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30 Dezember 2009

IRAN Feindbild Propaganda

ein offener Brief in Sachen Feindbildgenerierung und Delegitimierung des
Iran...


TRITTBRETTFAHREN MIT DER MÄCHTIGEN WESTLICHEN MAINSTREAM-PROPAGANDA
*Offener Brief von Anneliese Fikentscher und Andreas Neumann an Mohssen
Massarrat in Sachen Feindbildgenerierung und Delegitimierung des Iran*

Herr Massarrat, Sie haben sich am 18. Dezember 2009 in der 'linken'
Tageszeitung 'Neues Deutschland' zu Wort gemeldet [1]. Und Sie haben die
Fragen in unserem offenen Brief "Bitte antworten Sie auf unsere Fragen!"
vom 22. Juli 2009 [2] nach wie vor nicht beantwortet. Das ist Anlass für
diesen erneuten offenen Brief.

Herr Massarrat, wir danken Ihnen für die Erkenntnis, dass die 'Grüne
Bewegung' im Iran ein Produkt dessen ist, was Sie 'Wahlbetrug' nennen.
Damit machen Sie deutlich, dass das In-Umlauf-Bringen der Behauptung vom
'Wahlbetrug' in Zusammenhang mit den Präsidentschaftswahlen im Juni 2009
wesentlicher Auslöser für die anschließenden Unruhen im Iran war, dass
die 'Grüne Bewegung' - die Sie 'antitheokratische Demokratiebewegung'
nennen - ohne die Behauptung vom Wahlbetrug sich nicht hätte entwickeln
lassen und die 'Grüne Bewegung' somit in erheblichem Umfang Ergebnis
ines Betruges anderer Art ist, nämlich des Betruges mit der falschen
Behauptung vom Wahlbetrug. Aber, Herr Massarrat, wir müssen es
verurteilen, dass Sie ganz wesentlich dazu beitragen, die Lüge vom
Wahlbetrug weiterhin als Wahrheit zu verkaufen. [3]

Dabei könnten Sie wissen, dass Umfragen einen Monat vor der Wahl einen
deutlichen Wahlsieg Ahmadinedschads prognostiziert haben [4]. Sie
könnten wissen, daß es nach der Wahl Umfragen gegeben hat, die das
Wahlergebnis bestätigen und aus denen hervor geht, dass 83% der
befragten IranerInnen die Präsidentschaftswahl als frei und fair
bezeichnen [5]. Und Sie könnten wissen, dass mit den von Ihnen
verbreiteten 'tatsächlichen' Zahlen, von denen Sie behaupten, dass sie
aus 'anonymen Kreisen des Innenministeriums' stammen, etwas nicht
stimmen kann, weil es unterschiedliche, anonym verbreitete, angeblich
'tatsächliche' Ergebniszahlen gibt, die nicht gleichzeitig zutreffen
können (laut Martin Gehlen in der Frankfurter Rundschau hat
Ahmadinedschad 10,5 Millionen Stimmen erhalten, laut der von Ihnen
verbreiteten Angaben 5,6 Millionen [6] - statt der 24,5 Millionen
Stimmen gemäß des amtlichen Wahlergebnisses [7])

Herr Massarrat, wir müssen Sie fragen: was bringt Sie dazu, Ihre
unbelegten Behauptungen wieder und wieder in die Öffentlichkeit zu
bringen? Folgen Sie dem Prinzip der Mainstream-Propaganda, eine nicht
erwiesene Behauptung durch Wiederholung zur Wahrheit werden zu lassen?
Fühlen Sie sich der Suche nach Wahrheit verpflichtet, oder ist Ihre
Aufgabe das demagogische Verbreiten von Desinformation? Herr Massarrat,
Sie erkennen, dass die internationale Linke und die Friedensbewegung in
der Iran-Frage gespalten ist. Aber wir müssen feststellen, dass Sie ganz
wesentlich dazu beitragen, diese Spaltung herbeizuführen, und dabei den
Eindruck erwecken, als ginge es Ihnen um deren Einheit.

Herr Massarrat, Sie versuchen die wenigen Kräfte, denen es um Aufklärung
geht und die erkennen, dass die Behauptung vom Wahlbetrug der
eigentliche Betrug ist, als 'eindimensional antikapitalistische Linke'
zu diskreditieren und werfen ihr vor, ihre Bündnispolitik nach der
Devise 'Der Feind meines Feindes ist mein Freund' zu betreiben. Was
verleitet Sie zu der platitüdenhaft grassierenden Unterstellung, dass es
darum ginge, jemanden zum Freund zu erklären, weil er Feind eines
Feindes sei? Erkennen Sie nicht, dass das an der Sache vollkommen vorbei
geht? Erkennen Sie nicht, dass es der Aufklärung willen um eine
realistische Einschätzung der Dämonisierten und um Enttarnung derjenigen
geht, die zwecks Legitimierung von Kriegen die Feindbilder generieren?
Das Erkennen von Falschdarstellungen bedeutet doch nicht die Zustimmung
zu allen Facetten der Politik derjenigen, die zum Feindbild gemacht
werden sollen.

Herr Massarrat, Sie schreiben von Ahmadinedschads 'antiisraelischer und
antiamerikanischer Rhetorik' und von dessen Politik, "den Atomstreit mit
dem Westen eskalieren zu lassen". Dadurch sei "das Feindbild Iran
gestärkt und dem militär-industriellen Komplex neue Nahrung geliefert"
worden. Herr Massarrat, wir fragen Sie: warum erwähnen Sie die
Verfälschung und die Unterdrückung wesentlicher Äußerungen
Ahmadinedschads nicht? Und warum verwenden Sie den Begriff 'Atomstreit',
wo Sie doch wissen müssten, dass der Iran seine Atompolitik im Rahmen
der international gültigen Regeln betreibt, und somit die Verwendung des
Begriffs 'Atomstreit' Bestandteil einer Kampagne ist?

Lieber Herr Massarrat, es kann Ihnen doch nicht darum gehen, "als
Trittbrettfahrer mit der mächtigen westlichen Mainstream-Propaganda zu
reisen" (wie Knut Mellenthin es formuliert hat[8])? Es muß uns als
kritischen Zeitgenossen doch gemeinsam darum gehen, im Rahmen eines
unvoreingenommenen Erkenntnisprozesses unabhängig vom Mainstream zu
ergründen, was sich tatsächlich abspielt. Uns kann es doch nicht um
Desinformation und die Desorientierung der 'Linken' und der
Friedensbewegung gehen. Deshalb sollten wir eingestehen, wenn wir uns
bei der Bewertung von Sachverhalten nicht sicher sein können, anstatt
auf der Wiederholung von Behauptetem zu bestehen. Das gilt für Sie wie
für uns. Deshalb bitten wir Sie nochmals: belegen Sie Ihre Behauptung
vom Wahlbetrug oder revidieren Sie sie.


*Fußnoten:*

[1] Mohssen Massarrat in "Neues Deutschland" vom 18.12.2009 zur Frage
"Kann Iran ein Bündnispartner für linke Bewegungen sein?":
http://www.neues-deutschland.de/artikel/161372.auf-die-spitze-getrieben.html
zu der auch Knut Mellenthin in der gleichen Ausgabe der Zeitung Stellung
bezogen hat:
http://www.neues-deutschland.de/artikel/161373.das-recht-auf-seiner-seite.html

[2] Offener Brief an Mohssen Massarrat vom 22.7.2009 "Bitte antworten
Sie auf unsere Fragen!"
http://www.arbeiterfotografie.com/iran/index-iran-0043.html
[3] Mohssen Massarrat in "Neues Deutschland" vom 18.12.2009: "Die neue
Bewegung in Iran mit grüner Farbe ist eine antitheokratische
Demokratiebewegung. Sie entstand anlässlich des Wahlbetrugs bei den
letzten Präsidentschaftswahlen im Juni dieses Jahres."
http://www.neues-deutschland.de/artikel/161372.auf-die-spitze-getrieben.html

[4] Umfrage vom Washingtoner Meinungsforschungsinstitut 'Terror Free
Tomorrow - The Center for Public Opinion' vom Mai 2009: 50% der
befragten IranerInnen, die sich bereits entschieden haben, geben an,
Ahmadinedschad wählen zu wollen (27% waren noch unentschieden)
http://www.terrorfreetomorrow.org/upimagestft/TFT%20Iran%20Survey%20Report%20060
+9.pdf

[5] Studie des Washingtoner Meinungsforschungsinstituts
WorldPublicOpinion.org vom September 2009: 83% der befragten IranerInnen
bezeichnen die Präsidentschaftswahl von Juni 2009 als frei und fair, 55%
geben an, Ahmadinedschad gewählt zu haben (26% beantworten die Frage,
wen sie gewählt haben, nicht)
http://www.worldpublicopinion.org/pipa/pdf/sep09/IranUS_Sep09_rpt.pdf

[6] Artikel "Iran und die Wahlen - Ein kritischer Blick auf virulente,
anonyme 'Wahrheiten'" von Chavi Dehdarian (aktiv in der Friedensbewegung
Stuttgart) vom 18.7.2009 im Blog 'Nachgetragen' von Joachim Guilliard
http://jghd.twoday.net/stories/iran-wahlen-dehdarian/

[7] Amtliches Ergebnis der iranischen Präsidentschaftswahlen vom
12.6.2009 gemäß IRIB-Meldung vom 13.6.2009
Mahmud Ahmadi Nedschad: 24527516 Stimmen; 62,63 Prozent
Mohsen Rezaei: 678240 Stimmen; 1,73 Prozent
Mehdi Karrubi: 333635 Stimmen; 0, 85 Prozent
Mir Hossein Musavi: 13216411; 33,75 Prozent
Ungültige Stimmen: 409389 Stimmen; 1,04 Prozent
http://german.irib.ir/index.php?option=com_content&view=article&id=24738:
beispiellose-teilnahme-von-85-prozent-der-wahlberechtigten-an-den-wahlen&catid=9
+4:praesidentschaftswahlen

[8] Knut Mellenthin am 20.12.2009 in einem Rundschreiben über den
Artikel von Mohssen Massarrat in "Neues Deutschland" vom 18.12.2009 zur
Frage "Kann Iran ein Bündnispartner für linke Bewegungen sein?"


Homepage der Bundes-AG Globalisierung & Krieg:
www.attac-netzwerk.de/ag-globalisierung-und-krieg/
www.attac.de/globuk