / Plan B" läuft. Dieser Name ist übrigens nicht von mir! Die Leute vom AnArchiv haben gesagt: "Das kann jedem von uns passieren. Menschenwürdig zu leben und mit einer Krankheit menschenwürdig alt zu werden, das ist ein Luxus, den kann sich kein Mensch mehr leisten heutzutage." Aus meiner Not und der Not des AnArchivs ist dann ein Wohnprojekt entstanden, das jetzt hier fleißig und diszipliniert die Trommel rührt. Da steht ein typischer Projekt-A-Gedanke im Hintergrund. Wir wollen uns zu einer generationenübergreifenden Wohngruppe zusammenschließen, in der man auch menschenwürdig alt werden kann, ohne dass man dazu Millionär sein muss. Und in dem auch das AnArchiv, das ist Konsensbeschluss, untergebracht werden soll.
Etwas Besseres kann mir natürlich nicht passieren. Dann bin ich nicht mehr für die Finanzen usw. verantwortlich, kann auf meine alten Tage die Hände über dem Bauch verschränken und als Kurator oder wie auch immer tätig sein und meinem liebsten Hobby nachgehen: anarchistische Geschichtsforschung betreiben und vielleicht mal wieder ein kluges Buch schreiben.
Deine Bücher haben viele Menschen für anarchistische Ideen begeistert. Dein Bestseller ist "Leben ohne Chef und Staat. Träume und Wirklichkeit der Anarchisten", der gerade vom Karin Kramer Verlag neu aufgelegt wurde. Wie viele Auflagen gibt es mittlerweile?
Da bin ich überfragt. Bei Eichborn ist das Buch, glaube ich, in acht Auflagen erschienen, und bei Kramer dürfte es mittlerweile an die 20 erreicht haben. Aber ich bin trotzdem kein Auflagenmillionär geworden. Ich bin ein wenig stolz auf dieses Buch, weil es den Anarchismus anekdotenhaft rüberbringt. Ich habe es eigentlich für meine Mutter geschrieben und gesagt, wenn Mutti das versteht, dann verstehen andere das auch.
Ich habe versucht, journalistische, kurzweilige Geschichten über den Anarchismus herauszufinden, die nicht so bekannt sind, und an jede dieser Geschichten ein bestimmtes "Essential" des Anarchismus zu koppeln, ob nun Pazifismus, oder ob Gewerkschaften oder die Gewaltfrage ... Das hat offenbar gut funktioniert.
Dein letztes Buch, "Freiheit pur. Die Idee der Anarchie, Geschichte und Zukunft", erschien vor zehn Jahren im Eichborn-Verlag. Es ist ein gutes Einsteigerbuch, aber nur einmal aufgelegt worden und seit Jahren vergriffen. Wann wird es neu aufgelegt?
Hoffentlich bald. "Freiheit pur" führt übrigens im Internet ein munteres Eigenleben, und es gibt ne Menge Raubdrucke.
Auf der Buchmesse in Frankfurt habe ich mit zwei Verlagen verhandelt. Es sieht so aus, als ob es 2006 wieder erscheinen wird. Dass es so lange vergriffen ist, hat viel damit zu tun, dass ich 1992 die Klotten hingeschmissen habe. Ich war enttäuscht, verletzt und niedergeschlagen.
Ich hab dann erst mal sechs, sieben Jahre nur Karriere gemacht und Anarchie schleifen lassen. Hab dann aber festgestellt, dass das auf Dauer nicht das Wahre ist, und jetzt habe ich vielleicht so was wie ein "Comeback". Allerdings hab ich in dieser Zeit auch Geld verdient, das ins AnArchiv geflossen ist. Von daher war das nicht unsinnig.
Deine Bücher sind voll mit spannenden Geschichten. Was sind Deine liebsten?
Am sympathischsten finde ich immer noch die symbolträchtige Anekdote zum Thema "Anarchie = Chaos und Unordnung": In Barcelona hatte ich eine ältere Dame interviewt, sehr katholisch, überhaupt nicht anarchistisch, und die sagte: "Ja, ja, an diese Anarchisten kann ich mich gut erinnern! Das waren wilde Zeiten und wilde Typen - aber die U-Bahn fuhr nie so pünktlich wie damals bei den Anarchisten!"
Der Schwarze Faden (3), eine der besten und langlebigsten anarchistischen Zeitschriften in Deutschland, erschien zuletzt im Sommer 2004. Jetzt wurde seine Einstellung verkündet (siehe Kasten auf dieser Seite), nach einer jahrelangen Krise, in der nur wenige Ausgaben erschienen sind. Warum ist der Schwarze Faden Deiner Meinung nach gerissen?
Ich bin nicht berufen, das zu beurteilen, denn ich war zwar gelegentlich Autor, aber nie so dicht dran. Aber ich habe zwei Erklärungen, die vielleicht paradigmatisch sind.
Die eine hat etwas mit der "Konjunktur" der Ideen zu tun. Der Schwarze Faden war eine Topzeitung auf hohem theoretischen Niveau, der irgendwann die Leserschaft weggebrochen ist. Das muss nicht unbedingt das Ende sein. Wer weiß, ob nicht in drei oder fünf Jahren der Faden wieder wie Phoenix aus der Asche entsteht, wenn das Bedürfnis wieder da ist?
Der andere Grund ist ein allgemein verbreitetes Problem der Libertären. Man muss sich mal klar machen, mit welchen Mühen das alles verbunden ist. Man muss Geld reinstecken, und trotz aller großen kollektivistischen Etiketten, letztendlich bleibt es immer nur an wenigen, idealistischen Menschen hängen, die sich aufreiben, und irgendwann haben die Leute die Kraft nicht mehr.
Ja. Aber es wäre sinnvoll gewesen, wenn es noch einen SF-Rettungsversuch gegeben hätte, z.B. einen Aufruf zur redaktionellen SF-Mitarbeit in GWR, da, Contraste und anderen Bewegungsblättern. Vielleicht hätten sich Leute gefunden, die das Projekt reaktiviert hätten. Stattdessen droht dem Faden nun das Schicksal vieler einst wichtiger Bewegungsblätter: Vergessenheit. Eine neue Gruppe, die jetzt eine ähnliche Zeitung machen möchte, könnte nicht so ohne weiteres an den Schwarzen Faden anknüpfen, und müsste stattdessen praktisch wieder bei Null anfangen.
Das könnte aber doch auch ein Anknüpfen mit den alten und neuen Mitmachern sein. Ich denke da sollte man nicht zu früh die Flinte ins Korn werfen. Aber es ist auf jeden Fall ein bedauerlicher Verlust, zumal gerade auf der theoretischen Ebene der Anarchismus in Deutschland nicht gerade eine Vorreiterrolle spielt.
Wie beurteilst Du die Entwicklung der Graswurzelrevolution und der direkten aktion?
Darf ich dazu wieder eine Anekdote loswerden?
Ich kann mich noch gut erinnern, als ich die erste Graswurzelrevolution bekam. Da hatten wir so einen kleinen, anarchistischen Buchladen in Wetzlar, und die Zeitung wurde uns unaufgefordert zugeschickt. Ich packe sie aus und dachte: "Was ist denn das für ein komisches Blatt? Irgendwas über Gartenbau?" Ich habe den Titel einfach nicht verstanden. Mir war 'grassroot' damals kein Begriff.
Bei der direkten aktion habe ich 1977 die Anfänge miterlebt, war Mitbegründer und Mitherausgeber.
Ich kann für beide sagen, dass sie auch journalistisch sehr professionell geworden sind. Ich freue mich immer, wenn ich anarchistische Zeitungen in der Hand habe, die ich Nicht-Anarchisten geben kann, ohne rot zu werden. Beide gehören seit vielen Jahren dazu, denn sie behandeln Themen, die die Menschen interessieren, und die so geschrieben sind, dass sie sie auch kapieren.
Was ich allerdings bedaure, ist, dass es keine Publikumszeitschrift der Anarchisten gibt, ein Blatt, das wirklich "Kiosk-fähig" wäre. Aber auch das hat etwas mit der mangelnden Virulenz der Bewegung zu tun.
Immer wieder lässt sich beobachten, wie viele Aktivistinnen und Aktivisten sich nach ein paar Jahren zurückziehen und sich entpolitisieren. Hast Du Ideen, wie diese Fluktuation, dieses periodisch auftretende "Burning out"-Syndrom gestoppt werden könnten?
Wir haben uns vor Jahren an einer Untersuchung beteiligt: "Warum wird jemand Anarchist? Warum steigt er dann wieder aus?"
Heraus kam, dass "Anarchismus" so eine Art Durchlauferhitzer ist. So um die 16 geht man rein, Mitte 20 ist man meistens wieder draußen.
Die "Durchhalte-Anarchisten" sagen dann meistens: "Die haben die Ideen verraten. Die sind keine Anarchisten mehr."
Interessanterweise hat sich das nicht bestätigt. Die meisten Menschen stehen zu ihrer libertären Einstellung, finden das nach wie vor toll, aber es gibt typische Brüche, wo man aussteigt. Das ist z.B. das Ende des Studiums, oder der Beruf fängt an, oder man kriegt Kinder.
Das sind Zustände, auf die unsere anarchistische Bewegung in Deutschland, die eigentlich eine Nischenbewegung ist, kaum Antworten zu geben weiß.
Zu Anfang bezog ich mich auf den Anarchismus in Argentinien, der volkstümlich und verwurzelt war. Man kann auch den spanischen Anarchismus nehmen, auch in Italien, in manchen Gegenden, da war das etwas völlig Normales. Man war nicht Anarchist, nur um zu politisieren, sondern die Bewegung war das Leben und hat den Leuten etwas geboten, ob das jetzt die Freizeitgestaltung war, oder die Kindererziehung, der Einkauf des täglichen Bedarfs, Kultur oder der Kampf ums Einkommen. Überall hatte diese Bewegung eine Antwort auf die Fragen der Menschen. Man musste nicht rausgehen, weil man alles in dieser libertären Alltagskultur fand.
Unsere Bewegung, hier und heute, ist kopf- und theorielastig. Man findet sie deshalb mit Vorliebe in Universitätsstädten. Das verliert dann irgendwann seinen Reiz, wenn man sagt: "Gut und schön, diese tollen Ideen, aber ich hab jetzt andere Sorgen."
Dann ist man plötzlich kein guter Genosse oder keine gute Genossin mehr, weil man nicht mehr soviel Zeit hat. Man fällt raus aus dieser Geschichte.
Eine Lösung solcher Probleme kann nur in der Bewegung liegen.
Da können dann Ideen, wie Projekt A und ähnliche Initiativen, die auch jenseits einer Politgruppe etwas schaffen im Alltag, schon eher eine Lösung bieten.
Wie schätzt Du die Situation der libertären Bewegung hierzulande ein?
Ich habe nach meinem Rückzug natürlich etwas den Überblick verloren. Ich glaube aber, der Anarchismus hat in den letzten Jahren an Stärke verloren. Die großen Bewegungen der 70er und 80er Jahre haben ihre Kraft eingebüßt. Es ist das passiert, was du vorhin erzählt hast: Die Menschen haben sich zurückgezogen, man erinnert sich nur noch an vergangene Zeiten.
Ich glaube, dass das Potenzial sehr groß ist. Ich bin ein Anhänger dieser etwas simplen Pendeltheorie. Das Pendel der Gesellschaft schlägt immer in eine Richtung aus. In meiner persönlichen Biographie habe ich erlebt, wie diese erzkonservative, verklemmte Adenauerära sich plötzlich Luft gemacht hat in Rock'n'Roll, in Hippie-, 68er-Bewegung und Anarchismus.
Wir sind jetzt in einer Zeit, wo das Yuppietum abklingt, wo der eiskalte Neoliberalismus seine vermeintlichen Triumphe feiert.
Ich bin davon überzeugt, dass wir in den nächsten zehn Jahren Zustände bekommen, die der anarchistischen Bewegung große Chancen geben könnten. Aber ich denke, sie ist schlecht aufgestellt. Sie ist zu rückwärtsgewandt, holt sich ihre Vorbilder aus den 20er oder 30er Jahren. Ich fürchte, wenn das Pendel wieder nach links ausschlägt und es wieder so ein Revival geben würde, dann wären wir recht hilflos, weil wir nicht darauf vorbereitet sind, weil wir im Alltag nur wenige Projekte verankert haben, die so etwas im realen Leben auffangen könnten, jenseits von Theorie, Zeitungen und Büchern.
Welche Möglichkeiten siehst Du denn dann, die Perspektiven des Anarchismus zu verbessern?
Ich plädiere dafür, dass man aus dem selbstgemachten Ghetto herauskommt, dass man weniger Berührungsängste hat, weniger auf die Reinheit der Lehre und mehr auf die Bedürfnisse der Menschen achtet, auch stärker in die Medien geht und da unverkrampfter heran geht.
Ich darf vielleicht etwas aus der Schule plaudern. Du erwähntest ja bereits, dass das "Projekt A-Buch" sehr konspirativ verbreitet wurde. Wir hatten eine Heidenangst, dass, sobald der Name Anarchismus fällt, man uns in so einer provinziellen Kleinstadt sofort niedermachen und an den Pranger stellen würde. Zu unserem Erstaunen war das Gegenteil der Fall. Die Tagespresse kam, brachte ganzseitige Artikel und Interviews und hat den Anarchismus dargestellt.
Das heißt, unsere Feindbilder sind vielleicht ein bisschen antiquiert. Wir werden heute nicht mehr als "anarchistische Gewalttäter der RAF" verfolgt.
Eigentlich haben wir ein recht offenes Klima, die Indikatoren zeigen, dass nach wie vor ein Interesse an anarchistischer Literatur und anarchistischen Positionen da ist. Aber manchmal stehen sich die lieben Genossinnen und Genossen ein bisschen selbst im Weg. Das wäre das Eine.
Das Andere wäre, dass man Anarchismus - die 68er sind ja auch in die Jahre gekommen - auch als ein Projekt des Alterns verstehen darf. Wir haben früher immer nur geschaut auf Action, Demos, und darauf irgendwelche Projekte und Zeitungen herauszubringen. Ich glaube, das wird ein großes Thema werden in der Gesellschaft. Es kann sich eigentlich kein Arbeiter mehr leisten, alt zu werden, rein finanziell gesehen. Gerade an so einem Punkt kann man die Stärke der anarchistischen Organisationsform klar machen: "Leute, es gibt Wahlverwandtschaften, man kann sich das Leben aussuchen, es gibt Affinitätsgruppen, es gibt Sympathiegruppen, und die organisieren und vernetzen sich frei."
Das ist zwar eine ganz unprätentiöse Herangehensweise, mit der man aber anarchistische Essentials unter die Leute bringen kann.
Das überzeugt mehr, als das geschriebene Wort.
Möchtest Du den Leserinnen und Lesern noch etwas mit auf den Weg geben?
Ich möchte vielleicht ein Beispiel nennen, um meine Kritik klarer zu machen.
Vor kurzem war ich auf einem Treffen der Freien ArbeiterInnen Union (FAU), das ist die deutsche anarchosyndikalistische Organisation. Die haben in Deutschland ungefähr 300 Mitglieder. Das sind rührige, sympathische Leute, die tolle Arbeit machen und die direkte aktion herausgeben.
Die Zeitung absorbiert einen Großteil der Kräfte.
Diese wackere FAU steht nun in der Crux, dass sie gern eine Gewerkschaft sein möchte, andererseits aber das ausfüllen muss, was es leider nicht gibt, nämlich eine anarchistische Föderation. So dass sie also ständig damit beschäftigt ist, sich den Rücken frei zu halten und zu sagen: "Unser Thema ist die Arbeitswelt. Wenn ihr euch als Anarchos organisieren wollt, organisiert euch woanders."
In Spanien, Lieblingsland der Anarchisten, hat es nach Francos Tod, Mitte der 70er Jahre, ein großes Revival des Anarchismus gegeben. Da konnte die CNT, die spanische Anarcho-Gewerkschaft, nach 40 Jahren Illegalität plötzlich 500.000 Menschen auf einer Kundgebung mobilisieren, und hatte wieder ein paar hunderttausend Mitglieder.
Für viele Spanier war die CNT damals die ernsthafte Alternative zu Sozialisten und Kommunisten.
Die Anarchisten haben sich aber in den folgenden Jahren dermaßen in Grundsatzdebatten um die reine Lehre zerfleischt, so dass sie eigentlich inzwischen wieder ziemlich bedeutungslos geworden sind.
Aus der Spaltung ist eine andere Anarcho-Gewerkschaft entstanden, die CGT, die einen weniger dogmatischen Kurs vertritt und heute immerhin wieder 60.000 Mitglieder zählt.
Wenn man das mit den 300 hier vergleicht, dann denke ich, die reine Lehre kann nicht immer die Antwort auf alles sein.
Das wird an einem konkreten Beispiel klar: Man streitet sich seit Jahren um die Frage: "Dürfen anarchistische Gewerkschaften Tarifverträge abschließen? Dürfen sie mit anderen Organisationen zusammenarbeiten?" Die Beschlüsse, die die CNT als reine Lehre verteidigt, stammen aus dem Jahre 1934, einer Zeit, als sie mit zwei Millionen Mitgliedern die größte Gewerkschaft Spaniens war.
Aber können solche Positionen noch funktionieren, wenn man in einer Minderheitenposition steckt?
Dabei zeigt das Beispiel der CGT, dass man mit einer anarchistischen Gewerkschaft auch heute noch "Massen" ansprechen kann, ohne reformistisch zu werden. Wenn wir mal 60.000 Mitglieder in Deutschland hätten, dann sähe die Welt auch anders aus.
Interview: Bernd Drücke
Projekt A / Plan B
Ein Interview mit Horst Stowasser
In den 1970er und 80er Jahren war der Schriftsteller Horst Stowasser (* 1951) ein umtriebiger Geist im Anarcho-Milieu und hat z.B. anarchistische Zeitschriften herausgegeben. In letzter Zeit häuften sich dagegen die Anfragen: "Was macht eigentlich Stowasser? Von dem hört man gar nichts mehr." Eine am 7. November 2005 im Studio des Medienforums Münster von GWR-Koordinationsredakteur Bernd Drücke produzierte Radiosendung beschäftigte sich mit dem Thema "Anarchismus". Gesprächspartner am Telefon war, zugeschaltet aus Neustadt an der Weinstraße, Horst Stowasser.
Wir präsentieren eine überarbeitete Kurzversion (Red.).
Graswurzelrevolution (GWR): Horst, Du verstehst Dich als Anarchist und hast Bücher und Aufsätze zum Anarchismus geschrieben. Viele Menschen denken, Anarchie sei Chaos und Anarchisten seien Chaoten oder Terroristen. Was verstehst Du unter Anarchie?
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Horst Stowasser - Wege aus dem Ghetto - Die anarchistische Bewegung und das Projekt A
Zwischen Schreibtisch und Straßenschlacht - die anarchistische Bewegung in Deutschland
Wie reagiert der Durchschnittsanarchist, wenn jemand mit anderem Stallgeruch lobende Worte für ein libertäres Projekt findet? Zum Beispiel ein Handwerksmeister aus der CDU-Mittelstandsvereinigung.
Er ärgert sich und fragt sich verstört, was er wohl falsch gemacht habe. Warum eigentlich?
Sind Anarchisten nicht seit jeher stolz darauf gewesen, daß ihre Ideen menschenfreundlich, ihre Denkweise einfach, ihre Vorgehensweisen direkt und ihre Absichten positiv seien? Die Ideen von gegenseitiger Hilfe, Selbstorganisation, direkter Aktion und Akratie zum Beispiel. Warum dann, um alles in der Welt, sollten solcherart positive anarchistische Essentials nur Beifall bei Anarchisten finden? Ist es verdächtig, wenn anarchistische Modelle auch außerhalb ihrer eigenen Grenzen Anklang finden? Es scheint fast so.
Stigmatisiert durch jahrzehntelange Isolation, abgestumpft durch das bittersüße Gift des Randgruppen-Schmollwinkels und die Pose des ausgrenzenden Besserwissers scheint es nachgerade zur Tugend geworden zu sein, den richtigen Kurs in direkter Proportionalität zur Ablehnung durch „die anderen" zu finden. Und, was noch schlimmer ist: offenbar haben die Anarchisten darüber fast vollständig jene Phasen ihrer eigenen Geschichte und Identität verdrängt, als sie im gleichen Herztakt mit ihrer sozialen Umgebung wirkten. Jene seltenen, doch überaus wichtigen Augenblicke, in denen sie es schafften, aus dem Schattendasein herauszutreten, und ihre Utopien mitten ins reale Leben zu pflanzen. Ereignisse wie die spanische Revolution, die argentinischen Revolten oder der Aufstand in der Ukraine werden zwar immer wieder gerne bemüht, aber zumeist leider eher im Sinne einer rituellen und gebetsmühlenhaften Zitierung. Ihr eigentlicher Charakter, ihre Voraussetzungen und Dynamik werden dabei fast schamhaft ausgeblendet.
Das Interesse am Plakativen der vergangenen Glorie rangiert dabei oft höher als die Frage nach der Bedeutung solcher Erfahrungen für unsere Realität hier und heute: Propaganda statt Paradigma.
Um es auf den Punkt zu bringen: In zeitgenössischen anarchistischen Kreisen ist es hierzulande in der Regel allemal beliebter, sich an heroische und nebulöse Klischees zu schmiegen, als ernsthaft (und folgerichtig auch mühselig) die Lehren jener verwirklichten Utopien auf unsere heutige Situation anzuwenden.
Es genügt eben nicht, immer und immer wieder zu sagen, daß Anarchie möglich sei, und daß es vor 50 Jahren schon einmal gelang, erste, großartige Ansätze im Maßstab einer modernen Massengesellschaft zu verwirklichen. Unabhängig von den Defiziten und Widersprüchen jeder Revolutionen muß auch immer wieder der Versuch gewagt werden, hinter den glänzenden Bildern deren alltägliche, banale und unspektakuläre Strickmuster ans Tageslicht zu holen und zu erkennen. Ihre Mikrostruktur sozusagen. Geschieht dies nicht, wird die anarchistische Bewegung eine Kirche von frommen Mythen und verkommt zu einem Traditionsverein im selbstgestrickten Ghetto.
Diese öde Perspektive mag manche Anarchisten nicht erschrecken - jene, die sich im Ghetto bereits eingerichtet haben und denen der Sektencharakter der Bewegung geistige Bequemlichkeit verspricht. Alle anderen aber, für die der Reiz anarchistischer Ideen nicht in bloßer philosophischer Gedankenübung oder dem gelegentlichen pathetischprovokanten Gestus liegt sondern in der Herausforderung, die Utopie auch tatsächlich zu verwirklichen, muß dieser Zustand alarmieren.
Jene Anarchisten, denen die Praxis über den Gestus geht (und zu denen auch ich mich zähle), haben sich in den letzten Jahren zweifellos vermehrt. Beginnend mit selbstkritischen Analysen (etwa auf den internationalen Treffen in Venedig, Melbourne, Chicago, Frankfurt oder Seoul), über die Artikulation ihres Unbehagens und die Entwicklung neuer Ideen, haben sie inzwischen den Weg ins Praktische gefunden. Weltweit, mit munter wachsender Tendenz und nimmermüder Phantasie, werden unkonventionelle Ideen experimentiert. Projekte und richtungsweisende Modelle sind die ersten Gehversuche auf einem langen Weg.
Ihnen allen ist eines gemein: Raus aus dem Ghetto, rein ins reale Leben - Anarchie zum Anfassen vor der Haustür - nachvollziehbare Wege - einfache Zugänglichkeit für jedermann und jedefrau.
„Anarchie ist machbar, Frau Nachbar!" verkündete einer jener spritzig-lockeren Slogans der 80er Jahre aus der Anarchoszene. Richtig gedacht, keck gesagt - nur: wo und wann hat die Bewegung hierfür jener „Frau Nachbar" jemals einen Weg gezeigt, einen Zugang geschaffen, ein Modell angeboten?
II
Die Suche nach Modellen, die solcherart lebendige Anarchismen in den sozialen Alltag pflanzen könnten, begann selbst im bundesdeutschen Nachkriegsanarchismus schon relativ früh. Zaghaft zunächst, und daher neben dem Mainstream-Anarchismus mit seinen zyklischen Debatten, Gründungsversuchen und Aktionen recht unspektakulär, begann sich Ende der 70er Jahre das Unbehagen breitzumachen. Daß es hauptsächlich Protagonisten eben jenes Debatten-, Gründungs- und Aktionsanarchismus waren, die dieses Unbehagen empfanden, artikulierten und umsetzten, sollte zu denken geben. Ihnen allen war aufgefallen, daß „die Bewegung" sich in den knapp 10 Jahren seit ihrer Wiedergeburt im Getöse und Gefolge der Studentenbewegung im Kreise zu drehen schien. Sie waren entsetzt angesichts der Perspektivlosigkeit des neuen Anarchismus und hilflos gegenüber der Tatsache, daß diese Bewegung zwar fest mit beiden Beinen in der Welt plakativer politischer Scheinrealitäten stand, aber kaum mit einer kleinen Zehe in der realen sozialen Welt dieses Landes. Schon um 1980 herum mußten wir in verschiedenen Studien unseres Dokumentationszentrums darauf hinweisen, daß die bundesdeutschen Anarchisten einen „papiernen Wasserkopf" geboren hatten - Symptom für ihre Perspektivarmut, wenn man beispielsweise den über 500 verschiedenen Zeitungen, die sie nach 1945 ins Leben riefen, die wenigen lebendigen Experimente entgegensetzte, die sie jemals gewagt hatten. Zugleich auch ein Symptom ihrer Isoliertheit, wenn weiter festgestellt wurde, daß von diesen 500 Zeitungen ganze drei jemals ernsthaft versucht hatten, für Nicht-Anarchisten zu schreiben, also für jene berühmte „Frau Nachbar", für die Anarchie angeblich machbar sein sollte...
Dieses Unbehagen an der eigenen Bewegung war keineswegs homogen und nahm verschiedene Wege: Von der Resignation, über veränderte Schwerpunkte in der jeweiligen Praxis oder kritischer Theoriebildung bis hin zu großen Entwürfen. Es handelte sich weder um eine zeitgleiche Strömung, noch kam sie zu gleichen praktischen und theoretischen Ergebnissen. Gleich war ihnen jedoch der Versuch, diese ihre Bewegung ohne falsche Vasallentreue kritisch unter die Lupe zu nehmen und nach neuen, zeitgemäßen Formen des Anarchismus für hier und heute zu suchen. Dabei fiel fast allen die punktuelle Blindheit der meisten Anarchos für ihre eigenen Unzulänglichkeiten auf. Was an Perspektiven und konkreten Modellen fehlte, wurde nur zu oft mit flotten Sprüchen und „kämpferischer Arroganz" wettgemacht, und wo es an praktikablen Antworten auf soziale Probleme mangelte, wurden die periodisch wiederkehrenden punktuellen Kämpfe in dieser Republik mit ihren kurzlebigen Erfolgen zum Fetisch erhoben. Jede Oma, die ihr sperrmüllreifes Sofa in ein besetztes Haus abschob, wurde zum Beweis für die „Verankerung in den Massen" hochgejubelt und jedes besetzte Fleckchen Erde, das die Polizei - aus welchen Gründen auch immer - nicht sogleich räumte, avancierte unversehens zum Modell einer befreiten Gesellschaft. Mir sind junge Anarchisten untergekommen, die ernsthaft behaupteten, daß die Scheiben, die sie bei der Deutschen Bank eingeschmissen hatten, eine ernste Bedrohung des Imperialismus darstellten. Und mit einer Mischung aus Traurigkeit und Ratlosigkeit muß ich an jene Kommunardin in einem norddeutschen Dorf zurückdenken, die, nach fünf Jahren Existenz ihres anarchistischen Großprojektes alldort, stolz und mit glänzenden Augen berichtete, daß sie heute zum ersten Mal von einer Frau aus dem Dorf beim Einkaufen gegrüßt worden war. Sie wertete dies allen Ernstes als Beweis für die „Volkstümlichkeit" ihrer Kommune.
Selbstüberschätzung ist eine Folge von Realitätsverlust, und Realitätsverlust bringt eingeschränkte Wahrnehmung hervor, was wiederum zu Selbstüberschätzung führt und einen wunderschönen Teufelskreis hervorbringt, in dem eine Bewegung sich leicht selber zu Tode laufen kann. Die vermehrten Anzeichen der Sektenwerdung sind dann meist der Beginn einer schleichenden Agonie.
In unseren liberalen Demokratien gehört es geradezu zur Strategie des Systems, solcherart infizierten Bewegungen ihr eigenes Ghetto als bequemes Plätzchen zu offerieren. Es scheint, als befände sich ein beträchtlicher Teil der anarchistischen Bewegung auf dem besten Wege, sich in diesem Ghetto häuslich einzurichten. Dabei ist es übrigens ein verhängnisvoller Fehler zu glauben, man könne den Grenzen des Ghettos und dem Zustand des Sektierertums schon allein dadurch entfliehen, daß man sich möglichst militant gibt. Es gibt auch Sekten, die strotzen nur so vor Militanz, und für Leute, die noch immer den revolutionären Habitus mit tatsächlicher revolutionärer Veränderung verwechseln, haben die klugen Lenker unserer staatlich-kapitalistischen MegaMaschine noch allemal ein ruhiges Örtchen, das man ihnen getrost als Ghetto überlassen kann. Notfalls darf es auch ein ganzer Stadtteil sein.
III
Dabei waren es gerade die verpaßten Chancen, die die kritischen Anarchisten inspirierten: Was hätte nicht alles aus Ansätzen wie Wyhl, den Berliner Häuserkämpfen, Wackersdorf, Gorleben, der Hamburger Hafenstraße und... und... werden können?! Hier gab es wirklich vielversprechende Ansätze, die - gemessen an dem eingangs genannten Ziel, die Utopie tatsächlich zu verwirklichen - allesamt gescheitert sind. Entweder waren diese Kämpfe zu sehr auf den jeweiligen tagespolitischen Anlaß fixiert und brachen mit deren Wegfall oder „Befriedung" in sich zusammen, oder aber ihre Protagonisten gefielen sich zu sehr in ihrer provozierenden Attitüde, womit sie Außenstehenden von vornherein jeden Zugang zu ihrer gelebten Utopie verbauten. Jedem, der sich nicht den jeweiligen Sprachen, Moden und Riten anpassen wollte, wurde unmißverständlich signalisiert: „Ey, Alter, verpiß' Dich, das ist unser Ghetto!"
Das ist umso bedauerlicher, als hier natürlich die Chance vertan wurde, eine Synthese zwischen den Bewegungen herzustellen, die sich spontan an sozialen Konflikten entzündeten (siehe oben) und jenen, die, langfristig angelegt, kontinuierliche Basisarbeit leisteten. Sie hätten sich gewiß hervorragend gegenseitig befruchten können, wären nur der Wille und die nötige Toleranz vorhanden gewesen: Die Spontaneität, die frische Militanz der Empörung und der zeitweilige Zulauf aus den Kreisen der betroffenen Menschen wären eine ideale Medizin gegen die schleichende Schlafkrankheit mancher Basisinitiativen oder die Tendenz zur Beschaulichkeit, Perspektivarmut und Verökonomisierung etlicher Alternativprojekte gewesen. Andererseits hätten zahlreiche Kommunen, Gruppen, selbstverwaltete Initiativen und Betriebe zu den punktuellen und spektakulären Kämpfen Elemente beisteuern können, die diesen in tragischer Dimension fehlten: soziale Basis, technisch-finanzielle Infrastruktur und vor allem die Erfahrung des Alltäglichen. Letzteres klingt banal, ist aber umso wichtiger. Gemeint ist das schwierige Unterfangen, die drei wesentlichen Bereiche „Politik" (soziale Konflikte, offensive Utopien), „Ökonomie" (Produktion und Reproduktion, Geldverdienen, Finanzierung der Projekte) und „Privatheil" (Lebensformen, Spaß, Freiheit, Glück, Utopie im Alltag) gleichberechtigt nebeneinander in eine emanzipatorische Praxis einzubeziehen.
IV
Dieser Punkt hat es in sich, und in der kritischen Analyse der Anarchisten der 80er Jahre nimmt er eine zentrale Stellung ein: Wie kommt es denn, daß - um es auf eine griffige Formel zu bringen - in dieser Bewegung „zwischen Schreibtisch und Straßenschlacht nicht viel los" ist? Hier punktuelle Kämpfe, dort papierner Wasserkopf, hier die Hierarchie der Militanzriten, dort die Betulichkeit der Denker.
Einerseits: Das Re-agieren. Wir parieren Attacken und reparieren schlimme Zustände. Wir führen Kämpfe, damit nicht noch mehr Atomkraftwerke gebaut, noch mehr Häuser abgerissen, noch mehr Freiheiten weggenommen werden. Das ewige Hinterherlaufen hinter Ereignissen, deren Inhalt, Rhythmus und Qualität stets die Gegner diktieren. Kämpfe also, die in ihrer Struktur defensiv und in ihrer Qualität beschränkt bleiben müssen und bei denen die utopische Zielsetzung allenfalls das fünfte Rad am Wagen ist und folglich nur zu oft auf der Strecke bleibt. Kurz: Kämpfe, die tendenziell nicht auf eine neue Gesellschaft zielen, sondern darauf, daß die alte Gesellschaft nicht noch schlimmer wird.
Andererseits: Der Schmollwinkel. Wir denken. Wir analysieren. Voraus und zurück, in die Kreuz und in die Quer. Wir haben die richtige Antwort parat und die korrekte Analyse ausgearbeitet und sowieso schon immer alles vorher und besser gewußt. Im Elfenbeinturm (und sei dieser auch nur ein schmuddeliges Hinterzimmer) läßt sich ungestört und weltfremd träumen. Heraus kommen Unmengen von Papier. Das Tragikomische daran ist, daß niemand unsere Weisheiten zur Kenntnis nehmen will. Unsere Plattformen, Analysen und Flugblätter bleiben solange Makulatur, wie wir unsere Utopien nicht im realen Alltag vorleben und zugänglich machen; unsere Bücher bleiben solange Ladenhüter, wie wir es nicht schaffen, die Menschen durch unsere Praxis so neugierig zu machen, daß sie sie uns aus den Händen reißen.
Dieses Dilemma hat mehr mit jener unseligen Aufteilung des Lebens in „Politik", „Ökonomie" und „Privatheit" zu tun, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Eine Bewegung, die im Wesentlichen außer Zoff und Philosophie nicht viel zu bieten hat ist auf Dauer nicht attraktiv. Weder für uns, noch für die Menschen, die wir ansprechen wollen. Und es wäre borniert, anzunehmen, daß wir Utopien ohne Menschen aufbauen könnten oder gar gegen sie. Solche Ansichten führen entweder in die totale, gesellschaftlich sterile Isolierung oder ins weltanschaulich verbrämte Massaker an Andersdenkenden. Die anarchistische Bewegung sollte indes bessere Alternativen haben, als zwischen Aussteigerparadies und Pol Pot zu wählen.
Wir müssen uns die unbequeme Frage schon ernsthaft stellen: Jene großen Bewegungen wie Wyhl oder Wackersdorf, der Kampf gegen die Pershings und die Startbahn West, die Welt der Hausbesetzer und Jugendrevolten - wieso sind sie alle so sang- und klanglos untergegangen, nachdem der Anlaß nicht mehr aktuell war? Waren hier nicht tausende Berührungspunkte zwischen „Anarchos" und „Normalos" gegeben? Machte nicht der Rentner im Lodenmantel, der „Pflastersteine gegen die Bullen" schmiß, überall im linken Info-Blätterwald Furore? Wo ist er geblieben?
Kein intelligenter, normaler Mensch macht in einer solchen Bewegung länger als ein paar Jahre mit, es sei denn, er findet die löbliche Ausnahme in diesem jammervollen Spektrum oder er verfügt über den Willen und den Langmut eines Märtyrers. Diese Bewegung ist kein Ort, an dem man leicht heimisch werden könnte, ohne absonderlich oder exotisch werden zu müssen. Sie bietet einem in der Regel nichts, außer einer schönen Idee und der Reinheit gelegentlicher Empörung. Anders gesagt: Es ist kaum eine Bewegung, die mir (und anderen) im Alltag Antworten, Wege, Waffen gibt, geschweige denn Strukturen, in denen ich (und andere) gerne leben würden - so frei und glücklich, wie in einer solchen Gesellschaft eben möglich.
Diese Bewegung hat es schlicht versäumt, zwischen ihren beiden Polen „Schreibtisch" und „Straßenschlacht" eine lebendige libertäre Alltagskultur aufzubauen, die neben politischem Anspruch auch Wärme, neben korrekten Analysen auch Hilfe und neben berechtigter Militanz auch Geborgenheit bietet.
V
In den vergangenen zwanzig Jahren sind zigtausende durch anarchistische Strukturen gewandert. „Die Bewegung" hat wohl 80% davon verdaut und wieder ausgeschieden. Zwischen 17 und 25 ist es für viele eine Weile, chic und attraktiv, Anarchist zu sein. Aber wer hält es schon aus, 10, 20 Jahre seines Lebens damit zu verbringen, nach dem nächsten konfliktträchtigen sozialen Thema Ausschau zu halten und sich ansonsten einmal wöchentlich mit Gleichgesinnten in einem verschwiegenen Insider-Lokal zu treffen - eben weil man gleichgesinnt ist...? Das ist auf Dauer ein langweiliger und inhaltsleerer Grund, und so gehen die meisten wieder, wenn sie sich ausgetobt haben. Viele in dem Moment, wo sie Familie oder Kinder haben oder plötzlich merken, daß sie älter werden und ihren Beruf oder den Rentenanspruch vergessen haben (wobei oftmals die radikalsten Lederjackenanarchos in kürzester Frist zu den angepaßtesten Krawattenträgern werden).
Dieser schnelle Generationswechsel von Menschen, die periodisch durch die anarchistische Bewegung geschleust werden, belegt eindrucksvoll, daß sie allenfalls in der Lage ist, eine politische, aber keine soziale Heimat zu bieten. Er zeigt drastisch, daß alle diejenigen, die sich nicht mit der Sekte und ihren Riten anfreunden können, auf Dauer ausgestoßen werden.
Untermauert wird diese These von den Ergebnissen, die die intensive Debatte um die Aussteiger aus den Anarcho-Gruppen in den letzten Jahren geliefert hat. Interessanterweise haben nämlich längst nicht alle dieser sogenannten „Ex-Genossen" ihre libertären Utopien auf den Misthaufen geworfen. Überraschend viele von ihnen fühlen sich nach wie vor als Anarchisten und nicht wenige versuchen auch (viele tatsächlich zum ersten Mal!), ihre Utopien in der sie umgebenden Gesellschaft zu leben. Nur eben nicht innerhalb „der Bewegung", für die sie im Rückblick oftmals sehr wenig schmeichelhafte Worte übrig haben. „Was sollte ich auf Dauer in so einem Kindergarten?", fragte mich einmal eine Handwerkerin, die es vorzog, in einem selbstverwalteten Projekt zu leben, in dem das große A auf schwarzem Leder nicht zum gruppenkonformen Sozialverhalten gehörte. Sie traf den Nagel auf den Kopf.
Dieser Fluktuationszyklus gibt mit schöner Regelmäßigkeit die Impulse, die dafür verantwortlich sind, daß die anarchistische Bewegung sich überwiegend im Kreise dreht. Alle zwei bis vier Jahre erleben wir Organisationsdebatten und -versuche, Wertekrisen und Standortbestimmungen, die mit immer wieder neuer Frische so ablaufen, als sei in den letzten zwanzig Jahren nichts passiert - als hätte man keine Lernprozesse gemacht, keine Erfahrungen gesammelt und keine Fort- und Rückschritte gemacht. Kein Wunder, denn alle zwei bis vier Jahre gibt es eine neue Generation, die mit entwaffnender Unschuld fragt: „Wäre es nicht eine tolle Idee, wenn wir uns organisierten?" „Warum schaffen wir dieses System nicht einfach mit Waffengewalt ab?" „Wieso machen wir keine anarchistische Tageszeitung?" ... und dergleichen mehr, was dann alles wieder mit Vehemenz diskutiert, teilweise ausprobiert und schließlich aufgegeben wird.
VI
Diejenigen, die auf diese und andere Schwächen ihrer eigenen Bewegung in den letzten zehn Jahren zunächst zaghaft, dann entschlossener hinwiesen, haben in der Regel versucht, die besagte Lücke zwischen „Schreibtisch und Straßenschlacht" zu schließen. Ihr Anliegen war dabei nicht, zugunsten ihrer Konzepte etwa für die Reduzierung der punktuellen Kämpfe einerseits oder der agitatorisch-theoretischen Aktivitäten andererseits zu plädieren. Sie wollten diese durchaus wichtigen Pole keineswegs abschaffen, sondern eher eine Verbindung zwischen ihnen herstellen, indem sie das Vakuum zwischen beiden mit dem Wichtigsten zu füllen versuchten, was eine Bewegung, die diesen Namen verdient, ausmacht: lebendige, funktionierende Modelle in der realen, sozialen Umwelt.
Der Schwerpunkt ihrer Bemühungen lag dabei wohl eher in der Praxis, wenngleich es hier und da auch Beiträge zu einer entsprechenden Theoriebildung gab. Beides - theoretische Debatte und praktische Ansätze - fanden übrigens weltweit statt. Sie führten schließlich in den 80er Jahren zu einer Tendenz in der anarchistischen Bewegung, die von Mexiko bis Australien, von Schweden bis Uruguay reichte, und die ich an anderer Stelle als „frischer Wind im Anarchismus" bezeichnet habe. Man sollte sie ganz bewußt nicht als eine neue Schule, Fraktion oder Richtung deuten, denn es handelt sich in der Tat nicht um grundlegend neue Aspekte. Eher um ein gründliches Durchlüften des vermieften anarchistischen Wohnzimmers, um im Bild zu bleiben. Weder sind die theoretischen Postulate neu - sie lassen sich etwa bei Nettlau, Malatesta, Voltairine de Cleyre, Landauer, Tarrida del Mármol oder auch Durruti nachweisen- noch sind die praktischen Ansätze sonderlich originell. Sie sind lediglich zeitgemäß und versuchen, sich vom rituellen Habitus ebenso zu befreien, wie von den überholten historischen Vorbildern, von denen die Mythen übrigblieben, die Inhalte verlorengingen und die konkreten Schritte heute so nicht mehr nachvollziehbar sind. Überdies bläst der „frische Wind" quer durch alle klassischen anarchistischen Lager, und erfaßt ebenso Syndikalisten wie Kollektivisten, Anarchokommunisten wie Mutualisten, Föderalisten wie Spontaneisten.
Im Grunde geht es um die simple Frage: Wie können wir anarchistische Utopien in ersten, kleinen Schritten verwirklichen, den Menschen in funktionierenden Modellen nahebringen und gleichzeitig verhindern, daß sie verflachen und sozial steril werden? Wie ist es im Gegenteil möglich, daß solche Modelle wachsen, wuchern, Menschen ermutigen und staatliche Strukturen zermürben indem sie libertäre Strukturen aufbauen? Mit einem Wort: Wie können wir libertäre Modelle schaffen, die gleichzeitig paradigmatischen Charakter haben, attraktive soziale Lebensformen ermöglichen und im positiven Sinne subversiv sind?
Zweifellos eine ehrgeizige Zielsetzung, aber keineswegs neu. Die Parallele zu der Periode, als sich die anarchistische Bewegung auf das soziale Feld der Arbeitswelt besann und den Anarchosyndikalismus als praktisch-pragmatische Variante gebar, drängt sich geradezu auf. Auf dem anarchistischen Weltkongress in Amsterdam 1908 wurde die Frage diskutiert, ob man im Rahmen anarchistischer Gewerkschaften nicht sehr wohl gleichzeitig soziale Verbesserungen hier und heute, revolutionäre Veränderungen der Gesellschaft und den Aufbau einer libertären Alltagskultur betreiben könne. Natürlich gab es auch damals Stimmen, die dies für puren Reformismus, für den Anfang vom Ende der anarchistischen Lehre hielten. Für sie waren Gewerkschaften per se schlecht, und andere als die existierenden konnten sie sich einfach nicht vorstellen. Und es fehlte auch nicht der superradikale Heißsporn, der Malatesta erschießen wollte, weil er ihn für einen „Verräter" hielt.
In Wirklichkeit war der Anarchosyndikalismus der Anfang für die erste und bislang einzige Verwirklichung einer an-archischen Gesellschaft in großem Maßstab.
Die Strukturen, die hinter diesem Erfolg steckten, müssen uns heute keine Mysterien und Geheimnisse bleiben. Wir brauchen nur ein wenig an dem Lack der schwarzroten Mythen zu kratzen.
VII
Die Lehren, die wir beispielsweise aus der spanischen Revolution ziehen können, sind einfach, fast schon banal: Es gibt keine anarchistische Utopie im Ghetto. Es darf keine Rivalität geben zwischen den „kleinen Schritten" und den „großen Ereignissen", zwischen notwendiger Militanz und wünschenswerter Friedfertigkeit. Revolution und Radikalität sind keine Fragen der äußeren Erscheinungsformen (>Phänotyp<), sondern der Inhalte und Ziele (>Genotyp<).
Die Schaffung libertärer Kulturen, Tugenden und Strukturen darf nicht auf den fiktiven „Tag nach der Revolution" verschoben werden, sie muß hier und heute beginnen. Das Ziel - Freiheit - muß in den Mitteln anwesend sein. Keine noch so geniale Theorie oder schöne Utopie verwirklicht sich von alleine, Kraft ihrer Stringenz oder dem Gesetz der Geschichte: sie muß aufgebaut und den Menschen nahegebracht werden. Menschen bringt man eine Utopie kaum nahe, indem man sie ständig vorbetet, sondern vor allem, indem man sie vorlebt - notfalls „stückweise" und in kleinen Ansätzen. Anarchistische Modelle müssen deshalb so angelegt sein, daß auch Außenstehende Zugang zu ihnen finden und in ihnen die Angst vor dem „Prinzip Staatlichkeit" verlieren. Das betrifft sowohl den „real existierenden Staat", als auch den „Staat im Kopf" bei uns allen. Anarchisten dürfen deshalb nicht davor zurückschrecken, auch die kleine, schmutzige, banale Alltagsrealität wahrzunehmen und in ihr zu wirken. Der „tägliche Kleinkram" und der „große utopische Entwurf" sind keine Widersprüche, sondern Spannungsfelder einer Dialektik, zwischen denen eine neue, libertäre Gesellschaft geboren wird.
So mancher Junganarcho, der von der heroischen spanischen Revolution träumt, wird sich wundern zu erkennen, daß diese Revolution nicht 1936 begann, sondern 40 Jahre zuvor, und daß die glorreiche CNT in der Zwischenzeit sich nicht zu schade war, ihre Finger eben auch im unspektakulären alltäglichen Kleinkram schmutzig zu machen. Mit Handlungen, von denen jede einzelne, für sich betrachtet und aus dem revolutionären Gesamtzusammenhang gerissen, glatt als reformistisch einzustufen wäre. Und noch überraschter wäre er vielleicht, wenn er feststellen müßte, daß das „Strickmuster" dieser Revolution auf solch einfachen Erkenntnissen beruhte, wie sie eben aufgezählt wurden.
Auf eben diesen Erkenntnissen bauen auch die vielfältigen Ansätze auf, die den „frischen Wind" in den heutigen Anarchismus blasen. Beiden ist gleich, daß sie zwar das Risiko eingehen, mit revolutionären und reformistischen äußeren Formen in ein und derselben Brust zu leben, dafür haben sie aber den unbestreitbaren Vorteil, daß sie tatsächlich funktionieren. Nicht nur im Hirn, sondern auch in der Wirklichkeit. Auf dem Papier werden natürlich die Vertreter der reinen Lehre immer recht behalten. Ob sie aber im Leben recht behalten würden, können sie nie erfahren, da echte Puristen das reale Leben nicht betreten. Sie könnten sich ihre Schuhe beschmutzen.
VIII
Der Vergleich zwischen historischem Anarchosyndikalismus und dem „frischen Wind" gilt selbstredend nur strukturell. Numerisch sind beide nicht zu vergleichen, und was ihren Einfluß auf die Gesellschaft angeht, natürlich auch (noch?) nicht.
Gemeinsam haben sie aber, daß sie die Synthese zwischen Theorie und Praxis wagen, und sich mit lebendigen Menschen in ihrem eigenen sozialen Kontext befassen. Nur geschieht dies heute im Rahmen unserer gesellschaftlichen Realitäten, und die sind nicht mehr die der Vorkriegszeit. Es ist kaum mehr die schwindende „Welt der Arbeit", des Proletariats und der Gewerkschaften, in der wir uns bewegen. Es handelt sich deshalb um einen zeitgenössischen Versuch, die klassischen anarchistischen Essentials und die bewährten anarchistischen Strategien auf unsere Gesellschaftsform anzuwenden.
Natürlich sind die konkreten Ansätze hierzu in einer Bewegung, die durch und durch heterogen ist, sehr bunt und vielfältig - im Gegensatz zu der historischen anarchistischen Bewegung, die, überwiegend von der Arbeitswelt geprägt, sehr wenig verschiedene Modelle hervorbrachte.
So hat sich das Unbehagen der späten 70er Jahre in Kritik, die Kritik in den frühen 80er Jahren in Modelle, und die Modelle in den späten 80ern in Projekte umgesetzt. Natürlich nicht derart linear und schematisch, aber als Trend doch weltweit feststell- und nachweisbar. Ebenso hat die Debatte auch bestehende Organisationen und Bewegungen positiv beeinflußt, in Deutschland besonders die Kreise der Föderation Gewaltfreier Aktionsgruppen (FÖGA) um die Zeitschrift „Graswurzel-Revolution", in geringerem Maße die anarchosyndikalistische Freie Arbeiter Union (FAU). Die offenen Debatten im anarcho-autonomen Spektrum, etwa auf den „Libertären Tagen" 1987 in Frankfurt, haben leider die Hoffnungen, die sie auf ein entsprechendes Umdenken geweckt hatten, enttäuscht und kaum greifbare Ergebnisse gezeitigt.
Das Projekt A - erste Schritte auf der terra incognita
I
Zu einer der ganz frühen Pusteblumen, die der „frische Wind" auf die Äcker des bundesdeutschen Anarchismus blies, gehört das „Projekt A". Entstanden aus den ambivalenten Erfahrungen einer insgesamt fast 20-jährigen libertären Kleinstadtaktivität in der hessischen Provinz, reichen die ersten schriftlichen Dokumente bis in das Jahr 1978 zurück. Es sollte noch sieben Jahre Erfahrung, Debatten und Reife brauchen, bis 1985 das gleichnamige Buch erschien. Diese knapp 100 Seiten starke Skizze eines pragmatischen, libertären Kleinstadtprojekts nach dem Strickmuster des „frischwindigen Anarchismus", begann alsbald intern und ein wenig konspirativ zu zirkulieren: von Mensch zu Mensch, unter Umgehung des Buchhandels. Im Laufe der nachfolgenden Jahre haben schätzungsweise 3-4000 anarchophile Menschen die ca. 1500 Exemplare und zahlreichen Nachkopien gelesen.
Wie nicht anders zu erwarten, entwickelte sich rasch eine rege Debatte, die zunächst zu wenig Konkretem führte. Es entstanden ein internes Bulletin für Nachrichten und Diskussion, etliche kleinere Infos mit teils regionalen, teils themenspezifischen Schwerpunkten und ein ganzes Netz von Treffen: Bundestreffen, Regionaltreffen, projekt-und berufsspezifische Zusammenkünfte, Kulturspektakel, gemeinsame Zeltlager und Ähnliches. Während dieser Zeit wurde einerseits eine zwar diffuse, aber nachhaltige Rezeption der im „Projekt A" dargelegten Ideen in Gang gesetzt, die immer noch andauert - andererseits versuchten die Entschlosseneren seit dem ersten Bundestreffen 1986 mehr oder weniger zielstrebig, dieses Projekt in einer deutschen Kleinstadt tatsächlich zu verwirklichen.
Es ist hier nicht der Platz, die Genesis dieser Bemühungen auch nur einigermaßen schlüssig nachzuerzählen. Eine kritische Aufarbeitung dieses Prozesses muß - wenngleich sie für das Thema dieses Buches sicher aufschlußreich wäre - späteren Veröffentlichungen vorbehalten bleiben. Als Fazit sei festgehalten, daß nach intensiver Diskussion und lückenhafter praktischer Vorbereitung das Projekt A im Herbst 1988 in drei deutschen Kleinstädten in die Startlöcher trat und seither an diesen Standorten existiert, wobei die unterschiedlichsten Erfahrungen gemacht wurden.
II
Die Frage, was das Projekt A denn eigentlich sei, kann aus denselben Gründen hier nur sehr summarisch beantwortet werden . Auf die Gefahr zahlloser Mißverständnisse und verhängnisvoller Vereinfachungen hin will ich dennoch den Versuch einer flüchtigen Skizze wagen:
Es handelt sich um die konkrete Idee zu einem kleinstadtspezifischen libertären Projekt, in dem die Bereiche Politik, Ökonomie und Privatleben gleichgewichtig nebeneinanderstehen. Dieses mehrdimensionierte Gebilde soll seine Stabilität aus einer soliden Basis vernetzter Strukturen beziehen. Diese Grundstrukturen bestehen aus einzelnen Elementen wie selbstverwalteten Betrieben, politischen und kulturellen Initiativen, Wohngemeinschaften und Einzelpersonen. Die Einzelelemente bleiben als solche oder in kleineren vernetzten Gruppen autonom, verbinden sich aber miteinander zu einem lokalen Netzwerk und gehen dabei in freier Vereinbarung Beziehungen gegenseitiger Hilfe und Verpflichtungen ein.
Grund"baustein" der Gesamtstruktur ist das sogenannte „Doppelprojekt", ein Zusammenschluß von jeweils einem mehr ökonomisch geprägten Projekt, das Geld einbringt (z.B. selbstverwalteter Betrieb) und einem mehr sozial oder politisch geprägten Projekt, das Geld braucht (z.B. politische Initiative) unter dem „Dach" einer gemeinsamen Wohngruppe. Hierbei subventioniert das wirtschaftlich stärkere Projekt das wirtschaftlich schwächere; gemeinsame Überschüsse gehen in die Kasse des Gesamtprojekts zur Finanzierung gemeinsamer Aktionen, Vorhaben oder zum Aufbau neuer Teilprojekte. Innerhalb eines solchen „Doppelprojekt-Netzes" entstehen libertäre „Mikro-Gesellschaften" mit alten Menschen, Berufstätigen, Kindern, Tieren, Häusern, Werkstätten, Läden und einer kompletten Infrastruktur, innerhalb derer einerseits Gleichheit, Rotation und Gemeinschaftlichkeit geübt werden können, andererseits aber auch genügend Platz für Verschiedenartigkeit, Individualität und Rückzug bleibt.
Das örtliche Netz wäre demnach der Zusammenschluß vieler solcher Doppel- und Mehrfachprojekte, das sich wiederum eigene Strukturen der Kommunikation, der Entscheidungsfindung und des menschlichen Austauschs in Form von Plenen, Räten und anderen Gremien gibt.
Großer Wert wird auf die Feststellung gelegt, daß dieses Netz nicht das Projekt A an sich ist, sondern lediglich die stabile Basis bilden soll, auf der sich die gesamte, bunte Bandbreite libertärer Aktivitäten entfalten soll und kann: sowohl die klassischen wie auch neue, ungewöhnliche - in jedem Fall aber stabile; menschlich, politisch und finanziell verankert und bestens abgesichert.
Durch diese Art der Vernetzung soll der Unterschied zwischen „politischen" und „unpolitischen" Projekten weitgehend aufgehoben werden. Ziel ist es, einen Zustand zu erreichen, in dem beispielsweise das Backen von Brot ebenso politisch sein kann wie das Verteilen eines Flugblattes. Anders ausgedrückt: Der erste Schritt zur Utopie wäre dann erreicht, wenn man bei einer beliebigen Tätigkeit nicht mehr klar unterscheiden kann, ob es sich nun um Geldverdienen, Politik oder Spaß handelt, oder um alles drei zugleich.
Diese Rechnung geht nur dann auf, wenn ein enger Zusammenhang zwischen Betrieben, politisch-sozialen Initiativen und dem einzelnen Menschen hergestellt und bewahrt werden kann. Dies scheint durch eine enge Verbindung von Leben, Reproduktion und sozialer Aktivität möglich.
Die soziale Strategie geht dahin, daß sich dieses Netz derart in der Stadt ausbreitet und verankert, daß die dort lebenden Menschen