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03 April 2010

Chomsky interview UNBEDINGT LESEN

"Obama ist nur ein normaler, gemäßigter Demokrat im Stil von
Bill Clinton"

David Goeßmann und Fabian Scheidler 02.04.2010 Noam Chomsky
über Obama, den Iran, das Mafia-Prinzip, die Entwicklung in
Lateinamerika und die Rolle der Nato Am 23. März hatte der
Sprachwissenschaftler Noam Chomsky, der seit dem Vietnamkrieg
die interventionistische Politik der USA kritisiert, die
politischen, medialen und wirtschaftlichen Machtstrukturen
untersucht und zu einer im konservativen Lager gehassten
Symbolfigur der amerikanischen Linken wurde, den [extern]
Erich-Fromm-Preis in Stuttgart erhalten. Zur Begründung hieß
es, dass Noam Chomsky die Fähigkeit auszeichne, "die politische
und gesellschaftliche Wirklichkeit unabhängig von
Machtinteressen und unbeeinflusst von einer manipulierten
öffentlichen Meinung zu erkennen und auszusprechen."

In Stuttgart sprachen David Goeßmann und Fabian Scheidler mit
dem großen amerikanischen Intellektuellen. Telepolis
veröffentlicht einige Auszüge aus dem Gespräch. Das 40-minütige
[extern] Video-Interview/Audio-Interview ist mit deutschem
Voice Over auf der Website [extern] Kontext TV zu sehen bzw. zu
hören oder auch nachzulesen. Noam Chomsky beim Gespräch mit
David Goeßmann und Fabian Scheidler

Präsident Obama erhielt 2009 den Friedensnobelpreis, während er
gleichzeitig den Krieg in Afghanistan und Pakistan eskalierte.
Ein paar Tage nach seiner Nobelpreisrede in Stockholm ging er
nach Kopenhagen und bot nicht mehr an als eine
Treibhausgas-Reduktion von vier Prozent bis 2020.
Wissenschaftler sprechen von 40 Prozent, die nötig wären. Viele
Analysten sagen, dass das schwache Angebot der USA der
Hauptgrund war für das Scheitern der Klimaverhandlungen. Was
ist aus Obamas versprochenem "Change" geworden? Und was sind
die Gründe dafür, dass er die Erwartungen und Hoffnungen nicht
erfüllt?

Noam Chomsky: Die Frage zielt weniger auf Obama als auf die
Erwartungen. Sie basierten auf nichts. Ich bin einer der
wenigen, die nicht desillusioniert sind, da ich keine
Erwartungen hatte. Ich habe über seine bisherigen politischen
Positionen und Erfolgsaussichten noch vor Beginn der Kampagne
geschrieben. Ich schaute einfach auf seine Website. Es war
ziemlich klar, dass er ein normaler, gemäßigter Demokrat ist im
Stil von Bill Clinton. Er hat niemals vorgegeben, etwas anderes
zu sein.

Sicher, es gab viel Rhetorik über Hoffnung und Wandel. Aber das
funktionierte wie ein unbeschriebenes Blatt. Man konnte darauf
schreiben, was man wollte. Obama ist jemand, der sehr
persönlich wirkt, und die Menschen waren verzweifelt auf der
Suche nach ein wenig Hoffnung. Daher griffen sie danach. Aber
es gab keine Basis für irgendwelche Erwartungen.

Obama erhielt einen Preis der Werbeindustrie für die beste
Marketing-Kampagne 2008. Er schlug damals die Kampagne von
Apple. Die Leute von der Obama-Kampagne wussten, was sie taten.
Es war eine sehr erfolgreiche Marketing-Kampagne. Aber wie alle
Marketing-Kampagnen nimmt man sie nicht ernst. Wenn man sich
die tatsächliche Substanz anschaut, dann hatte man keinen Grund
für Erwartungen. Was dann politisch passierte von Seiten der
Obama-Administration liegt so ziemlich auf einer Linie mit dem,
was man vorhersagen konnte, sowohl in innenpolitischen als auch
außenpolitischen Fragen.

Iran stellt keine militärische Bedrohung dar, es ist
gefährlich, weil es Befehlen nicht gehorcht

Die USA und europäische Länder üben seit einiger Zeit schon
Druck auf den Iran aus. Sie sehen Iran als eine Hauptbedrohung
für Stabilität aufgrund des iranischen
Urananreicherungsprogamms. Demgegenüber werden Länder wie
Indien, Pakistan und Israel nicht unter Druck gesetzt, obwohl
sie bereits Atomwaffen besitzen und den Atomwaffensperrvertrag
anders als der Iran nicht unterzeichnet haben. Wie beurteilen
Sie die außenpolitische Strategie der Vereinigten Staaten und
Europas in Bezug auf den Iran?

Noam Chomsky: Iran ist eine Bedrohung, weil es Befehlen nicht
gehorcht. Militärisch ist diese Bedrohung so gut wie nicht
gegeben. Anders als die Staaten, die sie genannt haben, Israel,
Indien and Pakistan, hat Iran sich in Hunderten von Jahren
nicht aggressiv verhalten. Den einzigen aggressiven Akt, den
Iran begangen hat, war in den 1970er Jahren unter dem Schah,
unterstützt von den USA. Man besetzte damals zwei arabische
Inseln.

Niemand will, dass Iran oder irgendein anderer Staat
Nuklearwaffen bekommt. Das Land wird unbezweifelbar von einem
scheußlichen Regime regiert. Aber wendet man die Standards von
Staaten an, die die Vereinigten Staaten unterstützen, stellt
sich die Sache anders dar. Angesichts von Saudi Arabien und
Ägypten kann man Iran in Sachen Menschenrechte kaum
kritisieren. Israel ist mit Unterstützung der USA in den
letzten dreißig Jahren fünf Mal in den Libanon einmarschiert,
ohne glaubhaften Vorwand. Der Iran hat nichts dergleichen
gemacht.

Iran stellt eine Bedrohung dar, weil es eine Abschreckung und
ein Hindernis bedeutet. Iran ist ein unabhängiges Land, ein
großes Land, ein reiches Land. Wenn man dort einen unabhängigen
Weg verfolgt, dann untergräbt das die Stabilität.

Aber Stabilität hat eine technische Bedeutung in
internationalen Beziehungen. Es beinhaltet die Unterwerfung
unter Befehle. Dieser Gebrauch ist so extrem, dass der
Herausgeber von "Foreign Affairs", einer der zentralen
liberalen Intellektuellen und politischen Analysten,
tatsächlich feststellte, dass die Vereinigten Staaten Chile
unter Salvador Allende destabilisieren mussten, um Stabilität
herzustellen. Und das war kein Widerspruch. Man musste die
Allende-Regierung stürzen, die destabilisierende Kraft, um
Stabilität zu wahren, d.h. um sie wieder unter US-Befehlsgewalt
stellen zu können.

"Zur Welt gehört, wer Washingtons Befehlen folgt"

Und es ist dasselbe in der Golfregion. Iran widersetzt sich
Befehlen. Daher gefährdet es die Stabilität. Es ist
interessant, dass die USA und Europa, wie Sie richtig sagen,
weitere Sanktionen fordern und sich Sorgen über den Iran
machen. Sie nennen sich manchmal die internationale
Gemeinschaft oder die Welt. Aber das ist eine sehr seltsame
Definition der Welt. Die meisten Länder der Erde sind
blockfreie Staaten. Die meisten Länder, der größte Teil der
Weltbevölkerung unterstützen energisch Irans Recht, Uran für
friedliche Ziele anzureichern. Die blockfreien Staaten haben
das oft wiederholt. Aber sie sind nicht Teil der Welt. In einer
Umfrage vor einigen Jahren zeigte sich: Die amerikanische
Bevölkerung unterstützt ebenfalls klar und deutlich dieses
Recht. Aber auch sie sind nicht Teil der Welt. Zur Welt gehört,
wer Washingtons Befehlen folgt. Das beinhaltet der Begriff.

Der führende israelische Militärhistoriker Martin Levi van
Creveld, ein ziemlich konservativer Historiker, veröffentlichte
einen Artikel direkt nach der Invasion des Irak. Er sagte
darin, nach dieser Invasion wäre der Iran verrückt, keine
Atomwaffen zu entwickeln. Wie anders wolle man eine
amerikanische Invasion verhindern? Als ein Mitglied der Achse
des Bösen, marschierten die USA in den Irak ein. Nicht in
Nordkorea. Die haben nämlich ein Abschreckungsinstrument. Das
ist offensichtlich. Aber die Chancen . noch einmal: niemand
will, dass Iran Nuklearwaffen hat ., dass der Iran Atomwaffen
tatsächlich benutzen würde, wenn sie welche hätten, sind
winzig. Man kann das bei US-Geheimdienstanalysten nachlesen.
Bestückte der Iran eine Rakete mit Waffen, würde das Land
möglicherweise ausgelöscht.

Wie schlimm auch immer die herrschenden islamischen Geistlichen
im Iran sind, sie haben bisher keine suizidalen Impulse
gezeigt. Sie wollen keinen Selbstmord begehen und das ganze
Land zerstört sehen, eingeschlossen der Reichtümer der
persischen Kultur, wie in Teheran, Isfahan und so weiter. Doch
das wäre der unmittelbare Effekt, wenn sie irgendetwas
unternehmen würden. Daher bewerten US-Geheimdienst-Spezialisten
die militärische Bedrohung des Iran ungefähr auf ein Prozent.
Zu klein, um ernsthaft darüber zu reden. Aber Europa und die
USA mögen die Pläne des Iran nicht, weil es ihre eigenen
Aktionen behindern könnte. Deutschland ist beteiligt an diesen
direkten Bedrohungen gegen den Iran. Im Westen scheint das
alles gut und richtig, aber für die potentiellen Opfer ist das
nicht so.

Kuba und das Mafia-Prinzip

Und Iran ist nicht der einzige Fall. Nehmen wir Kuba. Warum
halten die USA an ihrer weitreichenden ökonomischen
Kriegsführungen gegen Kuba fest? Die Antwort ist den
freigegebenen Dokumenten für die Kennedy-Jahre zu entnehmen.
Die Kennedy-Leute warfen Kuba "erfolgreichen Trotz" gegen die
US-Politik vor, wie sie die Monroe-Doktrin festschrieb. Es ging
also nicht um die Russen, sondern schlicht darum, dass Kuba den
US-Befehlen nicht gehorchte.

Die amerikanische Bevölkerung ist vehement für das Ende des
Embargos, bereits seit drei Jahrzehnten. Die Welt ist in großer
Mehrheit für ein Ende. Nimmt man die Abstimmungen der Vereinten
Nationen, dann sind die USA, Israel und einige pazifischen
Inseln die einzigen in der Welt, die einem Ende des Embargos
widersprechen.

Das Land stellt keinerlei Gefahr für irgendjemanden dar. Doch
Kuba muss aus der Sicht der USA bestraft werden wegen seines
"erfolgreichen Trotzes". Die Mafia-Doktrin ist eines der
wenigen geltenden Prinzipien in internationalen
Angelegenheiten. Der Pate akzeptiert keinen Ungehorsam. Das ist
zu gefährlich.

Wenn ein kleiner Ladenbesitzer sein Schutzgeld nicht bezahlt,
dann geht es nicht eigentlich um das verlorene Geld, sondern
ums Beispiel. Das System von Dominanz und Kontrolle könnte
erodieren. Daher muss man den Abtrünnigen bestrafen. Daher
schickt man auch seine Schläger hin, um den Schuldner zu Brei
zu schlagen. Das ist die Mafia-Doktrin. Das ist eines der
zentralen Prinzipien internationaler Beziehungen.

Wenn man auf die Geschichte des Kalten Krieges schaut, sieht
man, dass die regelmäßigen Invasionen und Interventionen
meistens auf dieser Grundlage stattfanden, einschließlich
Vietnam, einem großer Krieg, aber das gleiche gilt auch für
Guatemala, Iran und andere Interventionen.

Oder nehmen wir den Sturz der parlamentarischen Ordnung 1953 im
Iran und die Einsetzung des Schahs: Die Herausgeber der New
York Times waren damals für den US-gestützten Coup. Sie sagten,
dass werde ein Lehrbeispiel für andere Länder, die fanatischem
Nationalismus anhängen und versuchen, Kontrolle über ihre
eigenen Rohstoffe zu erlangen. Man könne so etwas nicht
akzeptieren. Also stürzen wir die Regierung und installieren
einen Tyrannen. Die Iraner sehen diese US-Intervention nicht
als vergangene Geschichte. Sie sorgen sich daher.

Re-Militarisierung in Lateinamerika

Die zunehmende Unabhängigkeit von lateinamerikanischen Staaten,
die sich losmachen von den Vereinigten Staaten: Beinhaltet das
Ihrer Meinung nach eine Machtverschiebung?

Noam Chomsky: Das ist sehr wichtig. In den letzten zehn Jahren
bewegt sich Lateinamerika zum ersten Mal seit der europäischen
Eroberung in Richtung auf eine Art Unabhängigkeit. Die Länder
befreien sich. Sie waren bisher immer abhängig von europäischen
oder US-Machtinteressen. Nun schließen sie sich mehr und mehr
zusammen.

Der Fluch von Lateinamerika war es lange, eine reiche Region zu
sein, der es eigentlich besser gehen sollte als Ostasien, aber
die geplagt wurde von einer sozialen Struktur, in der ein
winziger Sektor des Wohlstands größtenteils europäisiert ist
oder sich in den Händen von Europäern befindet, zum Beispiel
wohlhabenden Deutschen in Haiti.

Bis heute gibt es eine europäisierte weiße Elite in
Lateinamerika, die kontrolliert und die die Ressourcen
dominiert. Und dann gibt es ein Meer von Elend. Die
Wohlhabenden übernehmen keinerlei Verantwortung für die
jeweiligen Länder.

Die Entwicklung geht aber seit einiger Zeit in eine andere
Richtung. Die USA mögen das keineswegs. Sie haben ihre
Militärbasen in Lateinamerika verloren. Doch es findet
gleichzeitig eine Re-Militarisierung auch unter Obama statt.

Bush fing damit an und etablierte eine neue Militärbasis in
Kolumbien, das einzige Land, das noch unter US-Dominanz steht.
Der Coup in Honduras stellt für die USA möglicherweise eine
Chance dar. Man besitzt dort eine wichtige Militärbasis, von
der aus man schon Nicaragua bombardierte. Die
Obama-Administration unterstützte die Wahlen unter dem
Micheletti-Militärregime in Honduras, anders als die anderen
lateinamerikanischen Staaten und selbst Europa.

Die USA bekamen gerade zwei neue Marinestützpunkte in Panama.
Die sogenannte vierte Flotte wurde reaktiviert, die
lateinamerikanische und karibische Gewässer abdeckt. Sie wurde
1950 abgewickelt, weil es keine Verwendung mehr dafür gab nach
dem Zweiten Weltkrieg. Sie wurde 2008 wieder eingesetzt und
wird seitdem weiter entwickelt.

Plan eines globalen militärischen Überwachungssystems

Von einer der US-Militärstützpunke in Kolumbien soll die ganze
Hemisphäre überwacht werden. Und man hofft, dass dieses
Überwachungsprogramm verbunden werden kann mit einem globalen
Beobachtungssystem.

Die USA sind militärisch, sowohl bei den Ausgaben, als auch
technologisch weit an der Spitze und haben ein System für
globale Kontrolle aufgebaut. Die Vereinigten Staaten besitzen
ungefähr 800 Militärbasen, einschließlich eines globalen
militärischen Überwachungssystems.

Die US-Militärprojekte, die jetzt entwickelt werden, sind sehr
erschreckend. Es gibt Pläne für Weltraum gestützte Waffen,
Pläne, um offensive Waffensysteme in sehr präzise arbeitende
Beobachtungssysteme einzubinden. Mit diesem Instrumentarium
kann man erfahren, ob jemand in der Türkei oder anderswo gerade
über die Straße geht.

Man arbeitet an Drohnen, die es erlauben, Krieg ohne Soldaten
zu führen. Es sind gezielte Tötungen möglich. Die neue
Generation von Drohnen, die jetzt geplant werden, nutzen
Nanotechnologie, so dass die Drohnen in Zukunft miniaturisiert
werden können. Damit kann man in Wohnzimmer von jemanden
eindringen und Anschläge verüben.

Das wird in aller Öffentlichkeit geplant. Es wird auf eine Art
geheim gehalten, weil die Medien nicht darüber berichten. Die
Informationen sind aber öffentlich zugängliche.

"Ich kenne kein westliches Land, das sich in Sachen Demokratie
mit Bolivien vergleichen ließe"

Lateinamerika ist dabei besonders im Fokus, weil es sich
unabhängig macht. Dort findet man auch das vielleicht beste
Beispiel für Demokratie in der Welt: Bolivien. Es ist das
ärmste Land in Südamerika. Die indigene Bevölkerung, lange Zeit
sehr stark unterdrückt, hat dort die politische Arena betreten.
Sie wählten jemanden aus ihrer Mitte.

Die Politik des Präsidenten Evo Morales wird von den
Bedürfnissen und Interessen der Menschen bestimmt, nicht
umgekehrt. Die Wahl Morales war dabei nur ein kurzer Ausschnitt
in einem langen Kampf um drängende Probleme und politische
Fragen: die Kontrolle von Ressourcen, Probleme der
Gerechtigkeit und so weiter. Ich kenne kein westliches Land,
das sich in Sachen Demokratie mit Bolivien vergleichen ließe.

Die USA mögen das natürlich nicht. Es gibt es in Lateinamerika
jetzt eine Sezessionsbewegung von der alten europäisierten
Elite, mit Unterstützung der USA. Aber die südamerikanischen
Länder stehen an der Seite Boliviens.

Einige Bauern wurden in einer Gegend in Bolivien getötet, die
traditionell von den Eliten kontrolliert wird. Es fand
daraufhin ein Treffen der neuen Vereinigung von
südamerikanischen Nationen statt. Diese Vereinigung
unterstützte Morales, verurteilte die Gewalt der
Sezessionsbewegung.

Morales wies darauf hin, dass Südamerika zum ersten Mal seit
vielen Jahrhunderten unabhängig von der Kontrolle westlicher
Mächte, insbesondere der USA handele. Aufgrund dieser
Unabhängigkeitsbestrebungen entwickeln die USA weitere
Militärprogramme, um das zu stoppen.

"Die Nato ist heute eine von den USA betriebene globale
Interventionsmacht"

Auf der einen Seite werden die EU und Deutschland angesehen als
friedenorientierter und moderater. Auf der anderen Seite ist
zum Beispiel Deutschland der drittgrößte Waffenexporteur der
Welt, liefert militärische Ausrüstung nach Israel und in andere
Spannungsgebiete. Welche Rolle sollte die europäische Union,
insbesondere Deutschland, in internationalen Beziehungen
spielen?

Noam Chomsky: Europa könnte eine größere Rolle spielen, um
Frieden international voran zu bringen. Im Fall Iran könnte
Europa die Kriegsgefahr abschwächen helfen. Bei den drei
Nicht-Unterzeichnern des Atomwaffensperrvertrags, Indien,
Pakistan und Israel, die alle ihre Atomwaffensysteme mit
Unterstützung durch die USA erlangten, könnte Europa Druck
ausüben, so dass diese Staaten den Vertrag unterschreiben
müssten und sich in Richtung auf eine nuklearwaffenfreie Zone
bewegten.

Es ist interessant, was mit Europa passiert ist. Gehen wir zum
Ende des Kalten Krieges zurück. Der Fall der Berliner Mauer.
Wenn irgendjemand der Propaganda der vorangegangenen fünfzig
Jahre geglaubt hatte, hätte man erwarten können, dass die Nato
sich nun auflöst. Die Nato wurde ja eingerichtet, um Europa vor
den russischen Horden zu schützen.

Es gab nun keine russischen Horden mehr. Also okay, dann lass
uns die Nato auflösen. Tatsächlich passierte aber das
Gegenteil. Die Nato expandierte in Verletzung von
Versprechungen, die Gorbatschow gemacht wurden.

Die USA sind sehr vorsichtig und fixieren solche Dinge niemals
schriftlich. Gorbatschow war naiv genug zu glauben, was ihm von
Präsident Bush, US-Außenminister James Baker und Kanzler Helmut
Kohl und anderen versprochen wurde. Sie sagten ihm
unmissverständlich, dass sich die Nato nicht einen Millimeter
Richtung Osten, nach Ostdeutschland oder anderswo hin ausweiten
werde. Es ist nicht verschriftlicht worden, die Akteure
behaupten also, sie hätten es nie versprochen. Aber es war sehr
eindeutig und explizit.

Gorbatschow nahm an, dass ein Staatsmann, wenn er etwas sagt,
es auch meint. Nicht sehr klug. Sofort begannen die USA mit der
Expansion Richtung Osten. Jetzt ist die Nato noch darüber
hinaus ausgeweitet worden. Tatsächlich ist die derzeitige
Strategie der Nato ausdrücklich, Kontrolle über das globale
Energiesystems, über Pipelines und Schifffahrts- und
Handelsrouten zu erlangen. Das ist die offizielle Rolle der
Nato. Sie ist heute eine von den USA betriebene globale
Interventionsmacht. Europa muss das nicht akzeptieren.

Wenn man auf die Ursprünge der Nato schaut, sieht man, dass
Kontrolle über Europa einer der Gründe für die Gründung der
Nato war, um sicher zu gehen, dass Europa nicht einen
unabhängigen Weg einschlagen würde: Ein Europa etwa wie bei de
Gaulle vom Atlantik bis zum Ural ohne die USA oder wie in Willy
Brandts Ostpolitik, eine Politik, die die USA nicht mochten.

Über Jahrhunderte war Europa eine der blutigsten Gegenden in
der Welt. Die liebste Beschäftigung der Europäer war, sich
gegenseitig abzuschlachten. Im dreißigjährigen Krieg wurde ein
Drittel der europäischen Bevölkerung ausgelöscht. Das ist die
Art, in der Europa die Welt erobert hat, indem man dort eine
Kultur der Grausamkeit entwickelte.

Das war so extrem, dass, wenn Europa die Welt konfrontierte,
niemand in anderen Gegenden bisher derartige Kriege erfahren
hatte. Europa war ein grausamer Ort. Ab 1945 änderte sich das.
Nicht weil die Gene sich änderten. Die Europäer kapierten es
schließlich, dass beim nächsten Mal, wenn sie ihr
Lieblingsspiel spielen würden, sich gegenseitig abzuschlachten,
sie alles auslöschen würden. Die technologischen
Vernichtungsmöglichkeiten hatten einen Punkt erreicht, ab dem
man dieses Spiel nicht mehr spielen kann. Also ja, Europa wurde
friedlich.

Schaut man auf die politische Wissenschaft, dann findet man
dort lange Diskussionen, dass es die Demokratie gewesen sei,
die die Europäer friedlich gemacht habe. Ich denke Demokratie
hatte wenig damit zu tun. Was sie friedlich machte ist die
Einsicht, dass man so etwas nicht mehr machen kann, weil es
Selbstmord bedeuten würde.

Heute könnte Europa für friedliche Lösungen eintreten, eine
atomwaffenfreie Zone im Nahen Osten fordern. Es könnte die
Afrikanische Union unterstützen oder südpazifische
Anstrengungen. Es könnte viele Dinge tun, welche aktiv
eingreifen ins Weltgeschehen, aber nicht aggressiv, sondern für
wirklichen Frieden.