toter Chaostheoretiker - verschollener Mathematiker
27. April 2008, NZZ am Sonntag
Georges Szpiros kleines Einmaleins
Verschollenes Genie
Am 28. März konnte einer der ganz grossen Mathematiker des zwanzigsten Jahrhunderts seinen achtzigsten Geburtstag feiern. Das heisst, er hätte ihn feiern können, ob er es getan hat, weiss niemand. Denn Alexander Grothendieck ist seit siebzehn Jahren verschwunden. Man vermutet, dass er sich in den Pyrenäen aufhält und sich möglicherweise völlig der Meditation hingegeben hat.
Bevor sich Grothendieck in sein selbst auferlegtes Exil begab, galt er als einer der brillantesten Mathematiker seiner Zeit. Seine schier unglaubliche Fähigkeit, Zusammenhänge abstrakt zu erfassen, erlaubte es ihm, herkömmliche Fragestellungen derart zu verallgemeinern, dass revolutionäre neue Perspektiven eröffnet und grundlegende Verknüpfungen zwischen verschiedenen mathematischen Objekten erkennbar wurden. Dank seinem Charisma und seiner unerschöpflichen Energie brachte er eine ganze Schule bedeutender Nachfolger hervor, mit denen er die Beziehungen zwischen Geometrie, Zahlentheorie und Topologie und der komplexen Analysis auf ein neues Fundament stellte. In der Einschätzung vieler Kollegen sind Grothendiecks Leistungen durchaus mit den Errungenschaften von Albert Einstein vergleichbar.
Der familiäre Hintergrund dieses mysteriösen Mathematikers gäbe Stoff für mehrere Romane. Die Mutter, Hanka Grothendieck, stammte mütterlicherseits aus einer deutschen Bauernfamilie. Als Jugendliche entfloh sie dem Elternhaus und schlug sich als Redaktorin einer Wochenzeitschrift für Hamburger Prostituierte durch, lebte in wilder Ehe mit verschiedenen Männern und betätigte sich oft als Bettlerin. Der Vater des späteren Mathematikers hiess Alexander Schapiro und war Sprössling einer orthodoxen jüdischen Familie in Russland. Er war Anarchist und wurde im zaristischen Russland als 16-Jähriger verhaftet und zum Tode verurteilt, doch wurde die Strafe seiner Jugend wegen in lebenslängliche Haft umgewandelt. Nach seiner Befreiung während der Oktoberrevolution beteiligte er sich erneut an anarchistischen Aktivitäten. Wiederum zum Tode verurteilt . diesmal von den Bolschewiken ., brach er aus dem Gefängnis aus und floh nach Paris und weiter nach Berlin, wo er Hanka traf und heiratete. Obwohl er eigentlich Schriftsteller werden wollte, verdiente er seinen Lebensunterhalt als Strassenfotograf.
Nach Hitlers Machtergreifung übersiedelte das Paar nach Frankreich. Den fünfjährigen Sohn Alexander liessen sie bei einer Pflegefamilie in Hamburg in Obhut, die ebenfalls von Idealismus und Eigenwillen geprägt war: Der Ziehvater war ein evangelischer Pastor, der im Ersten Weltkrieg mit den Obrigkeiten in Schwierigkeiten geriet, weil er es ablehnte, für den Sieg zu beten. 1936 reisten Alexanders Eltern nach Spanien, um den Bürgerkrieg gegen Franco zu unterstützen, und kehrten nach der Niederlage der Republikaner wieder nach Paris zurück.
Unterdessen war das Leben für den jüdischen Jungen in Deutschland zu gefährlich geworden, und die Pflegefamilie sandte ihn nach Frankreich zu seinen Eltern. Doch das Familienleben dauerte nur kurz. Im Winter 1939/40 wurde der Vater in das berüchtigte Lager Le Vernet in den französischen Pyrenäen verbracht und von dort nach Auschwitz deportiert, wo er im Herbst 1942 ermordet wurde. Alexander und seine Mutter wurden interniert.
Die Kriegsjahre überlebte Alexander zuerst in einem Lager in Südfrankreich, dann in einem vom «Secours Suisse aux enfants» in der Auvergne gegründeten Heim für jüdische und andere verfolgte Kinder. Dort konnte er sogar die Schule besuchen, wo er zwar ein guter, aber keineswegs hervorragender Schüler war.
Nach dem Krieg belegte Grothendieck Mathematik an der Universität von Montpellier und wollte sodann in Paris weiterstudieren. Doch seine Ausbildung wies Lücken auf, und seine Professoren schickten ihn zurück in die Provinz. In Nancy holte er das Versäumte nach und erzielte sofort Leistungen, die weltweit aufhorchen liessen. Seine Ausnahmebegabung wurde bald augenfällig. Als einer der ersten Professoren am Institut des Hautes Etudes Scientifiques (IHES) bei Paris unternahm er sodann während eines Jahrzehnts titanische Anstrengungen, um die algebraische Geometrie auf ein neues Fundament zu setzen. Zu seinen legendären Dienstags-Seminarien reiste die mathematische Elite aus ganz Frankreich heran. 1966 wurde Grothendieck die Fields-Medaille verliehen, doch aus Protest gegen die Inhaftierung zweier sowjetischer Schriftsteller weigerte er sich, zur Entgegennahme der Auszeichnung nach Moskau zu reisen.
Als Grothendieck kurz danach erfuhr, dass sein Institut einen finanziellen Zustupf vom französischen Verteidigungsministerium erhielt, war dies für den vehementen Pazifisten und Weltverbesserer untragbar: Er kehrte dem renommierten Institut den Rücken. Wie seine Eltern war Grothendieck ein Idealist reinsten Wassers, der nie auch nur den kleinsten Kompromiss eingehen konnte.
Die jahrelangen, fast übermenschlichen geistigen Anstrengungen forderten jedoch ihren Tribut. Zunehmend entfremdete sich Grothendieck dem mathematischen Betrieb und wandte sich pazifistischen Aktivitäten zu. Zwar unterrichtete und betreute er noch während einiger Jahre Doktoranden, doch die Forschung gab er im Alter von 42 Jahren ganz auf.
Drei Jahre schrieb er an einer 1500 Seiten dicken, bis heute nur im Internet verfügbaren Autobiografie mit dem Titel «Recoltes et Semailles», in der er mit dem mathematischen Betrieb und . stellenweise auf unschöne Weise . mit ehemaligen Kollegen abrechnet. 1991 zog er an einen unbekannten Ort, möglicherweise nach Andorra, und beauftragte seine früheren Arbeitgeber, ihm keine Post nachzusenden. Seitdem haben ihn nur ganz wenige Freunde getroffen, die über seinen Verbleib völliges Stillschweigen bewahren.
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17. April 2008, 18:36
Der Vater der Chaostheorie gestorben
Mit dem «Schmetterlingseffekt» die Welt auf den Kopf gestellt
Edward Lorenz ist tot. Der Meteorologe, bekannt durch seine Chaos-Theorie und den «Schmetterlingseffekt», ist im Alter von 90 Jahren gestorben. Er hat das endgültige Ende des deterministischen Weltbildes herbeigeführt. ...
Von Christian Speicher
Edward Lorenz, der Begründer der Chaostheorie und der Namensgeber des Schmetterlingseffekts, ist am Mittwoch im Alter von 90 Jahren in Cambridge, Massachusetts, gestorben. Als studierter Mathematiker diente Lorenz während des Zweiten Weltkrieges bei der amerikanischen Luftwaffe, wo er Wetterprognosen erstellte.
Nach dem Ende des Krieges entschied er sich, Meteorologie zu studieren. Die Beschäftigung mit den theoretischen Grundlagen dieses Fachs führte ihn bald zu der Frage, ob man das Wettergeschehen mit ausreichender Computerleistung nicht ebenso zuverlässig vorhersagen könne wie die Bahnen der Planeten um die Sonne. Seine diesbezüglichen Hoffnungen sollten allerdings bald erschüttert werden.
Anfang der 1960er Jahre hatte Lorenz ein einfaches, auf zwölf Variablen beruhendes meteorologisches Modell entwickelt. Eines Tages fütterte er dieses Modell mit Parametern, die er bereits bei einer früheren Simulation verwendet hatte. Zu seinem Erstaunen stellte er fest, dass das Ergebnis ein völlig anderes war.
Eine genauere Analyse zeigte den wahren Grund für die Diskrepanz: Lorenz hatte nicht exakt die gleichen Anfangsbedingungen vorgegeben wie bei der früheren Simulation, sondern Werte, die von sechs auf drei Stellen nach dem Komma gerundet worden waren. Dass ein derart kleiner Unterschied eine derart grosse Wirkung hatte, widersprach allem, was man damals zu wissen glaubte.
Die Konsequenzen lagen auf der Hand: Die perfekte Wettervorhersage musste eine Illusion bleiben . und mag das Wettermodell noch so gut sein. Denn die Anfangsbedingungen, die man in ein solches Modell hineinsteckt, können immer nur mit beschränkter Genauigkeit gemessen werden.
In späteren Jahren prägte Lorenz ein eindrückliches Bild für das chaotische Verhalten des Wetters: Der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien kann einen Tornado in Texas auslösen.
Lorenz erkannte, dass die Nichtvorhersagbarkeit ein Charakteristikum von Systemen ist, deren Dynamik durch nichtlineare Gleichungen beschrieben wird. In der Folge untersuchte er das Verhalten solcher Systeme eingehender und entdeckte dabei einen neuen sogenannten Attraktor.
Darunter versteht man einen Punkt (es kann auch eine periodische Kurve sein) in einem abstrakten Raum, gegen den das Verhalten eines Systems im Laufe der Zeit konvergiert. So strebt etwa ein Pendel unter dem Einfluss der Reibung dem Zustand der Ruhe entgegen.
Der von Lorenz entdeckte Attraktor war jedoch anders. Er hatte eine nicht ganzzahlige (also fraktale) Dimension. Mit Hilfe solcher «seltsamen» Attraktoren vereinfachte sich die mathematische Beschreibung von chaotischen Systemen erheblich.
Es dauerte eine gewisse Zeit, bis die Ideen von Lorenz auf fruchtbaren Boden fielen. Ihre Hochblüte erlebte die Chaostheorie in den 1980er und den frühen 1990er Jahren, als Apfelmännchen und andere fraktale Gebilde in den Medien allgegenwärtig waren. Euphorisch feierte man das endgültige Ende des deterministischen Weltbildes, das bereits durch die Quantentheorie einen empfindlichen Schlag versetzt bekommen hatte.
Die Anwendungen der Chaostheorie beschränkten sich nun nicht mehr nur auf das meteorologische Geschehen. Auch Wirtschaftswissenschafter, Mediziner oder Neurowissenschafter bedienten sich der neu entwickelten Methoden, um das oft chaotische Verhalten von Börsenkursen zu analysieren, nach krankhaften Mustern im Herzrhythmus zu suchen oder die Arbeitsweise des Gehirns besser zu verstehen.
Inzwischen ist es um die Chaosforschung wieder ruhiger geworden, und die Meinungen über ihre Bedeutung gehen auseinander. Für die einen ist die Chaostheorie neben der Relativitätstheorie und der Quantentheorie eine der wichtigsten Errungenschaften des 20. Jahrhunderts. Andere sehen in ihr aber nur einen Hype, der langfristig kaum Spuren hinterlassen wird.
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