Anklageschrift: Deutsche, Polen, Juden / Ordnungsdienst Calel Perechodnik
Anklageschrift: Deutsche, Polen, Juden
Die Versteck-Tagebücher von Calel Perechodnik
Gideon Greif
Die meisten der Tagebücher, die während der Shoah geschrieben wurden, werfen nur
einen begrenzten Blick auf die drei Akteure der damaligen Geschichte: Die deutschen
Täter, die polnischen Zuschauer und die gequälten jüdischen Massen.
Die Bezugnahme auf diese Gruppen ist sehr subjektiv und erfasst die Komplexität des
historischen Gesamtbildes oft nur unzureichend.
Die Tagebücher des Ingenieur-Agronom Calel Perechodnik heben sich hierbei von den
meisten anderen Aufzeichnungen ab. Die Erinnerungen von Perechodnik, die im
Versteck in Warschau geschrieben wurden, sind eine Pflichtlektüre für jeden, der die
authentische Stimmung der jüdischen Opfer verstehen möchte, die Beziehungen
zwischen Juden, den apathischen polnischen Zuschauern und den beispiellos sadis-
tischen und grausamen deutschen Mördern. Diesem Buch kann sich niemand, der
diese komplizierten und schwierigen Aspekte der Shoah verstehen möchte, ver-
schließen.
Diesem Dokument, das wir heute in verschiedenen Sprachen lesen können, gelingt es,
uns die fürchterliche Angst der Juden während der Shoah und ihre schmerzhaften
persönlichen Dilemmata vor Augen zu halten, Situationen und Gefühle, die kaum ein
Dokument so eindrucksvoll schildert und nachvollziehbar macht. Perechodnik versteht
es vor allem, die Dilemmata der Juden unter der Nazi-Herrschaft darzustellen, wie zum
Beispiel der Zwang, die eigenen Mütter, Väter, Frauen und Kinder dem Henker zu
übergeben oder ihre Leichen in die Gruben zu werfen, und danach, trotz dieses
Grauens, für dieselben Henker weiter arbeiten zu müssen. Die Grausamkeiten und
unbegrenzten Greueltaten der Deutschen werden hier von einem Zeitzeugen in ihren
realistischen Dimensionen geschildert.
Wenn man sich dieser Quelle nähert, muß man sich bewusst sein, dass der Autor
seine Erinnerungen mit einem verletzten Herzen schreibt: Er ist überzeugt, dass wegen
seiner persönlichen Unzulänglichkeiten seine Frau und seine Tochter nicht gerettet
wurden, obwohl er als jüdischer Polizist vielleicht die Möglichkeit gehabt hätte, ihnen zu
helfen. Und diese blutige Verletzung, die ihn nicht in Ruhe lässt, schärft seine Analysen
und bringt seine Fähigkeit zu beobachten und zu beurteilen an die äußerste Grenze.
Das Resultat dieser Wunde ist, dass auch die Juden selbst, die Hauptleidtragenden
der deutschen Greueltaten, kritisiert werden, mit einem zu scharfen Urteil, das den
Juden Unrecht tut. Schließlich waren sie - auch wenn sie sich ihren Schwestern und
Brüdern gegenüber falsch verhalten haben - immer in den Händen der Deutschen. Und
diesen kleinen aber entscheidenden Unterschied negiert Perechodnik.
Wer war Calel Perechodnik?
Calel Perechodnik wurde in der Stadt Otwock in der Nähe von Warschau geboren, ein
Kurort, in dem 60% der Bevölkerung jüdisch waren. Er war ein typischer Vertreter der
jüdisch-polnischen Intelligenz aus bürgerlicher Familie und gehörte der rechtsnational
gerichteten, revisionistischen Partei BETAR an. Seine zionistische Geisteshaltung war
hauptsächlich sehr theoretischer Natur. In erster Linie sah Perechodnik sich selbst als
polnischen Patrioten. Er war stolz auf seine Kenntnisse in polnischer Literatur und auf
das perfekte Polnisch, das er sprach, und war bereit, seine Begabungen und Fähigkeiten für seine Heimat Polen einzusetzen. Antijüdische Sentimente hat er vor dem
zweiten Weltkrieg kaum gespürt und war, sofern sie ihm doch bewusst wurden, bereit,
diese zu ignorieren. Antijüdischen Handlungen und Äußerungen, die zur polnischen
Realität gehörten, schenkte er auch dann keine Beachtung, wenn sie ihm persönlich
schadeten, wie zum Beispiel als er seitens einer polnischen Universität abgelehnt
wurde. Er war bereit, den Numerus Clausus zu übersehen. Deshalb ging er nach
Frankreich, um dort sein Studium zu beenden.
Nach Abschluß seines Studiums kehrte er nach Polen zurück. Dort heiratete er Anna
Neufeld, und das Ehepaar bekam ein kleines Mädchen, das Athalie oder auch Etuscha
hieß.
Nach der deutschen Besatzung Polens schloss sich Perechodnik freiwillig der jüdischen Polizei im gegründeten Otwock Ghetto an und nahm an allen Ereignissen im
Ghetto, an verschiedenen Aktionen, so wie auch an der Deportation der Juden zum
Vernichtungslager Treblinka, teil. Transporte, bei denen auch seine Verwandten, seine
Frau und seine Tochter nach Treblinka deportiert wurden.
Perechodnik macht sich große Vorwürfe, dass er die Bitte seiner Frau, ihr eine gefälschte Kennkarte zu besorgen, zuvor ignoriert hatte, weil er überzeugt war, dass er
und seine Familie aufgrund seiner Position als Ghettopolizist geschützt sein würden. Er
hatte die Situation nur teilweise richtig eingeschätzt: er war (zumindest vorübergehend)
sicher vor dem Abtransport; seine Frau und Tochter waren es nicht. Am Tag der
Deportationen aus dem Ghetto, war er als Aufseher damit beauftragt, die Juden aus
seiner Heimatsadt Otwock zu versammeln und auf die Züge zu laden. Nur am Abend
desselbigen Tages erkannte er, dass die Familien der Ghettopolizisten nicht vor der
Deportation verschont bleiben würden. In einem Ausruf der Hilflosigkeit und Angst fleht
er in seinem Tagesbuch seine verlorene Tochter an: .Hinter dem Stacheldraht schaust
Du mich mit ernsten Augen an, meine teuerste Tochter ... Du streckst deine Arme nach
mir aus, aber ich habe kein Recht, dich aufzunehmen. Nähme ich dich auf meinen
Arm, bekäme ich sofort eine Kugel in den Kopf ... Ach, diese Angst, diese panische
Angst der Sklaven!. (S.70)
Die Entwicklungen im Ghetto sind in seinem Tagebuch sehr detailliert mit einem
scharfen, analytischen Blick beschrieben. Er geht den Geschehnissen unverholen und
mit einem klarem Kopf auf den Grund. Er schildert unvermittelt die emotionale Beschaf-
fenheit der überlebenden jüdischen Polizisten im Ghetto: .Die Mehrzahl derer, die
Frauen verloren haben, verlor auch die Energie und den Willen zum Leben. Sie hatten
nicht den Mut, Selbstmord zu begehen, aber sie ließen sich treiben, kümmerten sich
um nichts, ergaben sich ihrem Schicksal. (S.108). Das einzige was sie noch am Leben
erhielt, so schreibt er, war der schlichte .Selbsterhaltungstrieb. und .die Angst vor dem
Tod" (S.113), zwei Grundinstinkte, auf die herab ihre Existenz durch den Naziterror und
die Entmenschlichung reduziert wurde.
Seine besondere Aufmerksamkeit richtet Perechodnik auf die Analyse der Fä-
higkeiten und Talente der deutschen Täter, die Juden zu betrügen, sie in Sicherheit zwiegen, ihre Sensibilität gegenüber der Gefahr und der geplanten Katastrophe einzu-
schläfern und sie passiv und apathisch zu machen. Ebenso schonungslos und scharfsichtig beschreibt Perechodnik die Habgier der Polen, die den Abtransport ihrer
jüdischen Nachbarn kaum erwarten konnten, um sich der zurückgelassenen Habe zu
bemächtigen. Jahrezehnte alte Freundschaften endeten von einer Minute zur anderen.
Das dritte Element des Bildes, die Juden, kritisiert Perechodnik streng wegen ihrer
Naivität, ihrer Unfähigkeit, die Realität zu erkennen und leider auch wegen des unmoralischen Verhaltens mancher Juden, die ihren Unterdrückern ähnlich wurden. Er
verurteilte vor allem die Engstirnigkeit und Blindheit der Juden gegenüber den tatsächlichen Ereignissen. Perechodnik benutzt öfters die Formulierungen .deutscher Sadis-
mus., .polnische Niedertracht., .jüdische Feigheit., als Erklärung für die große Tragödie, die das jüdische Volk erlitten hat.
Ab 6. Dezember 1942 hielt sich Calel in Warschau in einem Zimmer eines Geschäfts
zusammen mit seinen Eltern und einem Mädchen namens Manja, versteckt. Später
kam noch ein Jude zu ihnen, Sevek Buchhalter. Nach einiger Zeit verließ der Vater das
Versteck, lebte offen als Pole in Warschau und finanzierte so das Versteck in diesem
Geschäft.
Am 4. Dezember 1943 wurde der Vater denunziert, von der Gestapo entdeckt und
einen Tag später hingerichtet.
Nach dem Tod des Vaters hatten die Menschen im Versteck kaum noch Kontakt zur
Außenwelt, wissend, dass sie nicht mehr lang in diesem Geschäft würden bleiben
können. Calel, der verstand, dass seine Tage gezählt waren, hatte den ersten Teil
seines Tagebuches beendet und ihn bei einem polnischen Rechtsanwalt hinterlegt, der
ihm die ganze Zeit seit dem Ghetto geholfen hatte, ohne dafür eine Gegenleistung zu
fordern.
Das Mädchen Manja, die mit Perechodnik zwei Jahre im Geschäft versteckt war, ist die
einzige der Personen aus dem Versteck, die überlebt hat. Nach dem Krieg hat sie dem
Bruder Perechodniks, Pessach, von Calel erzählt. Anhand ihrer Erzählungen wissen
wir, dass nach dem Tod des Vaters die versteckten Menschen noch ein Jahr bis
August 1944 in dem Laden geblieben waren und in ihrem Versteck schwer unter Kälte
und Hunger litten.
Mit dem Beginn des polnischen Aufstandes verließen die Besitzer der Wohnung die
versteckten Menschen und wechselten zur russischen Seite. Die Menschen aus dem
Ladenversteck mußten sich andere Bunker und Keller suchen. Calel und Buchhalter
meldeten sich zur polnischen Volksarmee, die Mutter und Manja versteckten sich in
einem Keller. Calel war inzwischen an Typhus erkrankt und versteckte sich bei einer
Jüdin, die mit falschen Papieren als Arierin lebte. Die schweren Bedingungen in
Warschau, ohne Essen, ohne gute medizinische Behandlung, machten Calel deutlich,
dass er sein Leben bald beenden würde. Er gab Manja die Anweisung, sie solle
Warschau verlassen und schwor, dass er in Kürze Zyankali zu sich nehmen werde.
Die letzte Nachricht über Perechodnik erreichte uns von einem Henrik Romanowski,
der mit Calel den Herbst 1944 in einem Bunker in Warschau verbracht hat. Calel blieb
im Keller und ist dort offenbar gestorben. Auch Perechodniks Mutter und Buchhalter
haben nicht überlebt.
Nachdem der erste Teil des Tagebuches dem polnischen Rechtsanwalt übergeben
worden war, hat Perechodnik einen zweiten Teil geschrieben, ein ganzes Jahr, bis
August 1944, jenem Monat, in dem der polnische Aufstand gegen die Deutschen in
Warschau begann. Im Oktober 1944, als er schon schwer an Typhus erkrankt war,
schrieb Perechodnik sein Testament. In diesem Testament vermachte er die Habe
seiner Familie an einige Polen als Dank für deren Bereitschaft, das Leben seiner Eltern
und seines zu retten. Diese Werte, Grundstücke und Häuser, beschreibt er als mora-
lisch passend und angemessen für die Bemühungen dieser Polen, sein Leben und das
seiner Eltern zu retten. Dieses Testament mit dem zweiten Teil des Tagebuches gab
Calel einem polnischen Mädchen, die als Putzfrau bei seiner Familie arbeitete. Das
Tagebuch wurde in einem Keller versteckt, das Testament behielt das Mädchen bei
sich in der Hoffnung, die Erben würden sich für ihre Hilfe erkenntlich zeigen.
Im Januar 1945 kam der Bruder von Calel, Pessach Perechodnik, nach Polen zurück
und entdeckte, dass er der einzige der Familie war, der gerettet wurde. Er ging nach
einiger Zeit nach Otwock zurück und fand das polnische Mädchen, das das Testament
hatte. Durch das Testament erfuhr Pessach, dass Calel ein Tagebuch geschrieben und
dem polnischen Rechtsanwalt anvertraut hatte. Das Tagebuch wurde Pessach Pere-
chodnik gegeben, der auch den zweiten Teil suchen wollte. Daher fuhr Pessach nach
Warschau, um unter den Trümmern des vernichteten Ghettos nach diesem zweiten
Teil zu suchen. Durch die völlige Zerstörung des ehemaligen Ghettos ging der zweite
Teil von Calel Perechodniks Aufzeichnungen verloren und konnte bis heute nicht
wiedergefunden werden.
Der erste Teil des Tagebuches wurde später zum jüdischen historischen Institut in
Warschau gegeben und lag dort mehrere Jahre. Nur aufgrund der Bemühungen des
jüdischen Historikers Pawel Szapiro wurden die Tagebücher Anfang der 90er Jahre
veröffentlicht.
Im Jahre 1990 ist Pessach Perechodnik noch einmal nach Polen gefahren, um sich mit
einigen der Polen zu treffen, die im Tagebuch seines Bruders erwähnt sind. Er hoffte,
weitere Informationen zu bekommen. Einige der Menschen waren bereits tot, aber ihre
Kinder und Verwandten hat er treffen können.
Die vermutliche Vernichtung des zweiten Teils des Tagebuches ist ein großer Verlust,
aber unter den fürchterlichen Bedingungen, in denen das Tagebuch geschrieben
wurde, grenzt es an ein Wunder, dass überhaupt ein Teil, der erste Teil, erhalten
wurde. Dieser Teil, der erst 50 Jahre nach seiner Entstehung veröffentlicht wurde,
erschien zunächst in Polen zu Beginn der 90er Jahre, dann in Israel im Jahre 1993,
später in England und in den USA und jetzt auch in Deutschland 1997 im Verlag zu
Klampen unter dem Titel .Bin ich ein Mörder?..
Perechodnik beschäftigt sich in seinen Aufzeichnungen nicht mit Prophezeiungen. Er
will analysieren und die wirklichen Motive der drei Seiten - Polen, Deutsche, Juden -
aufdecken.
Zur Beschreibung der Ereignisse bedient sich Perechodnik einer sehr scharfzüngigen
Sprache, was seinem Dokument einen sehr kritischen, authentischen Charakter
verleiht. Er dokumentiert alles, was er gesehen und gehört hat, ohne Mitleid und
Selbstmitleid.
Aber der Gedanke, dass er seine Frau und sein Kind hätte retten können, wenn
er sich anders verhalten hätte, es aber aus verschiedenen Gründen nicht getan hat,
zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch. Seine Entscheidung, damals keine
Kennkarte für seine Frau besorgt zu haben, und seine Unfähigkeit und Machtlosigkeit,
sie und seine Tochter vor der Deportation zu schützen, bereiten ihm tiefste Schuldge-
fühle. Den Tag der Deportation beschreibt er folgendermaßen:
.Es bleibt mir nur die Erkenntnis, meine Frau und mein Töchterchen in den Tod geschickt zu haben.
Plötzlich tritt aus den Reihen eine Jüdin namens Kamienciecka heraus. Sie geht forsch
auf die Offiziere zu und zeigt ihnen eine polnische Kennkarte. Sie bekommt ein paar
Schläge ab, aber sie wird freigelassen. Von tausenden Augenpaaren begleitet, ent-
schwindet sie bald im polnischen Viertel. Sie ist gerettet.
Nur Anka schaut ihr nicht nach, sie schaut mich an und sagt nichts. Sie wirft es mir
noch nicht einmal vor, meinetwegen keine Kennkarte zu haben. Gott im Himmel! Was
habe ich angerichtet? Ich wende den Kopf ab und schweige, denn was soll ich sagen?
Soll ich mich herausreden oder gar um Vergebung bitten? Kann man im Angesicht des
Todes überhaupt etwas sagen?. (S.71)
Unbewusst erwartet er die ganze Zeit, ein Zeichen von seiner Frau zu bekommen,
dass sie ihn versteht und ihm verzeiht, aber er weiß, dass sie zusammen mit der
Tochter in Treblinka ermordet wurde und er nie Vergebung bekommt und auch nie
bekommen wird.
Der Schatten dieser Hilflosigkeit, die ihm nächsten und geliebten Menschen nicht
gerettet zu haben, ist der Dreh- und Angelpunkt seiner Aufzeichnungen.
.Du sitzt da und kannst eine Sache nicht begreifen. Wie ist das bloß möglich? Dein
Calinka, der dich zehn Jahre geliebt hat, der dir treu war, der alle deine Gedanken und
Wünsche erriet und sie so gerne erfüllte, jetzt hat er dich verraten und es zugelassen,
dass du den Waggon bestiegst, während er zurückblieb. Vielleicht ging er nach Hause
und legte sich ins saubere Bett, das du gerade frisch bezogen hast, wo der Duft deines
Körpers, deines Lieblingsparfums noch im Raum schwebte, während du mit Aluska auf
dem Arm im Dunkel, im Gedränge, ohne Luft zum Atmen ausharren mußt.. (S. 82- 83)
Perechodniks Schuldgefühle darüber, dass er seine Frau und Tochter nicht retten
konnte, haben sehr destruktive Folgen auf seine Persönlichkeit und er verliert zu-
nehmend seine Selbstachtung und Würde als Mann. Dieser gequälte Selbst-Hass
kommt in seinen Aufzeichnungen immer wieder zum Ausdruck, in Sätzen wie: .Wir
Judenmänner sind es nicht wert, grächt zu werden! Wir sind durch eigene Schuld
gefallen und das nicht auf dem Feld der Ehre.. (S.17) Nachdem der Zug abgefahren
war, stellt er sich die Reise seiner Frau und Tochter in allen Einzelheiten vor: "Du
befindest dich im vierten Waggon hinter der Lokomotive, in dem fast nur Frauen und
Kinder untergebracht sind. Im ganzen Waggon finden sich nur zwei Männer . sollen
das eure Beschützer sein?" (S.82) Aber selbst diese beiden Männer verlassen in
seiner Vorstellung den Viehwagen und springen in Sicherheit. Die Frauen und Kinder
wurden aufgegeben, schutzlos und verlassen von ihren Männern, die zumindest für
kurze Zeit lebend in den Ghettos zurückbleiben.
Perechodniks Anklage gegen sich und die Welt verkörpert eines der dunkelsten
Aspekte der Shoah. Die Ghettos und Konzentrationslager Nazi - Deutschlands waren
eine Welt, in der die Opfer in unlösbare Dilemmata gezwungen wurden, wo kritische
Entscheidungen nicht die Wahl zwischen Leben und Tod reflektierten, sondern die
Wahl zwischen verschiedenen gleichfalls schrecklichen, abnormalen Optionen. In
unzähligen Fällen mussten Eltern zwischen dem Leben ihrer Kinder oder ihrem eige-
nen entscheiden. Das eigene Überleben bedeutete oft den sicheren Tod eines ande-
ren. Dieses Dilemma betraf insbesondere Mitglieder der Judenräte in den Ghettos,
oder Funktionshäftlinge in den Lagern. Wie auch immer sich diese Personen im
einzelnen entschieden, egal wieviel Gutes sie beabsichtigten, sie waren grundsätzliches in ein unlösbares moralisches Dilemma verstrickt.
Die Gründe, aus denen der Menschen während der Shoah Tagebücher geschrieben
haben, sind unterschiedlich. Perechodnik legt seine persönlichen Gründe offen: Für ihn
ist ein Tagebuch ein Kind, das er auf die Welt bringt, als Ersatz für seine ermordete
Tochter Aluska, wie er sie nennt. In dieser Geburt sieht er die Erfüllung zweier Ziele:
Das Andenken seiner Frau und seiner Tochter zu wahren; und ihren Tod zu rächen.
Kurz vor dem Ende des ersten Teils seines Tagebuches taucht ein weiteres Element
auf: Perechodnik versteht sein Buch als ein Dokument über den Tod Millionen jüdi-
scher Frauen und Kinder und eine Anklage gegen die Deutschen, die er von der Erde
getilgt sehen will.
Nach der Lektüre seines Tagebuches ist es möglich zu sagen, dass Perechodnik die Polen, die Deutschen und die Juden wirklich verstanden hat. Verstanden in
dem Sinne, dass er die dunkelsten Punkte analysiert hat und uns die kleinsten Nuan-
cen des Verhaltens und der Beweggründe dieser drei Gruppen zeigt.
Sprechen wir nun zunächst über die Polen: Perechodnik gibt zu, dass er 26 Jahre mit
den Polen gelebt, aber erst mit dem Krieg ihr wahres Gesicht erkannt hat.
.Gerne werde ich über edelmütiges Verhalten der Polen Juden gegenüber schreiben,
aber ich kann über die Gemeinheit derer nicht schweigen, die aus Habgier oder durch
blinden Haß geleitet hunderttausende von Menschenleben geopfert haben. Man muß
der Wahrheit ins Gesicht sehen. Die Juden kamen vor allem deswegen um, weil sie
nicht rechtzeitig erkannt haben, wie weit die deutsche Grausamkeit und deutscher
Vandalismus gehen können. Sie waren aber über die Gemeinheit einiger Polen sehr
gut im Bild, sie wußten, was vor ihnen die Tore des polnischen Stadtviertels verschließt
und sie dazu zwingt, im Ghetto auf das nahe und unausweichliche Todesurteil zu
warten.. (S. 151)
Perechodnik beschreibt detailliert mehrere Polen, die sich an jüdischen Besitztümern
bereicherten, die sie geraubt hatten. Im besonderen kritisiert er die Polen, die ihren
jüdischen Bekannten angeboten haben, deren Eigentum bis nach dem Krieg zu verwahren. Die jüdischen Besitzer sahen ihren Besitz nicht wieder, obwohl sie die polnischen Bekannten gebeten hatten, einen Teil ihres Besitzes zu verkaufen und ihnen das
Geld zu geben, um die größte Not zu lindern.
Speziell die polnische Bevölkerung von Otwock wird wie ein Rudel Wölfe beschrieben,
das darauf lauert, die Wohnungen der Juden stürmen und den Besitz rauben zu
können, selbst wenn die Leichen der getöteten Juden noch warm waren.
Eine scharfe Anklage richtet Perechodnik auch gegen die polnischen Polizisten,
ebenfalls hier besonders die Polizisten von Otwock, die ihre minimalste menschliche
Pflicht nicht erfüllten:
"Während der dreijährigen Okkupation hat sie (die Otwocker Polizei, G.G.) am Blut der
Juden gesaugt, hat ständig Schutzgelder von Metzgern, Bäckern, Schmugglern und
allen reichen Juden kassiert, die mit irgend etwas gehandelt haben oder die Vorkriegswaren versteckt hielten. Wir dürfen nicht vergessen, dass während des Krieges
das ganze Leben der Juden illegal war. Ein Polizist konnte an allem Anstoß nehmen:
Wovon lebt ihr? Woher kommen die Kartoffeln im Ghetto? Woher kommt das Brot? Wo
sind denn die Roggenfelder? Und wenn sie schon da sind, woher habt ihr das Saatgut
genommen? Woher habt ihr das Fleisch? Während des ganzen Krieges haben die
polnischen Polizisten vom Ghetto gelebt, und sie haben gut gelebt, obwohl sie offiziell
kein Zutrittsrecht zum Ghetto hatten. Ich werfe es ihnen nicht vor, ich habe Verständnis
dafür, dass sie von ihrem Gehalt in Zeiten der Inflation nicht leben konnten. Es bleibt
aber für immer ihre Schande, dass sie den Juden den letzten Dienst versagten und sie
vor der Aussiedlung nicht warnten." (S. 63)
Das Schmerzhafteste von allem aber war für Perechodnik die Schnelligkeit, in der
Nachbarn und Bekannte innerhalb von einer Sekunde alle Bindungen zu ihren jüdischen Nachbarn vergaßen und nur noch daran dachten, wie sie aus der Katastrophe
der Juden Nutzen ziehen und profitieren könnten.
Und die Szene, die ihn am meisten entsetzte, war seine Begegnung mit einer polnischen Frau, die mit ihrem kleinen Kind auf der Straße ging. Das Kind saß im Kinder-
wagen seiner getöteten Tochter. Dieser Anblick zerstörte ihn.
Ein weiterer wichtiger Punkt, den Perechodnik kritisiert, ist die Gleichgültigkeit der
polnischen Bevölkerung gegenüber der Ermordung der Juden, wie die nächste Beschreibung verdeutlicht:
.Wie reagierten die Juden im letzten Augenblick ihres Lebens? Sie blickten auf einen
schönen Augusttag im Kurort Otwock. Vor dem Kommissariat, nicht weit vom Arrest
entfernt, stand eine Gruppe Polen. Unter ihnen der städtische Arzt, Dr. Mieroslawski
(interessant, warum er herkam, etwa um den ordnungsgemäßen` Tod der Opfer
festzustellen?). Anwesend waren auch Verwalter und Beamtinnen der Kriminalpolizei,
gekleidet in luftige Kleider mit weißen Hüten, mit großen Umhängetaschen über den
Schultern. Das war der letzte Modeschrei, sogenannte Berlinerinnen. Lächelnde,
fröhliche Gesichter. Ein lautes Gespräch fand statt, man flirtete im guten Ton - vergessen wir nicht, dass wir uns unter der Intelligenz befinden. Die Polen waren mit dem
schönen Wetter zufrieden, sie waren ausgeschlafen, hatten gute Laune und waren
bereit, den Menschen alles zu vergeben, sie nahmen den Juden nicht mal ihr Weinen
vor dem Tode übel. Und wie reagierte die Verurteilten in den letzten Augenblicken
ihres Lebens. ...
Da bemerkten sie (die Juden, G.G.) in der Ferne, hinter dem Schlagbaum, die neu-
gierigen Gesichter der Polen, die keinen Zutritt zum Ghetto hatten, aber gerne sehen
wollten, wie die Juden in den Tod geführt wurden. Die Verurteilten wandten erneut die
Köpfe ab. Sie sahen dann ihre Wohnungen, die von anderen Polen besetzt wurden, sie
sahen Polinnen, die vor den Häusern Kartoffeln schälten, sie sahen neue häusliche
Feuerstellen, die auf den Ruinen ihrer Habe entstanden. Sie lenkten den Blick zum
Himmel. Dort sahen sie wenigstens nichts.. (S. 119-120)
Perechodnik möchte uns aber das ganze Bild zeigen und beschreibt auch die Polen,
die bereit waren, den Juden zu helfen, einige gegen Bezahlung, andere, die nichts für
sich wollten und diese edlen Taten aus Humanität und gutem Willen vollbrachten,
manchmal auch unter Lebensgefahr. Er erzählt sogar von Polen, die vor dem Krieg
extreme antijüdische Ideologien vertraten, die aber in Zeiten großer Not und Lebensgefahr den Juden Hilfe, Unterstützung und Rettung brachten.
Die Schuld, die die Polen durch ihre Apathie auf sich geladen hatten, und die
Tatsache, dass die Juden damals fühlten, dass sie keine Hilfe von den Polen erwarten
konnten, und dass die Polen sie im Falle einer Flucht den deutschen Gendarmen
ausliefern würden, ist für ihn beinahe vergleichbar mit der Schuld der Deutschen.
Obwohl er differenziert und versucht, Erklärungen für das polnische Verhalten anzubieten. Die Unmenschlichkeiten seitens der polnischen Bevölkerung, ihr Verhalten
während dieser Zeit und der Verlust ihrer Moral, ist für Perechodnik ein Grund maßlosen Entsetzens. Seine gesamte Welt stürzt zusammen, weil er die Zukunft seiner
Familie und seine eigene auf Polen gebaut hat. Jetzt aber wird ihm deutlich, dass die
Juden in Polen, selbst wenn sie überleben sollten, in einer solchen Realität keinen
Platz mehr haben würden, in einer Realität, in der man keinem Polen vertrauen kann.
Diese Annahme findet ihre beste Formulierung im folgenden Zitat:
.Damals habe ich verstanden, dass die Polen Juden offenbar nicht zur Zivilbevölkerung
zählten, wahrscheinlich wurden sie überhaupt nicht als Menschen betrachtet. So wie
verschiedene Pflanzenschädlinge bekämpft werden mußten, so mußten auch die
Juden bekämpft werden, und man durfte kein Mitleid mit ihnen haben.. (S. 227)
Manchmal scheint der Leser zu spüren, dass Perechodniks Hass auf die den Polen
noch stärker ist als der auf die Deutschen. Aber das scheint nur so. Eigentlich begreift
Perechodnik die mörderische Bösartigkeit der Deutschen und schildert sie in sehr
deutlichen Worten.
Den ganzen Mechanismus von Verschlagenheit und List der Deutschen gegenüber der
jüdischen Bevölkerung, den Zynismus und Sadismus mit dem Ziel der Ermordung der
Juden, hat Perechodnik sehr gut und klar beschrieben. Schon zu Beginn seines
Tagebuches beschreibt Perechodnik in einer Liste die dreizehn Ziele der Deutschen
gegenüber dem jüdischen Volk. Der beste Historiker könnte diese Ziele nicht treffender
beschreiben:
.Was tun die Deutschen? Die deutschen Wissenschaftler stehen vor einem für Nor-
malsterbliche unlösbaren Problem, aber nicht so für ein Volk von solch hohem zivilisatorischen und kulturellen Niveau, wie es die Deutschen sind - das Volk Nietzsches.
Sie stehen vor dem Problem, ausnahmslos alle Juden des ganzen Generalgouvernements umzubringen, wobei natürlich folgende Bedingungen zu erfüllen sind:
Die Juden sollen nicht merken, dass über sie das Todesurteil gefällt worden ist;
die Juden sollen sich nicht wehren;
für die Umsetzung sollen so wenig Deutsche wie möglich mobilisiert werden;
die Juden selbst sollen dabei helfen, diese Drecksarbeit zu tun;
andere Juden sollen die verlassenen Ghettos aufräumen;
jüdische Leichen sollen durch Juden bestattet werden;
alle bewegliche Habe, Gold, Dollars, Juwelen sollen in deutsche Hände gelangen;
alle jüdischen Städte sollen sicher sein;
jeder einflußreiche oder vermögende Jude sollte hundertprozentig davon überzeugt
sein, dass man ihn nicht im Sinne hat - damit er nicht flieht, sondern dableibt, bis er an
die Reihe kommt;
die abtransportierten Juden sollen nicht merken, dass sie in den Tod fahren
die Juden sollen im Augenblick des Todes nicht rasend werden, die am Leben Gebliebenen sollen jedoch bis zum letzten Augenblick im Unklaren bleiben;
die Körper von drei Millionen Menschen sollen als wertvolle Rohstoffe genutzt werden
z. B. als natürlicher Dünger oder indem man ihnen das Fett entzieht; es sollen auch
keine Friedhöfe hinterlassen werden, die Spuren abgeben könnten;
man muß die Rettung der Juden in den polnischen Bezirken unmöglich machen." (S.44-45)
Wer seine Beschreibungen über die Mordaktionen in den Ghettos und Arbeitslagern
liest, kann besser verstehen, wie die Deutschen die jüdische Bevölkerung in eine
Situation gebracht haben, in der die Juden wie Automaten reagierten und selber zu der
Grube gingen, vor der sie erschossen wurden, ebenso wie auch die armen Juden,
deren Schicksal es war, die Leichen zu begraben, und denen das gleiche Los bevor-
stand.
"...Und eine Salve fiel. Wenn sie nicht auf den Nacken zielten, sondern auf den Kopf,
dann kam es vor, dass wir Stücke verspritzter Hirne in einer Entfernung bis zu zwanzig
Schritten fanden. Wer sich noch bewegte, wurde mit einzelnen Schüssen fertig ge-
macht. Nach jeder Salve gingen die an der Seite stehenden jüdischen Arbeiter zu den
Getöteten, durchsuchten die Taschen und warfen schnell die noch warmen Leichen in
den Graben. Der Platz wurde frei, die nächsten zehn konnten kommen. Das Ganze
fand vor den Augen der nächsten Zehnergruppe von Verurteilten statt und vor den
Augen der jüdischen Arbeiter. Nicht einer von ihnen warf danach eigenhändig den
erkaltenden Leichnam seiner Frau, seiner Mutter oder der Kinder in die Grube. Keiner
hat jemals zu erkennen gegeben, dass er den Leichnam seiner Nächsten fand. Alle
bewegten sich während der Hinrichtung wie aufgezogene Automaten. Das Grauen der
Situation und die panische Angst machen aus ihnen teilnahmslose Automaten. Die
Behauptung der medizinischen Welt, das Herz sei eine Kammer aus zartem Gewebe,
das dem Leidensdruck oder der Aufregung manchmal nicht standhält und zerplatzt,
kommt mir wie ein Märchen vor. Heutzutage würde ich den Konstrukteuren von Jagd-
flugzeugen empfehlen, diese aus Herzgewebe zu bauen; es zerplatzt bestimmt nicht
und ist zäher als Stahl." (S. 118)
Perechodnik schreibt den deutschen Unterdrückern eine satanische Genialität zu,
speziell im Sinne vom Verständnis, wie das jüdische Gehirn zu manipulieren, negativ
zu beeinflussen und zu lenken ist - und das schlimmste ist - auch wie die Juden gegeneinander aufzuhetzen und einige Juden zur Kollaboration mit den Deutschen zu
treiben sind, um ihr Leben und das ihrer Familien zu retten.
Perechodnik beschreibt die Deutschen nicht nur als kollektive Gruppe. Er charakterisiert sehr deutlich spezifische Personen, speziell Lipscher, einen Nazi-Arbeitslager-
kommandanten, der öfter Juden erschießt, persönlich oder durch einen kurzen lakonischen Befehl. Wir bekommen eine sehr plastische Beschreibungen des Mannes,
seine Art und Weise des Mordens, und, was besonders wichtig ist, wie er die jüdischen
Funktionäre manipuliert, damit sie blinden Gehorsam an den Tag legen und zu Spielzeug in seinen Händen werden, immer in der Hoffnung, dass ihnen - den Juden - wenn
sie gehorsam sind, nichts geschehen wird. Diese Tricks wurden nicht nur in den Orten,
wo Perechodnik war, von den Deutschen angewandt, sie sind typisch für das Verhalten
der Nazi-Verbrecher und nur aufgrund Perechodniks Fähigkeit exakt und scharf zu
beschreiben, sehen wir genau das Bild der Massentötungen, der Grausamkeit und des
Verlustes von jedem menschlichen Gefühl im Herzen der deutschen Täter. Die deutschen Unterdrücker nutzten zynisch die natürliche Hoffnung der Juden, wenn sie sich
selbst stellten, sich auslieferten und Gehorsam demonstrierten, dass sie dann überleben würden:
"Samstag. Feierlicher Ruhetag. Freut euch, Juden, geht beten und nach dem Mittagessen zum Spaziergang. An diesem Samstag ist es in Otwock anders. Vielleicht beten
die Juden, dann aber beginnen sie, ihre Wohnungen, Keller, Verstecke zu verlassen,
sie suchen jüdische Polizisten, damit diese sie zum Kommissariat begleiten. Sie
klammern sich an sie.
"Denkt daran - sagen sie - wir stellen uns freiwillig, vergeßt es nicht, den Deutschen zu
sagen. Wir geloben es, denn was sollen wir tun? Manchmal sagen wir, es mache
sowieso keinen Unterschied, sie werden auch so umgebracht. Dann wenden die Juden
die Köpfe ab und wollen auf dem Weg nicht mehr mit uns reden. Sie glauben uns nicht,
denn sie wollen uns nicht glauben. Richtig, der Mensch braucht Hoffnung, bis zum
letzten Augenblick." (S. 93)
Perechodniks Beschreibungen ermöglichen uns, die Atmosphäre von Angst und
Lähmung, die die Deutschen gegenüber ihren Opfern, Juden oder Nichtjuden, ge-
schaffen haben, nachzuvollziehen.
"Die Menschen verwandeln sich in Automaten, verblödete Marionetten, leblos noch
dazu, denn eins ums andere Mal wird jemand umgebracht. Niemand ist mehr imstande
zu denken. Die Pfiffe der jüdischen Polizisten, die Schüsse der Ukrainer, die Leichen
von Bekannten unter den Füßen. Die SS-Offiziere, mit ihren Helmen und silbernen
Schilden auf der Brust, sehen aus wie Halbgötter, vor ihnen die elende Masse der
Juden, mit dem Gepäck auf dem Rücken, kleinen Kindern auf dem Arm und ungeheu-
rer Angst in den Herzen. Die Ukrainer treiben die Leute aus allen Straßen zusammen.
Obwohl alle gehorchen, alle gerade marschieren, fallen dauernd Schüsse.. (S. 68-69)
In diesem Zusammenhang muß man noch einmal das Wort .Genialität. benutzen. Die
Deutschen hatten eine große Fähigkeit, mit Angst und Versprechungen die schlechtesten, bösesten und negativsten Gefühle der Menschen an die Oberfläche zu holen und
sie zur Manipulation zu benutzen. Und bedauerlich ist, dass sich auch die Juden selbst
mit dieser Krankheit infizierten.
Perechodnik beschreibt die Fähigkeit der Deutschen zur Manipulation so:
"Ehre sei dir, deutscher Genius, der du es geschafft hast, die Menschen so zu verdummen und sie in einen Zustand kollektiver Verblendung zu versetzen, daß sie sich wie die Schafe zusammendrängten, um auf ihre Henker zu warten. Sie haben sich nicht einmal versteckt, ganz im Gegenteil, sie haben sich zu Herden gedrängt, damit die Henker nicht zu viel Arbeit haben." (S. 60)
Die Verbrechen der Deutschen, die Perechodnik mit seinen eigenen Augen täglich
gesehen hatte und denen er machtlos gegenüber stand, haben sein Selbstwertgefühl
und die Fundamente seiner Identität zutiefst untergraben. Er kann sich ein Leben für
sich nach dem Krieg nicht mehr vorstellen:
"Nach dem was ich durchgemacht, kann ich nicht mehr normal leben... Ich werde nie
wieder ein nützliches Glied der Gesellschaft sein. Was könnte sonst noch aus mir
werden? Weder Jude noch Katholik, weder ein anständiger Mensch noch ein Dieb .
ganz einfach ein Entgleister." (S.250-251)
Dieses Gefühl ein "Niemand", ein ausgehöhltes Wrack zu sein, mischt sich mit dem
Wunsch nach Rache. Er stellt sich einen Krieg vor, in dem freiwillige Battalione gebildet
werden, .aus solchen Entgleisten wie mir und anderen Juden, ...[die] die Aussiedlung
der Deutschen nach Treblinka durchführen . genau dorthin und nirgendwo sonst..
(S.251). Er schreibt weiter:
"In meinem ganzen Leben habe ich noch nicht die Hand gegen den Nächsten erhoben,
aber ich spüre, daß ich dann kein Wasser mehr trinken, sondern meinen Durst nur mit
deutschen Blut, besonders dem kleiner Kinder stillen würde. Für meine kleine Tochter,
für alle jüdischen Kinder würde ich hundertfache Rache nehmen. Mein Herz bebt
schon vor Freude, die blassen Wangen erröten sich freudig bei dem Gedanken, welche
physischen und psychischen Torturen ich den Deutschen vor ihrem Tod zufügen
würde. Und dann, durch Blut und Rache gesättigt, kann ich zusammen mit meinen
Feinden untergehen." (S.251)
Durch das Schreiben seines Tagebuchs kann er sein Verlangen nach Rache bis zu
einem gewissen Grad kanalisieren. Er weiß, dass er selber nicht mehr die Möglichkeit
haben wird Vergeltung zu üben, denn er wird von der Nazi-Maschinerie genauso
zermahlen werden wie alle anderen auch. Seine Wunsch nach Rache manifestiert sich
deshalb umso mehr in seinem Tagebucheinträgen. Das Aufschreiben seiner Geschich-
te, die (An)Klageschrift über das Leid der Juden, symbolisiert für ihn einen ersten Akt
der Rache und erhält in ihm die Hoffnung auf zukünftige Gerechtigkeit. Wenn nur das
Wissen um die Vernichtung der Juden überleben wird, so hofft er, werden die deut-
schen Verbrecher ihre Strafe irgendwo und irgendwann bekommen.
.Vor dem Hintergrund des brennenden Warschauer Ghettos habe ich mit eigenen
Augen den Untergang des polnischen Judentums gesehen. Ich habe den Tod all derer
gesehen, die ich seinerzeit so sehr beneidete. Ich habe die Aussichtslosigkeit des
Kampfes eingesehen und begriffen, dass auch ich früher oder später gezwungen
werde, das Los der Juden zu teilen. Ich habe dann gedacht, dass in diesem Fall
niemand übrigbleiben wird, um das Los meiner Frau zu beweinen und ihr ein ehrendes
Andenken zu bewahren; dass niemand mehr Nachkommenden ihr Leiden wird berich-
ten können; dass vielleicht niemand Rache fordern wird für ihr unschuldiges Leben, für
den Tod von Millionen Juden. Damals - genau am siebten Mai - beschloß ich, meine
Geschichte aufzuschreiben. Vielleicht bleibt sie erhalten und wird in Zukunft den Juden
übermitteln, als getreues Abbild dieser tragischen Zeiten. Vielleicht wird sie die demokratischen Staaten dazu bewegen, alle Deutschen schonungslos auszurotten und den
unschuldigen Tod von Millionen jüdischer Kinder und Frauen zu rächen.. (S. 225)
Ein kurzer Einschub und Vorbehalt ist an diesem Punkt angebracht: Perechodnik ergab
sich diesem expliziten Verlangen nach Rache und Vergeltung im Jahre 1943 . ein
verzweifelter Mann, der alles verloren hatte und in seinem Versteck auf den Tod
wartete. Seine hasserfüllten Worte mögen uns heute in ihrer Direktheit und Unmittelbarkeit schockieren. Dennoch müssen wir sie in dem entsprechenden Kontext verste-
hen lernen, in dem sie entstanden sind . als letzten Aufschrei eines gebrochenen
Menschen, der versucht seinem Schmerz, seiner Verzweiflung und Todesangst Luft zu
machen.
Perechodniks dunkle Prophezeiung, das die Opfer des Holocaust, entgleiste und
entwurzelte Menschen wie er, nicht mehr .nützliche Glieder der Gesellschaft. sein
werden, erfüllte sich nicht. Die große Masse der Juden, die den Holocaust überlebten,
führten natürlich keine dergleichen Racheakte aus, sondern versuchten für sich einen
Neuanfang zu finden, eine neue Identität aufzubauen und ein normales Leben und
neue Familien zu gründen.
Ein weiterer wichtiger Aspekt in Perechodniks Tagebuch betrifft seine Ansichten zum
Verhalten der Juden während des Holocausts. Auch mit seinem eigenen Volk geht
Perechodnik sehr hart ins Gericht, er fegt mit seiner Kritik wie mit einem mächtigen
Sturm über alles hinweg. Und obwohl er die richtigen Probleme identifiziert, fehlt für
den heutigen Leser eine tiefergehende Beurteilung, die das negative Verhalten der
Juden vor dem Hintergrund der deutschen Unterdrückung und Verfolgung sieht und die
Fähigkeit der Deutschen bedenkt, andere ihrem Willen entsprechend zu manipulieren
und zum Gehorsam zu zwingen und zu verführen.
Die Kritik gegenüber den Juden konzentriert sich auf drei Aspekte:
Kritik gegenüber den Juden, die bestimmte Funktionen von den Deutschen übertragen
bekamen, speziell in der jüdischen Polizei im Ghetto und in den Arbeitslagern. Diese
Leute, mit einigen Ausnahmen, wurden mit der Zeit gefühlslos gegenüber ihren Brüder
und Schwester und konzentrierten sich nur auf ein Ziel: Wie sie sich und ihre Familien
retten und die Not ihrer Brüder und Schwestern ausnutzen konnten, um reich zu
werden und davon zu profitieren.
Kritik an der Naivität der Juden, die von den Deutschen vollkommen ausgenutzt wurde.
Die Juden übersehen die deutlichsten Zeichen der Zeit, ignorierten alle Warnsignale
der drohenden Gefahr, betrogen sich mit Illusionen.
Kritik an der Feigheit der Juden und an dem Verlust des Lebenswillens und Resignati-
on im Überlebenskampf.
.Woran dachtest du, jüdische Masse?. fragt Perechodnik, .Du warst passiv, resigniert,
stumm. Ohne es zu wissen, rezitierst du die Dichterworte: Ein Volk kann aus eigener
Schuld zugrunde gehen, wenn es blinder und einschläfernder Jammer erfüllt und die
Verzweiflung den Schluß nahelegt, dass die Grabesruhe sanft sei. Über alles dachten
die Juden nach, nur nicht darüber, dass sie Nachfahren des Judas Machabaeus sind.
Wo bleibt euer Gott, der mit drohender Stimme schrie: `Mag ich auch zugrunde gehen,
aber nur gemeinsam mit meinen Feinden! Vor euch kaum zweihundert Mann mit
Gewehren, ihr dagegen seid achttausend und habt nichts zu verlieren. Erhebt euch,
stoßt einen gemeinsamen Schrei aus und in einer Sekunde werdet ihr frei sein. Verflucht ist das jüdische Volk, ist auch schon alt, hat keine Kraft mehr, gegen Widrigkeiten anzukämpfen.. (S. 79)
Perechodnik bekommt immer wieder den Eindruck, dass die Juden freiwillig und fast
mit Freude in den Tod gehen, ohne den geringsten Versuch, etwas gegen die Deut-
schen zu unternehmen:
"Die vierte Episode war die Hinrichtung einer achtzehnköpfigen Gruppe von Juden
beiderlei Geschlechts. Sie sind aus dem Ghetto geflohen, und da sie nirgendwo
unterkommen konnten, saßen sie auf dem Feld nicht weit von Karczew. Unter ihnen
war der alte Bratt mit seiner schwangeren Tochter. Die junge Frau hat, wohl unter dem
Einfluß der Emotionen, zu gebären begonnen. Der alte Vater nahm das Kind an und
legte die Leibesfurcht aufs Gras. Einige Stunden später ging ein Gendarm an der
Wiese vorbei, bemerkte die Gruppe der Juden und befahl ihnen, sich auf die Erde zu
legen. Ein Schuß fiel, der zweite, der dritte und plötzlich verweigerte das Gewehr den
Gehorsam. Dem Deutschen gingen die Kugeln aus. Er schickte also einen kleinen
polnischen Jungen zum Kommissariat nach Karczew mit dem Auftrag, ihm Munition zu
bringen. Er selbst setzte sich hin und wartet, völlig wehrlos, denn, wie ich schon sagte,
er hatte keine Patrone mehr bei sich. Was machten da die Juden? Warfen sie sich auf
ihn, um den Tod ihrer Nächsten zu rächen? Oder ergriffen sie vielleicht die Flucht ...
Sie lagen weiterhin mit dem Gesicht zur Erde und warteten, warteten über eine halbe
Stunde auf die Lieferung der Kugeln - der offensichtlich erlösenden Kugeln. Endlich
kam ein polnischer Polizist mit der Munition. Der Gendarm erschoß die restlichen
Juden, tötete die Mutter, tötete das wenige Stunden alte Neugeborene. Die jüdischen
Arbeiter aus dem Lager bestatteten die Ermordeten, nicht einer bestattete seine Frau,
nicht einer seinen Bruder. Gibt es einen Unterschied? Jetzt liegen dort in Karczew,
nahe dem kleinen Hügel neben der Mühle, achtzehn Juden begraben. Dieses unsicht-
bare Grab bleibt für alle Zeiten ein Zeugnis deutschen Vandalismus oder auch ein
Zeugnis jüdischer Feigheit. Vielleicht auch ein Zeugnis für den Fatalismus unserer Zeit
- uns werden Bilder beschert, die auch die größte Phantasie nicht ausmalen könnte."
(S. 125- 126)
Möglicherweise ist seine Enttäuschung vom jüdischen Volk eine Projektion seiner
Selbstenttäuschung, weil er, Calel Perechodnik, auch nicht um das Leben seiner Frau
und seiner Tochter gekämpft hatte, obwohl es Chancen gab, sie zu retten, und wegen
der Zerstörung seines Lebens und aller Werte, an die er glaubte: an die Polen, an die
Freiheit der Gedanken und an die akademische Liberalität.
Ein Beweis für diese These ist die Selbstkritik von ihm an seinem Vater, über dessen
Kleinlichkeit und Materialismus.
Perechodnik kann man auf keinen Fall der Gruppe Juden zurechnen, die an dem
bekannten "Selbsthasssyndrom" leiden. Sein Hintergrund bis zur Shoah widerspricht
dem. Aber andererseits bewirkten die Ereignisse, die er gesehen hat, eine sehr kritische Haltung gegenüber der jüdischen Religion und gegenüber den jüdischen Rabbi-
nern und Gelehrten. Als er die Massenerschießungen sieht, schreit er vom Grunde
seines Herzens auf:
"Woran dachtet ihr Rabbiner, ihr jüdischen Weisen? Wart ihr auch in diesem Augenblick stolz darauf, dem auserwählten Volk anzugehören, im Namen des Herren als
Opfer zu sterben? Oder wolltet ihr lieber ein gewöhnliches Volk sein, das aus gewöhnlichen Leuten und gewöhnlichen Verbrechern zusammengesetzt ist, nur um das Recht
auf Leben zu behalten." (S. 78.79)
In einem Abschnitt seines Tagebuches, als seine Wut besonders groß ist, beschimpft
er sogar die jüdische Religion als den Hauptgrund für den Judenhass in der Welt:
"Vielleicht hat Gott uns auserwählt, aber wofür? Dafür, dass wir der Sündenbock aller
Völker sind, dass wir verantwortlich sein sollen für alle Sünden der Welt? ... Täglich
wiederholten wir die Worte des Gebetes: `Jerusalem, wollte ich deiner vergessen, soll
verdorren meine Rechte!` Leider vergaßen wir Jerusalem und nicht nur unsere Rechte,
sondern unser ganzer Organismus verdorrte." (S. 248-249)
Es scheint auch, dass die Kritik gegenüber den Juden von einem schrecklichen
Schmerz herrührt, den Perechodnik in sich trägt, als er hilflos ertragen muß, dass die
jüdischen Kinder, die keine Schuld tragen, grausam ermordet werden. Das Gefühl
völliger Hilflosigkeit macht ihn verrückt und lässt ihn sein Leben nicht in Ruhe weiterleben.
Das Schuldgefühl begleitet Perechodnik die ganze Länge des Tagebuches hindurch
und führt zu seiner fatalistischen und enttäuschten Haltung. Er hat Erwartungen an die
armen jüdischen Menschen, die ermordet werden, dass sie heroisch sind, aber diese
Erwartungen werden immer wieder auf das schwerste enttäuscht. Diese Erwartungen
von Perechodnik basieren auf seinen Erfahrungen aus der alten Welt, der Welt vor
dem Kriege, von der er kam, speziell seine Verbundenheit mit der zionistischen BETAR-Bewegung, die eine mutige und stolze Haltung der Juden in der Diaspora propa-
gierte. Statt eine gesunde, stolze normale Reaktion vorzufinden, von einem Volk, das
unter einem Todesurteil gegen seine Mörder kämpft, findet Perechodnik ein degene-
riertes Volk, das keinen Lebensmut und Lebenswillen mehr besitzt, das sich einen Tod
gewählt hat, der nicht mal einer Rache wert ist.
Perechodnik erwartet sehnsüchtig, dass die Juden eine würdige Standhaftigkeit zeigen
werden. Aber er findet solche Fälle nicht.
So ist die Enttäuschung neben der Hilflosigkeit und dem Schuldgefühl ein permanenter
Aspekt seiner Tagebücher.
Schlusswort
Man kann sagen, dass Perechodnik uns in seinem Begreifen und Verstehen der Shoah
das Resümee der Shoah vermittelt:
Ein historisches Ereignis, in dem das einzige Ergebnis der Tod der Juden ist. Für
Perechodnik ist die Shoah-Zeit ausschließlich von Hilflosigkeit, Niederlagen, Machtlosigkeit und Verlassenheit charakterisiert.
Obwohl Perechodnik nie in Treblinka war, ist es erstaunlich, wie genau er den
Tod von fast einer Million Juden dort beschreibt. In diesem Zitat, das ich jetzt vorlesen
werde, ist seine ganze enttäuschte Weltanschauung enthalten:
"Treblinka II ist kein Straflager, das ist der Ort, an dem der böse Genius der germanischen Rasse Triumphe feiert. Das ist ein Friedhof für drei Millionen Juden. Ein Friedhof, wo kein einziger Menschenknochen gefunden wird. Die klugen Deutschen machen daraus Dünger, den dann der polnische Bauer als Prämie für das Getreide erhält, das er an die Deutschen liefert. Ja, ja, ihr Juden, nach Meinung der Deutschen hat eure Arbeit, euer Schweiß, eure schöpferische Energie den polnischen Boden noch nicht ausreichend fruchtbar gemacht. Eure Asche wird es besser tun.. (S.85)
Zitate nach:
Perechodnik, Calel (1997): Bin ich ein Mörder? Das Testament eines jüdischen Ghetto-Polisten, zu Klampen Verlag, Lüneburg.
Literatur:
Perechodnik, Calel (1996): Am I a murderer? Testament of a Jewish ghetto policeman.
Colorado (Boulder).
Perechodnik, Calel (1993): Czy ja jestem morderca? Warszawa.
Perechodnik, Calel (1995): Suis-je un meurtrier? Paris.
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