Beim Lesen war ich am lachen dran..
Von Bastian Sick
Es gibt in der deutschen Sprache so manches, was es offiziell gar nicht
gibt. Die sogenannte Rheinische Verlaufsform zum Beispiel. Die hat
weniger mit dem Verlauf des Rheins zu tun, dafuer umso mehr mit
Grammatik. Vater ist das Auto am Reparieren, Mutter ist die Stube am
Saugen. Und der Papst war wochenlang im Sterben am Liegen.
Meine Freundin Holly ist Amerikanerin, genauer gesagt Kalifornierin.
Obwohl sie ein sehr aufgeschlossener und wissbegieriger Mensch ist und
seit nunmehr fuenf Jahren in Deutschland lebt, hat sie mit der deutschen
Sprache noch immer ihre liebe Not. "Deutsch ist so ... complicated",
schimpft sie, "andauernd man hat es mit Ausnahmen zu tun." - "Ich glaube
nicht, dass es irgendeine Sprache gibt, die ohne Ausnahmen auskommt",
erwidere ich, "dafuer sind die meisten Sprachen einfach zu alt und haben
schon zu viele Entwicklungen durchgemacht." - "Es ist aber eine
Tatsache, dass die deutsche Sprache nicht wirklich praktisch ist", sagt
Holly, "eure Woerter sind so furchtbar lang, mit all den vielen
Endungen, die Saetze hoeren gar nicht mehr auf, der Satzbau ist
confusing, mal steht das Subjekt vorne, mal das Objekt, wer soll sich da
zurechtfinden? Mark Twain hielt die deutsche Sprache fuer besonders
unordentlich und systemlos. Er hatte Recht!" - "Es klappt doch aber
schon ganz gut bei dir", versuche ich sie zu beschwichtigen. Da faellt
Holly noch etwas anderes ein: "Und weisst du, was dem Deutschen
ausserdem fehlt? Es hat keine continuous form!" - "Keine was?", frage
ich. "Continuous form - I'm reading a book, you are watching TV und so
weiter." - "Ach so, du meinst die Verlaufsform", sage ich. "Genau", sagt
Holly, "die ist ungeheuer praktisch! Es ist doch ein Unterschied, ob ich
sage 'I am eating fish' oder 'I eat fish'. Das erste bedeutet, dass ich
gerade jetzt einen Fisch verspeise; das zweite bedeutet dagegen, dass
ich grundsaetzlich Fisch esse, aber das kann ich auch sagen, waehrend
ich gerade einen Salat esse. Wenn man im Deutschen ausdruecken will,
dass sich eine Handlung auf einen bestimmten Zeitraum bezieht, dann muss
man einen Satz bilden wie 'Ich bin gerade dabei, das und das zu tun.'
Das ist doch total umstaendlich! Sogar im Japanischen gibt es eine
Verlaufsform, warum nicht im Deutschen?"
An dieser Stelle muss ich Widerspruch einlegen: "Dass es im Deutschen
keine Verlaufsform gibt, ist nicht richtig." Holly blickt mich erstaunt
an: "Tatsaechlich? Wie sieht die denn aus?" - "Nun, das kommt darauf an,
es gibt naemlich mehrere Moeglichkeiten, die Verlaufsform zu bilden. In
der Standardsprache wird dabei nach folgendem Rezept verfahren: Man
nehme eine Form von 'sein', dazu die Praeposition 'beim' und den
substantivierten Infinitiv, fertig ist die Verlaufsform. 'Ich bin beim
Einkaufen', 'Mutter ist beim Geschirrspuelen', 'Lars ist beim Arbeiten'
und 'Alle sind beim Essen', um nur ein paar Beispiele zu nennen.
Schoener, aber seltener ist die mit 'im' gebildete Verlaufsform: 'Baerte
sind wieder im Kommen', 'Ich war schon im Gehen, da rief er mich noch
einmal zurueck.'" - "Ach, das ist die deutsche continuous form? Dann
wird 'I'm thinking about you' auf Deutsch zu 'Ich bin beim Denken an
dich'?" - "Nein, die Verlaufsform bietet sich nicht fuer alle Verben an.
Jedenfalls nicht in der standardsprachlichen Ausfuehrung. Es gibt
daneben aber noch eine umgangssprachliche, die sehr viel flexibler ist.
Sie wird mit der Praeposition 'am' gebildet." - "Nenn mal ein
Beispiel!", bittet Holly.
"Alle sind am Jubeln, wenn Deutschland Europameister wird. Ich bin total
am Verzweifeln, weil mein PC schon wieder abgestuerzt ist. Wenn andere
schlafen, bin ich am Arbeiten." Holly nickt: "Stimmt, das kenne ich!
'Ich bin am Arbeiten', das sagen manche Leute wirklich." - "Und wenn
dich jemand fragt: 'Moechtest du noch ein Stueck Kuchen?', dann kannst
du - mit Ruecksicht auf deine Hueften-Verlaufsform - antworten: 'Nein
danke, ich bin gerade am Abnehmen.'" - "Das wiederum habe ich noch nie
gehoert", behauptet Holly und lacht.
Ich nenne weitere Beispiele: "Statt 'ich denke gerade nach' oder 'ich
ueberlege noch' hoert man auch sehr oft 'ich bin gerade am Nachdenken'
oder 'ich bin noch am Ueberlegen'." - "Aber ist das richtiges Deutsch?",
fragt Holly. "Wie gesagt, es ist nicht Standard. Doch in weiten Teilen
Deutschlands ist es absolut ueblich. Die Regel sieht vor: 'Ich
telefoniere gerade', und die Umgangssprache macht daraus: 'Ich bin
gerade am Telefonieren'! Wenn der Chef in Rage geraet, raunen sich die
Kollegen zu: 'Der ist mal wieder voll am Durchdrehen!' Und wenn's so
richtig Ärger gibt, dann ist 'die Kacke am Dampfen'. Letzteres
funktioniert sogar ausschliesslich in der Verlaufsform. Den Ausdruck
'dann dampft die Kacke' gibt es nicht."
Holly ist begeistert: "Das ist wirklich faszinierend! Warum bringen sie
einem das nicht im Deutschunterricht bei? Da lernt man alle moeglichen
Regeln und Formen, aber dass es diese Verlaufsformen gibt, das
verheimlichen sie einfach!" - "Lehrer sind angehalten, nur Hochdeutsch
zu unterrichten. Fuer Sonderformen der Umgangssprache ist im
Deutschunterricht normalerweise kein Platz. Obwohl man ein paar
Kenntnisse manchmal schon brauchen kann - bei der Zeitungslektuere zum
Beispiel. Gelegentlich findet man die umgangssprachliche Verlaufsform
naemlich selbst in Überschriften. In der 'Frankfurter Allgemeinen
Zeitung' konnte man lesen: 'Das Geschaeftsmodell fuer den Smart ist am
Wanken'. Und im 'Koelner Stadt-Anzeiger' stand unlaengst: 'Ölpreis
weiter am Sinken'. Da ist mancher Leser verstaendlicherweise 'am
Kopfschuetteln'. In Duesseldorf und Koeln allerdings wird kaum jemand
Anstoss daran genommen haben. Die Rheinlaender benutzen die Verlaufsform
naemlich besonders gern und haben sie auf ihre Weise perfektioniert.
Daher spricht man auch von der Rheinischen Verlaufsform."
Holly kommt aus dem Staunen gar nicht mehr raus: "Die Rheinische
Verlaufsform? Willst du sagen, das Rheinland hat eine eigene continuous
form?"
"Genau! Das Rheinland hat den Karneval und eine eigene
Verlaufsform. Nehmen wir mal den Satz 'Ich packe die Koffer'. Das ist
eine ganz normale Aussage im Praesens. In der herkoemmlichen
Verlaufsform wird es zu 'Ich bin am Kofferpacken'. In der Rheinischen
Verlaufsform wird es zu 'Ich bin die Koffer am Packen'. Und ein Satz wie
'Chantal foent sich die Haare' wird zu 'Dat Chantal ist sich die Haare
am Foenen'. Besonders kurios wird's mit doppeltem Infinitiv: Waehrend
Papst Johannes Paul II. auf Hochdeutsch wochenlang im Sterben lag, war
der arme Mann auf Rheinisch wochenlang im Sterben am Liegen! Übrigens
erscheint dieser Satz nur in der Theorie laenger. Was der Rheinlaender
an zusaetzlichen Silben in die Bildung der Verlaufsform investiert, das
spart er naemlich an anderer Stelle wieder ein. So heisst es zum
Beispiel: 'Wenn dat einmal am Laufen faengt, hoert dat nich mehr auf.'
Das ist dann allerdings schon Rheinisch fuer Fortgeschrittene." Holly
atmet tief durch: "Wow! Das ist amazing! Ich frage mich, ob Mark Twain
das wohl gewusst hat?"
"Jetzt noch mal zur Übung", sage ich. "Nehmen wir den Satz 'Tim
repariert den Motor'. Der wird in einfacher Verlaufsform zu 'Tim ist am
Motorreparieren' - oder, elegante Variante, 'Tim ist am Reparieren des
Motors'. Und wie lautet nun die verschaerfte rheinische Form?" -
"Moment, warte, ich komm drauf: Tim ist den Motor am Reparieren! Right?"
- "Perfekt! Damit bist du bald jeder Rheinlaenderin Konkurrenz am
Machen!"
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