Kapitalismus TOTGESAGT LEBT LAENGER
Niedergang oder Renaissance des Neoliberalismus?
von Christoph Butterwegge
Am 17. Juli 2008 veröffentlichte die Financial Times Deutschland unter dem Titel "Das war.s, Neoliberalismus" einen Gastkommentar von Joseph Stiglitz, Professor für Wirtschaftswissenschaft an der Columbia University, welcher mit den Worten endet: "Der neoliberale Marktfundamentalismus war immer eine politische Doktrin, die gewissen Interessen diente. Sie wurde nie von ökonomischer Theorie gestützt, ebenso wenig von historischen Erfahrungen. Wenn diese Lektion jetzt gelernt wird, wäre das ein Hoffnungsschimmer hinter der dunklen Wolke, die momentan über der Weltwirtschaft hängt." Als die traditionsreiche US-amerikanische Investmentbank Lehman Brothers knapp zwei Monate später zusammen- und die Finanzmarktkrise damit für alle Welt sichtbar ausbrach, wurde vielen Menschen schlagartig bewusst, dass die Deregulierungen des Bankenwesens das Desaster vergrößert, wenn nicht gar verursacht hatten. Selbst die FAZ sprach am 8. Oktober 2008 vom Neoliberalismus bereits in der Vergangenheitsform: "Der Neoliberalismus war (!) eine Abenteuergeschichte, und die ganze Gesellschaft fieberte mit. Heute kommt sie uns vor wie eine Käpt.n-Blaubär-Story. Wir brauchen eine neue Geschichte."
Über die Neoliberalen ergossen sich Spott und Häme selbst in Medien, die ihre Hegemonie begründet und gesichert hatten. In der Zeit (v. 16.10.2008) mokierte sich Susanne Gaschke unter dem Titel "Die Neunmalklugen" über die "Gehirnwäsche" durch "Propagandisten der regellosen Marktwirtschaft", hießen sie nun Hans-Werner Sinn oder Horst Köhler. Als hätte die Wirtschaftsredaktion der Hamburger Wochenzeitung nicht selbst jahrelang das Hohelied von Standortwettbewerb, Senkung der Lohnnebenkosten, Privatisierung und Deregulierung gesungen, statt gesellschaftskritischen Stimmen und gewerkschaftsnahe Positionen auch bloß ansatzweise Gehör zu schenken! In der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (v. 23.11.2008) schrieb Nils Minkmar: "Die Liberalen müssen sich mit dem faktischen Kollaps ihrer schönen, als Wissenschaft getarnten Ideologie auseinandersetzen und sich fragen, wie das eigentlich kommt, dass Unternehmer und Finanzhelden, die doch in den letzten Jahrzehnten so herrlich ungestört arbeiten konnten, mit ihrem Geld nicht ausgekommen sind und nun bei den Finanzministern quengeln wie Kleinkinder vor den Schokoriegeln an der Supermarktkasse."
Beschönigungen, Beschwichtigungen und falsche Schuldzuweisungen
Gerd Held bestritt in einem Leitartikel der Welt (v. 19.9.2008), dass Geldgier und Größenwahn die Bankenkrise ausgelöst hätten, fragte allerdings nicht nach deren Systembedingtheit und gelangte zu dem Schluss: "Nicht der Kapitalismus ist in der Krise, sondern der Versuch, die realwirtschaftlichen Zwänge zu umgehen." Man hätte nach Helds Ansicht offenbar nur den exzessiven Handel mit Derivaten und Zertifikaten unterbinden oder besser steuern müssen, um alle Probleme umgehen oder meistern zu können. Held sah in dem Krisendebakel weder ein Argument für die kapitalismuskritische Linke noch ein Menetekel für den Aktionärskapitalismus, sondern einen schlagenden Beweis für die Unverzichtbarkeit der Marktökonomie: "Die Bankenkrise führt uns vor Augen, wie sehr wir das Kapital brauchen und wie wenig uns die ganze Kritik an den .Heuschrecken. weitergeholfen hat. Der Kapitalismus kehrt zurück in die Gesellschaft. Damit könnte auch die öffentliche Debatte aus der langweiligen Selbstgefälligkeit des .Sozialen. herausfinden: Sozial braucht Arbeit, Arbeit braucht Kapital."
Während Norbert Röttgen, Parlamentarischer Geschäftsführer der Unionsfraktion im Bundestag, in einem Interview, das die taz am 18./19. Oktober 2008 veröffentlichte, ein Versagen des kapitalistischen Wirtschaftssystems zugab, markierte der hessische Ministerpräsident Roland Koch nur wenige Tage später in der FAZ (v. 22.10.2008) die politisch-ideologische Verteidigungslinie des Liberalkonservatismus, als er unter der Überschrift "Versagt hat nicht die Marktwirtschaft" das bestehende Wirtschaftssystem verteidigte, die globale Finanzkrise auf staatliche Regulierungsdefizite zurückführte und energisch bestritt, dass ein Systemdefekt vorlag. Im Unterschied zu den angelsächsischen Neoliberalen haben die deutschen Ordoliberalen den Staat stets als Schiedsrichter und Schutzmacht der Marktteilnehmer betrachtet. Nunmehr schlägt die Stunde der Freiburger und nicht der Chicagoer Schule, sehen sie doch ihre Auffassung bestätigt, dass er dem Kapitalismus im Bedarfsfall politische Nothilfe leisten, diesen aber nicht reglementieren soll: "Wie in jeder Katastrophe darf der Staat retten, aufräumen, wiederaufbauen. Dann aber muss er wieder heraus aus den wirtschaftlichen Prozessen des Tages und zurück in die Schranken des Regelwerkes."
Dieter Rulff hat in der taz (v. 20.4.2009) unter dem treffenden Titel "Totgesagte leben länger" darauf hingewiesen, dass die Weltfinanzwirtschaftskrise den (Sozial-)Staat keineswegs stärkt, sondern schwächt, weil er nicht bloß die Verluste trägt, die Broker, Banker und Börsianer verursacht haben, sondern auch kaum die unsozialen Spätfolgen des Fiaskos wie Massenarbeitslosigkeit und -armut beseitigen kann. Zwar scheint es, als erlebe der (Wohlfahrts-)Staat gegenwärtig eine Renaissance und als neige sich die Ära der forcierten Privatisierung von Unternehmen, öffentlicher Daseinsvorsorge und sozialen Risiken ihrem Ende zu. Marktradikale müssten nach dem Scheitern ihrer Liberalisierungs-, Deregulierungs- und Privatisierungskonzepte eigentlich in Sack und Asche gehen, haben aber politisch und ideologisch schon wieder Oberwasser. Sie waren nie gegen Staatsinterventionen ganz allgemein, sondern nur gegen solche, die Märkte, unternehmerische Freiheit und Profitmöglichkeiten beschränken. Dagegen sind selbst massive Eingriffe wie das praktisch über Nacht unter aktiver Mitwirkung von Spitzenmanagern der betroffenen Finanzinstitute geschnürte 480-Mrd.-Paket zur Rettung maroder Banken ausgesprochen erwünscht, wenn hierdurch die Börsen stabilisiert und die Gewinnaussichten der Unternehmen verbessert werden. Dabei handelt es sich um einen marktkonformen Staatsinterventionismus im Sinne der Großwirtschaft, die selbst entsprechende Konzepte vorgeschlagen und gemeinsam mit den zuständigen Ministerien entwickelt hat.
Börsen, Bankaktien und Ideologieproduktion im Aufschwung
Das für den Gegenwartskapitalismus kennzeichnende Kasino im Finanzmarktbereich wird derzeit nicht etwa . wie es z.B. die globalisierungskritische Organisation attac verlangt . geschlossen, sondern mit Steuergeldern saniert und modernisiert. Angela Merkel wollte ausgerechnet Hans Tietmeyer, zunächst Staatssekretär im Finanzministerium, dort eigentlicher Verfasser des Lambsdorff-Papiers, später Präsident der Bundesbank und Kuratoriumsvorsitzender der "Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft" (INSM), zum Chefberater für die Reorganisation der Finanzmärkte ernennen. Da sollte mithin der Bock zum Gärtner gemacht werden, wie auch der IWF als Weltfinanzaufsicht vorgeschlagen wurde. Als könnte der Teufel mit dem Beelzebub ausgetrieben werden!
Statt nachhaltig Lehren aus dem Krisenfiasko zu ziehen, tun neoliberale Professoren, Publizisten und Politiker so, als hätten sie immer schon prophezeit, dass die Blase an den Finanzmärkten irgendwann platzen würde. Die meisten Ideologen der Marktfreiheit weisen heute jede Verantwortung für den Banken- und Börsenkrach von sich, sprechen jetzt selbst vom "Kasinokapitalismus" (Hans-Werner Sinn) und erwecken damit den Eindruck, sie hätten womöglich eher als Globalisierungs- und Kapitalismuskritiker/innen vor dessen schlimmen Auswüchsen gewarnt. Sehr geschickt nutzen prominente Neoliberale die Talkshows und andere öffentliche Bühnen, um "der Politik" den Schwarzen Peter zuzuschieben. Entweder wird das Desaster auf die Fehlentscheidungen einzelner Personen (Spitzenmanager, Investmentbanker) oder das Versagen des Staates und seiner Kontrollorgane (Politiker, Finanzaufsicht) reduziert. Neoliberale überraschen entweder durch flotte Sprüche (Friedrich Merz: "Mehr Kapitalismus wagen!") oder durch ein staatstragendes Verhalten (FDP-Vorsitzender Guido Westerwelle).
All das unterstreicht nur die fehlende Bereitschaft der handelnden Personen, einen wirklichen Neuanfang zu wagen, und die Machtlosigkeit ihrer Kritiker/innen, personelle und inhaltliche Alternativen zu erzwingen. Zwar befindet sich der Neoliberalismus in einer Legitimationskrise, seinen dominierenden Einfluss auf die Massenmedien und die öffentliche Meinung sowie die politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse hat er bisher jedoch weder hierzulande noch im Weltmaßstab eingebüßt. Obwohl die Finanzmarktkrise von den angelsächsischen Musterländern einer "freien Marktwirtschaft" ausging, ist die neoliberale Hegemonie in der Bundesrepublik, der Europäischen Union und den USA vielmehr ungebrochen.
Zumindest reichlich verfrüht, wenn nicht naiv wäre auch die Hoffnung, der Neoliberalismus hätte seine Macht über das Bewusstsein von Millionen Menschen verloren, nur weil sie um ihr Erspartes fürchten und mit ihren Steuergroschen ein Mal mehr die Zeche für Spekulanten und Finanzjongleure zahlen müssen. Gleichwohl bleibt zu hoffen, dass die globale Finanzmarktkrise zur Überwindung der neoliberalen Hegemonie und zur allgemeinen Rehabilitation der Staatsintervention beiträgt. Stellt man die Frage, was nach dem Neoliberalismus kommt, sollte man die beiden Perspektiven eines sich radikalisierenden und eines seriöser auftretenden, noch subtiler agierenden Marktfetischismus nicht übersehen.
Prof. Dr. Christoph Butterwegge lehrt Politikwissenschaft an der Universität zu Köln.
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Montag, 14. September 2009
Vier Krisen oder eine Systemkrise?
von Elmar Altvater
Man kann sich aussuchen, was mehr Schrecken bereitet: die tausend Milliarden Euro, die die Finanzkrise die Steuerzahler überall in der Welt kostet, die verheerenden Auswirkungen der Wirtschaftskrise auf Arbeitsplätze, Arbeitsbedingungen und Arbeitseinkommen, der Hunger in der Welt, der nach Angaben der FAO mehr als eine Milliarde Menschen bedroht und tagtäglich Tausende von Opfern fordert, oder der drohende Klimakollaps. Fallen diese Krisenerscheinungen, die dramatischer sind als jene der großen Weltwirtschaftskrise vor 80 Jahren, nur zufällig zusammen, dann haben wir es also mit mehreren Krisen ohne inneres Band zu tun oder handelt es sich um die verschiedenen Ausdrucksformen einer tiefen Systemkrise, wie sie in der Geschichte des Kapitalismus bislang noch nie vorgekommen ist?
Selbst nach Auffassung des Weltwirtschaftsforums von Davos, wo sich alljährlich die politischen und wirtschaftlichen Eliten der Welt treffen, handelt es sich um "globale Risiken", die die menschliche Sicherheit und die soziale und politische Stabilität des Weltwirtschaftssystems gefährden. Die Finanzkrise hat sogar dazu geführt, dass die Parteien der Großen Koalition sich die Forderungen von ATTAC nach einer globalen Transaktionssteuer auf Kapitaltransfers zueigen gemacht haben. Wenn das nicht nur ein opportunistisches Wahlkampfmanöver kurz vor dem 27. September 2009 ist, deutet sich darin ein politischer Wandel an, der auf die tiefe Verunsicherung und intellektuelle Ratlosigkeit der politischen Eliten in der kapitalistischen Systemkrise, in der Vierfachkrise der Energieversorgung, der Nahrungssicherheit, des Klimawandels und nicht zuletzt der zusammen brechenden Finanzmärkte und der Wirtschaft schließen lässt.
Die Mutter aller Krisen
Die gegenwärtige Finanzkrise ist nicht die erste Krise in der Geschichte des kapitalistischen Systems. Viele Menschen haben in Finanzkrisen viel verloren, doch Gesellschaften kollabieren nicht, wenn sie in eine schwere ökonomische und finanzielle Krise geraten. Im Gegenteil, die ökonomischen Krisen sind, wie Karl Marx kritisch analysierte, eine Art "Jungbrunnen" des Systems, das durch "schöpferische Zerstörung" (Schumpeter) die Rentabilität des Kapitals steigert und seine Herrschaftsbasis erneuert. Bei Naturkatastrophen ist das anders. Die Zerstörungen in der Natur sind nicht reversibel und ihnen folgt keine schöpferische Kraft. In der bisherigen Menschheitsgeschichte blieben in den ökologischen Katastrophen regionale oder lokale Kulturen auf der Strecke; die Gesellschaften auf den Osterinseln verschwanden, die Kulturen der Maya oder der Inka auch. In Zeiten der Globalisierung haben alle Krisenerscheinungen jedoch eine globale Reichweite. Ein globaler Kollaps von Klima, Energieversorgung und Biodiversität und daher der Produktion von Nahrungsmitteln hätte nicht nur monetäre Verluste wie in der Finanzkrise zur Folge, sondern die Zerstörung menschlicher Lebensbedingungen.
Es ist keine Frage, dass die Industrieländer dafür hauptverantwortlich sind, dort befindet sich nicht nur das Epizentrum, sondern die Mutter aller Krisen: das westliche Konsum- und Produktionsmodell der kapitalistischen Metropolen. Es verlangt hohe Zuwachsraten der Produktivität, ist auf Massenproduktion, folglich auf Massenkonsum ausgelegt, und verbraucht daher massenhaft Rohstoffe, fossile Energie, Landflächen und es tendiert dazu, die Biodiversität monokulturell zu reduzieren. Zugleich sind die Industrieländer die Machtzentren der globalisierten kapitalistischen Welt und hätten daher das Potential, der Vierfachkrise entgegen zu steuern. Doch die globale Finanzkrise hat zur Folge, dass das Geld als Medium der politischen Intervention und Regulation zwar die Feuer im Finanzsektor löscht, aber zur Bekämpfung der Brände in der reproduktiven Realwirtschaft, zur Schaffung von Arbeitsplätzen, im Treibhaus Erde oder bei der Energie- und Nahrungsmittelversorgung nur unzureichend zur Verfügung steht. Da sind die freigiebigen Finanzminister auf einmal knauserig. So haben die Industrieländer die zugesagten 12 Milliarden Dollar gegen den Hunger zusammengestrichen. Ob die benötigten Billionen gegen den Klimawandel so locker fließen wie die Gelder zum Stopfen der Löcher in den Bankbilanzen ist zweifelhaft.
Die Intransparenz des Systems
Wie konnte es zu der tiefsten Finanzkrise in der Geschichte des Kapitalismus im Jahre 2008 kommen? Die Ursachen reichen bis in die 1970er Jahre zurück, als die Finanzmärkte nach dem Kollaps des Bretton Woods Systems liberalisiert und politische Regeln systematisch dereguliert wurden. Die weltweite Konkurrenz der Finanz-Standorte wird mit hohen Renditen und Zinsen geführt, so dass seit dieser Zeit explodierende Profite des Finanzsektors festzustellen sind. Er wächst daher sehr viel schneller als die "reale Ökonomie". Die Logik des "schnellen Geldes", Kurzfristigkeit und Shareholder Value bestimmen nun das unternehmerische Handeln. Eine Spekulationswelle nach der anderen überrollt die verschiedenen Weltregionen. Der Finanztsunami löst verheerende Finanzkrisen aus: in der dritten Welt in den 1980er Jahren, in den Schwellenländern ein Jahrzehnt später, in den USA in der "New Economy"-Krise 2000. Schließlich wird die gesamte Welt in den Krisenstrudel gezogen. Es zeigt sich, dass Renditen von 20% und mehr auf das Eigenkapital bei realen Wachstumsraten von 1 bis 2% die Ökonomie strangulieren und die Welt in extrem reiche Prämien-, Boni- und Renditebezieher einerseits und eine ebenso extrem wachsende Masse armer und schlecht ernährter, ja hungernder Menschen andererseits spalten.
Da die unmäßig hohen Forderungen des Finanzsektors real nicht dauerhaft bedient werden können, erweisen sie sich als wertlos. Es entsteht also ein immenser Abschreibungsbedarf auf verbriefte Forderungen, den niemand genau beziffern kann. Die neoliberale Deregulierung der vergangenen Jahrzehnte hat vor allem Eines erreicht: eine Intransparenz des Systems, so dass dessen Hauptakteure sich wie mit einem Brett vor dem Kopf bewegen. Die Verschleierung hat auch zur Folge, dass der systemische Zusammenhang der verschiedenen Ausdrucksformen der Krise nur mehr verschwommen wahrgenommen wird.
Logik einer festischhaften Warenwelt
Der Klimawandel ist vor allem eine Folge der Verbrennung fossiler Energieträger, weil sich deren Emissionen als Treibhausgase in der Atmosphäre konzentrieren. Der Konzentrationsgrad ist von vorindustriellen circa 280 ppm auf heute etwa 380 ppm angestiegen. Das ist bereits das Maximum, wenn der Temperaturanstieg im Verlauf dieses Jahrhunderts die Marke von zwei Grad Celsius nicht überschreiten soll. Für mindestens 80 Prozent der Treibhausgaskonzentration sind die alten Industrieländer in Nordamerika und Westeuropa verantwortlich. Auch heute noch stammt der größte Teil der Emissionen aus den Auspuffs und Schloten der "reichen" Länder. Der Anstieg der Erdmitteltemperatur hat größte Schäden zur Folge. Diese reichen vom Abschmelzen der Eiskappen an den Polen, dem Anstieg des Meeresspiegels, von Überflutungen küstennaher Gebiete, ausgedehnten Dürren mit Wüstenbildung bis zu ungewöhnlichen Wetterereignissen wie Hitzewellen oder zerstörerischen tropischen Stürmen und Überschwemmungen. Um diese Schäden einzudämmen, muss der CO2-Ausstoß radikal reduziert werden. Ob dann aber das wirtschaftliche Wachstum so gesteigert werden kann, dass wieder Renditen von 20 Prozent auf Finanzpapiere zustande kommen, ist mehr als fraglich.
Der Klimawandel kostet bis zu einem Fünftel des globalen Sozialprodukts. Doch kann man globale Risiken und Krisen in monetären Größen überhaupt bewerten und so von der qualitativen Verschiedenheit der ökologischen, sozialen, ökonomischen und politischen Folgen des Anstiegs der Erdmitteltemperatur absehen? Mit der Geldbewertung der Folgen des Klimawandels wird implizit unterstellt, dass die Schäden durch entsprechenden Geldaufwand zu vermeiden oder zu beheben seien. Doch man unterwirft sich so der Logik der fetischhaften Warenwelt und glaubt, rational anwendbare Kriterien für den Klimaschutz gefunden zu haben. Er ist ein gutes Geschäft, weil nur ein Prozent des globalen Sozialprodukts aufgewendet werden müssen, um den Verlust von 20 Prozent des globalen Sozialprodukts als Folge des Klimawandels zu vermeiden. Doch eine wirkliche Prävention ist nur möglich, wenn das Energieregime von der Quelle (der Extraktion des Öls aus dem Boden) bis zur Senke (der Deponierung der Treibhausgase in der Atmosphäre) umgebaut wird.
Neue Spekulation auf Rohstoffe
Die Finanzkrise des Immobiliensektors seit 2007 ihrerseits hat zur Folge, dass Geldvermögensbesitzer auf der Suche nach renditeträchtigen Anlagen nun in Rohstoffe oder in Derivate von Rohstoffwerten investieren, so dass deren Preise steigen. Die Finanzspekulation übt so einen Einfluss auf die Preise fossiler Energie für die Motoren der Autos und auf die Preise von biotischer Energie für die Ernährung von Menschen aus. Weil diese Energieformen zum Teil substituierbar sind, wird es rentabel, bei steigendem Preis fossiler Energie die in Pflanzen gespeicherte biotische Energie als Energiequelle für Motoren zu nutzen, die eigentlich für die Verbrennung fossiler Energie konstruiert worden sind.
Die finanzielle Spekulation auf steigende Preise würde zu einem Halt kommen, wenn nicht tatsächlich "fundamentale" Tendenzen die Preissteigerung tragen würden. Das Öl hat den Höhepunkt der Förderung erreicht oder wird ihn sehr bald erreichen ("Peakoil"). Das Angebot von Öl lässt sich nach dem Peak nicht mehr dauerhaft steigern. Sicher ist es möglich, kurzfristig die Ölförderung zu erhöhen. Doch ist dies mit hohen Kapitalinvestitionen in die Infrastruktur der Förderung (zumal im Falle "unkonventionellen Öls", etwa bei Tiefseebohrungen), in den Transport (Pipelines), die militärische Sicherung der Transportrouten (etwa am Horn von Afrika) und die Verarbeitung (Raffinerien) verbunden. Da gleichzeitig die Nachfrage nach fossiler Energie in der Welt zunimmt, gehen auf freien unregulierten Märkten die Preise unweigerlich in die Höhe. Darauf setzen neoliberale Ökonomen: Die marktbedingten Preissteigerungen des Öls seien der beste Klimaschutz, weil wegen des höheren Preises weniger Öl verbrannt werde.
Mit Klimainvestitionen aus der Krise
Wenn dieser Effekt aber zustande kommt, nicht weil weniger mit dem Auto gefahren wird, sondern weil nun mehr Agrokraftstoffe in den Tank der Autos gefüllt werden, wird die Landnutzung von der Nahrungsmittelproduktion zur Spritdestille umgewidmet. Die unzureichend regulierte Flächennutzungskonkurrenz ist der wichtigste Grund für den starken Preisanstieg bei Nahrungsmitteln im Jahr 2008, für die Zunahme des Hungers und für die Hungerrevolten in vielen Ländern.
Unter der Knappheit von Nahrungsmitteln, der Energiearmut, der Ungleichheit und Armut leiden vor allem die Menschen im Süden; die Ursachen sind aber eher in der Wirtschaftspolitik der Industrieländer zu finden. Wenn die Krisenfolgen zur gesellschaftlichen Chaotisierung und zur Missachtung und Verletzung von Menschenrechten führen, erheben die westlichen Länder und ihre Bündnisse (etwa die NATO) den Anspruch, eine "Schutzverantwortung" für die betroffenen Menschen mit Hilfe militärischer Interventionen wahrnehmen zu müssen. Doch militärisch ist weder dem Klimawandel noch Peakoil, weder der Finanzkrise noch der Ernährungskrise und ihren Folgen, z.B. der erzwungenen Migration, beizukommen.
Auch werden neue Investitionsgelegenheiten in die Diskussion gebracht. Zum Beispiel bieten sich im Klimaschutz günstige Investitionsgelegenheiten, jedenfalls auf den ersten Blick. Das Volumen des Emissionshandels wird, wenn dieser vom europäischen Handelssystem auf die ganze Welt ausgedehnt wird, mit bis zu 20 Billionen US-Dollar beziffert. Das sind übertriebene Erwartungen, da der Emissionshandel wohl nur dann in diesen Größenordnungen in Gang kommen kann, wenn die Finanzmärkte sich «normalisieren». Hinzu kämen noch Investitionen zur Extraktion mineralischer Rohstoffe und zum Anbau von Agro-Kraftstoffen, um Konsequenzen aus der rückläufigen Ölförderung zu ziehen.
Wege aus der Krise
In diesen neuen Geschäftsfeldern könnte ein guter Teil des brachliegenden und nicht entwerteten beziehungsweise durch staatliche Infusionen ersetzten Kapitals mit Investitionen absorbiert werden. Nur wenn es den Banken gelingt, die durch die Nationalstaaten bereitgestellten Finanzmittel an Schuldner zu Investitionszwecken auszuleihen, ist eine Rückzahlung der Rettungspakete an die öffentlichen Kassen gewährleistet, sonst nicht. Der Preis wäre hoch, nämlich die ökologische Zerstörung und die Zuspitzung sozialer Konflikte. Ein hoher Preis wird aber auch fällig, wenn die Mittel für den Finanzsektor nicht für Investitionen verwendet werden. Dann müssten entweder die Steuerzahler die entstehenden Verluste übernehmen oder sie werden in einem inflationären Prozess umverteilt und mithilfe einer Abwertung der Währung externalisiert. Die letztgenannte Möglichkeit haben freilich nur Länder wie die USA, deren Währung als Reservewährung gehalten wird, andere Länder haben sie nicht.
Der systemische Charakter der gegenwärtigen Krise zeigt sich also auch in den Programmen der Krisenbekämpfung. Eine Abwrackprämie mag vorübergehend Arbeitsplätze sichern. Doch sie verlängert auch das fossile Energiemodell, aus dem ein Ausweg gefunden werden muss, weil das Öl zur Neige geht und der Klimakollaps droht. Alternative Treibstoffe aus Biomasse ihrerseits waren bislang hauptverantwortlich für die Hungerkrisen in der Welt. Die Herausforderungen für die Wirtschaftspolitik in der Systemkrise sind also größer als es der Streit um Umfang und Richtung von Konjunkturprogrammen vermuten lässt. Wenn die Finanzkrise ein Aspekt einer systemischen Krise ist, ist zu ihrer Überwindung mehr nötig als die Rettung von Bankhäusern, die sich mit «irrationalem Überschwang», wie dies Alan Greenspan nannte, verspekuliert haben.
Fotonachweis: krockenmitte / photocase.com
Prof. Dr. Elmar Altvater ist emeritierter Professor für Politikwissenschaften am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin
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Montag, 21. September 2009
Erwiderung auf den Beitrag von Elmar Altvater
von Norbert Reuter
Nichts aus der Krise gelernt!
Elmar Altvater hat völlig recht, wenn er die gegenwärtige Krise als grundlegende "Systemkrise" beschreibt. Das anzuerkennen würde bedeuten, dass es ein "Weiter so" genauso wenig geben kann, wie ein "Brückenbauen" über die Krise hin zu alten Ufern. Stattdessen verbreitet die Regierung die Mär, Deutschland sei auf einem guten Weg gewesen, die richtigen Weichen . wie die "Agenda 2010" . seien gestellt worden. Lediglich die von den USA ausgehende Finanzmarktkrise habe das neue deutsche Wirtschaftswunder (so Frank-Walter Steinmeier noch Mitte 2007) torpediert.
Um jedoch wirkliche Lehren aus der Krise zu ziehen, müssen zunächst die Ursachen der gegenwärtigen Weltwirtschaftkrise klar benannt werden: Umverteilung, wachsende Einkommens- und Vermögenskonzentration und in der Folge Überakkumulation und globale Ungleichgewichte.
Deutschlands fatale Rolle in der Weltwirtschaft
Deutschland gehörte in der Vergangenheit zu den Treibern einer ungleichen Einkommensentwicklung. Nirgendwo sonst in Europa verlief sie in den letzten Jahren so schlecht wie hier. Während die Reallöhne pro Kopf in allen EU-Ländern zwischen 2000 und 2008 Steigerungen von größtenteils über zehn Prozent verzeichneten, sind sie in Deutschland im selben Zeitraum um knapp ein Prozent gefallen. Das hat einerseits die Binnennachfrage massiv beschnitten, andererseits die Exporte beflügelt. Qualitativ hochwertige Produkte "Made in Germany" konnten immer günstiger auf den Weltmärkten angeboten werden. Andere Länder wurden so zunehmend aus dem Exportgeschäft gedrängt und mussten im Ergebnis massive Exporteinbrüche hinnehmen. Dagegen stiegen die Exportüberschüsse Deutschlands zwischen 2000 und 2007 von gut sieben Milliarden Euro auf über 170 Milliarden Euro massiv an.
Die Überschüsse des einen Landes erzwingen aber Defizite und Verschuldung des anderen Landes. Zusammen mit China und Japan hat es Deutschland bis 2008 auf einen Überschuss von über einer Billion Euro gebracht. Dem stehen die großen Schuldnerländer . vor allem die USA, aber auch Spanien und Großbritannien . mit einem Defizit in gleicher Größenordnung gegenüber. Mit der Finanzmarktkrise ist dieses auf globalen Ungleichgewichten und massiver Verschuldung beruhende Wachstumsmodell zusammengebrochen. Deutschland ist deshalb besonders von der Krise betroffen. Denn der Preis für den Titel des Exportweltmeisters ist die massive Schwäche der Binnennachfrage. Der private Konsum blieb seit 2003 erstmals anhaltend hinter dem Anstieg des Bruttoinlandsproduktes zurück. Wegen der ausbleibenden Konsumimpulse war der Aufschwung in Deutschland schon zu Ende, bevor die Finanzmarkt- und Weltwirtschaftskrise Absatz und Produktion dramatisch nach unten riss.
Umverteilung als Treibsatz auf den Finanzmärkten
Damit liegen auch die tieferen Ursachen der Finanzmarktkrise keineswegs nur jenseits des Atlantiks. Die Umverteilung . nicht zuletzt in Deutschland . hat zu einer Explosion bei den Gewinnen und Vermögenseinkommen geführt. Mangels fehlender Nachfrage flossen die hohen Gewinne immer weniger in Investitionen und immer mehr auf die internationalen Kapitalmärkte. Zwischen 2004 und 2007 verhielten sich die Unternehmen in Deutschland in ihrer Gesamtheit wie eine Bank. Statt Kapital für Investitionen aufzunehmen und sich zu verschulden, bildete der Unternehmenssektor Überschüsse. Weit über 70 Milliarden Euro flossen so im Zeitraum 2004 bis 2007 aus dem Unternehmenssektor auf den Kapitalmarkt. Hinzu kamen weitere Kapitalmassen als Folge der wachsenden Vermögenskonzentration - auch im Zuge der weltweiten Privatisierung der Altersvorsorge. Mittlerweile machen Pensionsfonds mit knapp 30 Billionen Euro rund ein Viertel des weltweit angelegten Vermögens aus.
Zusammengenommen haben diese Entwicklungen sukzessive den Charakter der Finanzmärkte völlig verändert. Nicht mehr die Finanzierungsfunktion und damit die Nachfrage nach Liquidität bestimmt die Märkte, sondern der renditesuchende Finanzanleger. Das massive Angebot an Kapital muss irgendwo untergebracht werden . bei gleichzeitig hohen Renditeanforderungen. Wozu dies geführt hat, lässt sich an den Finanzprodukten zeigen. Sie hat am Ende niemand mehr verstanden . außer dass sie angeblich hohe Renditen mit überschaubaren Risiken abwerfen würden.
Die Agenda für die Zukunft
Vor dem Hintergrund der Folgen dieser nationalen wie globalen Umverteilung sind die derzeit diskutierten wirtschafts- und finanzpolitischen "Reformen" völlig ungenügend. Bankenrettung, Konjunkturpakete, Boniregelungen, Regulierung von Hedge-Fonds und Ratingagenturen etc. . sind alles Maßnahmen, die lediglich die Symptome kurieren. Um die tieferen Ursachen der globalen Krise angehen zu können, müssten klare Weichenstellungen in Richtung eines neues Wachstums- und Akkumulationsmodells vorgenommen werden. Für Deutschland erfordert dies in erster Linie eine Stärkung der Binnennachfrage über steigende Masseneinkommen und eine deutliche Ausweitung öffentlicher Ausgaben. Dies entspricht dem, was der gerade zu neuem Ruhm kommende englische Ökonom John Maynard Keynes bereits in den 1930er Jahren als wirtschaftspolitische Notwendigkeit für entwickelte Industriegesellschaften gefordert hat. Hinsichtlich der inhaltlichen Ausrichtung wären heute jedoch ökologische Notwendigkeiten stärker einzubeziehen ("Keynes plus").
Ein stärkeres staatliches Engagement erfordert heute in erster Linie einen deutlichen Anstieg staatlicher Ausgaben in zukunftswichtigen Bereichen: Bildung, soziale Dienstleistungen, Umwelt und Infrastruktur. Neben ökologischen Investitionen in die Sanierung von Gebäuden, Abwassersystemen, Wärmedämmung etc. gehört dazu auch deutlich mehr Personal im öffentlichen Bereich, v.a. für Gesundheit, Kitas, Schulen und Hochschulen. Die skandinavischen Länder zeigen hier seit langem, wie es gehen kann. Sie verfolgen einen Entwicklungspfad, in dem der Staat eine zentrale Rolle für die wirtschaftliche Entwicklung spielt. Das wird schon an der Tatsache deutlich, dass dort auf 1.000 Einwohner rund 150 öffentlich Beschäftigte kommen. In Deutschland sind es gerade einmal 55. Aufgrund ideologischer Vorentscheidungen in Richtung Markt und der durch Steuersenkungen selbst produzierten Finanznot der öffentlichen Haushalte ist hier die Tendenz seit Jahren sogar rückläufig.
Vom neoliberalen zum öko-sozialen Entwicklungsmodell
Die Antwort auf die diagnostizierte "Systemkrise" kann nur heißen: fundamentaler Paradigmenwechsel der herrschenden Politik. Die Richtung einer solchen wirtschaftspolitischen Neuorientierung wird durch folgende Leitplanken markiert:
- Eine umfassende Re-Regulierung der Finanzmärkte;
- ein größerer öffentlicher Sektor einhergehend mit einer höheren Staatsquote;
- eine Umverteilung von "oben nach unten" mit dem Ziel einer gleicheren Verteilung von Einkommen und Vermögen;
- eine umfassende Demokratisierung der Gesellschaft, die auch die Unternehmenssphäre mit einschließt.
Erste konkrete Schritte wären die Rücknahme von Gesetzen im Rahmen der "Agenda 2010", die den Druck auf das Lohnniveau massiv erhöht haben. Unabdingbar ist in dem Zusammenhang auch die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns. Zur Finanzierung eines dauerhaft angelegten Zukunftsinvestitionsprogramms ist die chronische Unterfinanzierung des Staates zu beenden. Ver.di hat mit seinem "Konzept Steuergerechtigkeit" gezeigt, wie 75 Milliarden Euro zusätzliche Steuereinnahmen durch eine stärkere Belastung von Gewinnen, Vermögen und hohen Einkommen erzielt werden können.
Dieses hier nur skizzierte öko-soziale Reformpaket ("Keynes plus") geht zweifellos weit über das hinaus, worüber derzeit in Regierungskreisen geredet und nachgedacht wird. In der Tat sind, wie Altvater zutreffend schreibt, die "Herausforderungen für die Wirtschaftspolitik in der Systemkrise größer, als es der Streit um Umfang und Richtung von Konjunkturprogrammen vermuten lässt." Das neoliberale Leitbild der Vorherrschaft des Marktes erscheint noch weitgehend ungebrochen. Ein öko-soziales Reformpaket würde stattdessen den Pfad in eine neue Entwicklungsrichtung eröffnen. Sollte es beim bisherigen Kurieren an Symptomen . national wie international . bleiben, ist nur eines gewiss: Der nächste Crash der Weltwirtschaft.
PD Dr. Norbert Reuter ist in der Abteilung Wirtschaftspolitik beim ver.di-Bundesvorstand tätig
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